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Philosophie in Preussen

I.
Der gelbe Gott und der weisse Gott

Vor einigen Jahren soll der Kaiser seinen Rekruten eine Rede gehalten haben, in der die letzten Gründe der Japanersiege sehr populär erläutert wurden. Ein amtlicher Text lag nicht vor. Es scheint aber, dass wirklich ungefähr gesagt worden ist: der gemeine Soldat solle nicht glauben, Buddha sei stärker als Christus.

Das musste einmal gesagt werden, falls angenommen wird, der gemeine Mann glaube ernstlich, was er in der Volksschule und in der Kirche von Pfarrern und Pastoren erfahren hat. Was den allergrössten Teil der ihm behördlich zugemessenen Welterkenntnis ausmacht. Wenn kein Haar vom Kopfe fallen kann, ohne dass der Wille Gottes besonders bemüht wird, dann wird der Ausgang einer Völkerschlacht erst recht von einem besonderen Willen Gottes abhängig sein. Nur schlechte Menschen und Atheisten lehren, dass jede Wirkung ihren zureichenden natürlichen Grund habe. Der gläubige Rekrut, wenn er ein denkender Mensch ist, muss sich fragen: warum die göttliche Vorsehung lieber den Heiden beigestanden habe als den Christen? Die Antwort des Alten Fritz, dass die göttliche Vorsehung immer auf Seite der besseren Waffen wäre, hätte kindliche Gemüter verwirrt. Könnten wir die zureichenden Gründe wissen, die den Willen Gottes zur Parteinahme für die Japaner bestimmten, dann wäre alles in schönster Ordnung. Da es aber selbst für die bestinformierten Menschen bislang keine Möglichkeit gibt, diese Gründe zu erforschen, so ist in der Tat die zurückhaltende, negative Antwort ganz am Platze: was immer da oben vorgehen mag, auf keinen Fall ist Buddha stärker als Christus.

Und nun hatte ein evangelisch-sozialer Kongress vor seinen Rekruten, also wieder recht populär, die gleiche Lehre gepredigt: die Religion der gelben Rasse sei gegenüber der Religion der weissen Rasse minderwertig, die Sittenlehre der buddhistischen Völker sei schlechter als die Sittenlehre der Christenheit. Ein Mann von der Bedeutung des Professors Harnack hatte sich sogar zu der kühnen Prophezeiung verstiegen – in jenen Tagen, unter dem frischen Eindrucke der japanischen Triumphe –, der westliche Glaube werde den Glauben des Ostens besiegen.

Da ist vielleicht die Erinnerung nicht unnütz, dass schon einmal ein preussischer König und preussische Theologen für den weissen Gott und gegen den gelben Gott den Kampf aufnahmen. Vor bald zweihundert Jahren. Nach dem Stande der allgemeinen Bildung – die indische Literatur war in Europa noch ganz unbekannt – handelte es sich damals nicht um Buddha, sondern um Konfutse. Einen unvereinbaren Gegensatz wird man hoffentlich nicht darin erblicken, dass Buddha und Konfutse bloss von der Masse göttlich verehrt wurden, nicht aber von ihren Theologen.

Die Sache selbst, die Austreibung des Aufklärungsphilosophen Christian Wolff aus Preussen, ist bekannt genug, ist in der politischen Geschichte wie in der Geschichte der Philosophie ausführlich behandelt worden. Nur dass ein klein wenig offiziöse Schönfärberei den König oder den Philosophen, oder beide zu günstig darstellte, dass das Bild der Zeit nicht grotesk genug herauskam, dass endlich der äussere Anlass, eben die Vergleichung der chinesischen und der christlichen Lehre, zu sehr in den Hintergrund trat.

Es war im Jahre 1721. Auf der preussischen Universität Halle zankten die Professoren. Sie zankten um ideale Ueberzeugungen, sie zankten um Ruhm und Kollegiengelder. Beide Auffassungen sind offenbar richtig, keine darf einseitig hervorgehoben werden. Gerade auf der Universität Halle waren die Pietisten zu Macht gelangt, und weil der Pietismus die Unionsbestrebungen des preussischen Hofes zu unterstützen schien, darum erbten die Pietisten, gegen den Geist und gegen das Gefühl dieser Richtung, den Einfluss und die Praktiken der orthodoxen Geistlichkeit. An derselben Universität aber lehrte Christian Wolff die Weltweisheit, allen Theologen zum Entsetzen. Wolff war kein bahnbrechendes Genie; seine Werke verbreiten heute ertötende Langeweile. Er war nicht so scharfsinnig wie sein Meister Leibniz, nicht so amüsant wie sein Vorgänger Thomasius. Er war ein Pedant der Systematik. Doch seine Pedanterie war für die Erziehung der deutschen Philosophen wertvoll, wie nachher Gottscheds Pedanterie für die Erziehung der deutschen Poeten. Wolff brachte die Aufklärung zu europäischem Ansehen, machte sie hoffähig. In Frankreich, Holland und England hatten überlegene Köpfe die Vernunft auf den Thron gesetzt. Gefährliche Umstürzler. Christian Wolff beugte sich vor den Fürsten, machte rasch im Vorübergehen hundert Bücklinge vor der göttlichen Vorsehung, zog der nackten Vernunft moderne Kleider an und setzte sie in eine Art von Reichskanzleramt ein. So in leidlichem Frieden mit Staat und Kirche bekämpfte er den Aberglauben, stellte Wissenschaft und Moral auf natürliche Gründe und liess Gott einen guten Mann sein. Er hält keinen Vergleich aus mit den erlauchten Geistern Hollands und Englands. Doch die ausserordentliche Verbreitung seiner Schriften und sein Ansehen machten den gebildeten deutschen Mittelstand erst fähig, schon im zweitnächsten Geschlechte Lessings Nathan und Kants Kritik aufzunehmen. Und unvergessen soll bleiben, dass Christian Wolff mehr als einer seiner Vorläufer dazu beitrug, die deutsche Sprache schmiegsam zu machen für die Behandlung philosophischer Fragen. Die Theologen hatten also zureichende Gründe, ihn zu hassen. Dazu kam, wie schon angedeutet, dass die Studenten dem guten Redner und Aufklärer zuliefen, dass Wolff die Kollegen durch Eitelkeit und wohl auch bei Besetzung von Lehrstühlen verletzte.

Als Wolff 1706 nach Halle gekommen war, las er zuerst nur über Mathematik; erst drei Jähre später begann er weitere Vorlesungen über Physik und »andere Teile der Philosophie«, hatte grossen Applaus und bald beschwerten sich die theologischen Professoren darüber, dass ihre Studenten dem jungen Dozenten zuliefen und einen »Ekel vor der Theologie« beigebracht erhielten. Später warf man den Schülern Wolffs vor, dass sie sogar von der Kanzel anstatt der Dogmen seine Philosophie vortrügen. Die Studenten »von Adel und Kondition« waren entschieden auf Seiten Wolffs und kränkten den orthodoxen Johann Joachim Lange, wo sie nur konnten. Trotz alledem muss man selbst bei dem durchaus minderwertigen Lange nicht bloss verletzte Eitelkeit und Futterneid als Motive bei seinem denunziatorischen Vorgehen gegen Wolff annehmen, das übrigens – genau genommen – dadurch entschuldbarer wird, dass Wolff selbst in akademischen Angelegenheiten die Regierung anrief; bei dem anderen Gegner von Wolff, dem edeln A. H. Francke, dem Pietisten, dem Lehrer des Grafen Zinzendorf, darf man an unlautere Motive überhaupt nicht denken. Darüber aber kann kein Zweifel sein, dass die Mehrzahl der Professoren dem jüngeren Kollegen Wolff seine Erfolge nicht gönnte.

Hass und Neid der Kollegen hätte sich wie sonst unschädlich in Büchern und Zeitschriftenpolemik entladen, hätte Wolff nicht das Verbrechen begangen, den Heiden Konfutse für einen grossen Philosophen zu erklären, die chinesische Moral mit der christlichen zu vergleichen. Das katholische Mittelalter hatte den argen Heiden Aristoteles zum obersten Lehrer der Christenheit gemacht; dagegen hatte sich die protestantische Theologie seit Luther oft empört. Nun sollte man gar die Chinesen und ihren Konfutse gelten lassen! Bei Uebergabe des Prorektorats am 12. Juli 1721 wurde das Verbrechen begangen in Wolffs »Rede von der Sittenlehre der Chinesen«: die chinesische Moral wäre ebensogut wie die Sittenlehre Wolffs, also ebensogut wie die beste Sittenlehre aller Zeiten; da nun Konfutse zu dieser ausgezeichneten Moral ohne Hilfe einer geoffenbarten oder einer natürlichen Religion gekommen wäre, so läge es auf der Hand, dass die reine Vernunft ohne göttlichen Beistand, durch simple Betrachtung der menschlichen Natur eine vollkommene Moral erlangen könnte. Der verwegenste Satz der Rede sagt, dass die Chinesen den Konfutse so hoch halten als die Juden den Moses, die Türken den Mohammed, »ja wir selbsten den Heiland achten, insofern wir ihn als einen Propheten und Lehrer, der uns von Gott gegeben worden ist, verehren«. Die Fassung ist vorsichtig genug. In gelehrten Anmerkungen, die Wolff fünf Jahre später herausgab, milderte er sein Programm noch mehr; man könne die Beziehung auf Christen und Juden fortlassen und an die Türken allein denken. Auch Konfutse sei durch eine besondere Vorsehung Gottes den Sinesern geschenkt worden. Doch in der zornigen Vorrede steht das böse, für die damalige Zeit auch sprachlich merkwürdige Wort, er habe die Abhandlung nicht für die Bonzen geschrieben.

Dadurch hatte Wolff, der Aufklärer, es mit allen Professoren verschüttet, mit Pietisten wie mit Orthodoxen. Nach deren Meinung war die verderbte Vernunft ohne Offenbarung einer Erleuchtung ebensowenig fähig wie der Mond ohne das Licht der Sonne. Die Herren ahnten nicht, dass der »Professor des Menschengeschlechts« – wie Wolff sich später nannte – all mit seiner vernünftigen Pedanterie, mit seinem Protest gegen Locke, Newton und Voltaire, mit seiner obligaten Moraltrompete die letzte gelehrte Stütze des europäischen Deismus werden und bleiben sollte. Die Herren zitterten für ihr Ansehen und für den Besuch ihrer Vorlesungen. Hatten doch die Studenten dem Gegner Wolffs, dem unglücklichen Lange (er war der Vater des von Lessing gebrandmarkten Lange), eine solenne Katzenmusik gebracht und dabei ein Lied gesungen mit dem Refrain: »Lacht ihn aus, den alten Arspauker.« Das konnte nicht geduldet werden. Wolff selbst hatte sich im Verlaufe der Streitigkeiten, gegen den Geist akademischer Freiheit, an die Regierung gewandt. Jetzt ging Lange direkt an den König, wohlgemerkt an den Vater Friedrichs des Grossen. Dessen Ratgeber in wissenschaftlichen Dingen waren Soldaten und der »Hofnarr«. Eigentlich kümmerte sich Friedrich Wilhelm den Teufel um Philosophie und um andere gelehrte Sachen. Er lachte über die Frage, ob der menschliche Wille frei oder unfrei sei. Wenn die Universität nur kein Geld kostete, wenn sie nur brauchbare Beamte für Leib, Seele und Justiz lieferte, dann mochte so ein gelehrter Sklave immerhin die Unfreiheit des menschlichen Willens lehren. Da aber fasste der wohlinstruierte Hofnarr Gundling (der übrigens ein ganz gelehrter Historiker war, zu der Rolle eines Spassmachers erst durch den despotischen König herabgedrückt und vielleicht nicht schlimmer als mancher ernsthafte Hofhistoriograph) den König bei seiner schwächsten Seite. Wolffs Philosophie vertrüge sich nicht mit der militärischen Disziplin. »Wenn einige grosse Grenadiere in Potsdam durchgingen, so wollte das Fatum haben, dass sie durchgehen müssten, und könnten sie nicht widerstehen, und der König täte unrecht, wenn er sie bestrafen wollte.« Jetzt erst brach das Donnerwetter los. Die langen Kerls von Potsdam mussten vor Wolffs Philosophie geschützt werden. Das war »gegen die im göttlichen Worte geoffenbarte Religion«. Mit dieser Begründung wurde einem der besten Köpfe des damaligen Deutschland »angedeutet«, dass er binnen achtundvierzig Stunden nach Empfang dieser Order die Stadt Halle und »alle unsere übrigen königlichen Lande bei Strafe des Stranges räumen solle«.

Meine Darstellung dieser Streitigkeiten macht nicht den Anspruch, auch nur in einem einzigen Punkte etwa aus unbekannten Quellen neues Material herbeigeschafft zu haben, trotzdem ich mich rühmen könnte, die altfränkischen Streitschriften jener Jahre, die lateinischen wie die deutschen, einigermassen zu kennen. Meine Darstellung will nur den einen Vorzug haben, dass sie durchaus den heuchlerischen offiziösen Ton vermeidet, in welchem alte preussische Geschichten leider dem weiteren Publikum fast immer erzählt werden. Bei den dummen Streichen Friedrich Wilhelms I. liegt die Sache besonders schlimm, weil von diesem ganz vortrefflichen Regenten eigentlich nur eine Karikatur durch etwa hundert Jahre im Umlaufe war und die Geschichtschreiber, nicht nur die offiziösen, Arbeit genug hatten, ein richtiges Bild des tüchtigen Mannes zu entwerfen; das Licht, das von Friedrich dem Grossen ausging, hatte die Gestalt seines Vaters in den Schatten gestellt, nicht durch Friedrichs Schuld. Umgekehrt war Wolff von seinen Zeitgenossen dermassen überschätzt worden, dass ein Rückschlag nicht ausbleiben konnte und dass von Hegel bis zur Gegenwart er gewöhnlich nur halb aus Erbarmen gelobt wurde.

Er hat sich an der Polemik sehr lebhaft beteiligt, bald mit wirklicher, bald mit scheinbarer Milde. Und sehr weitläufig; denn er sagt, nach einem witzigen Worte Schopenhauers, alles und noch mehr. Es war kein reines Vergnügen, die etwas pastoralen Repliken Wolffs zu lesen; und auch seine eigene Lebensbeschreibung, die Heinrich Wuttke 1841 herausgegeben hat, ist keine durchaus erfreuliche Quelle. Das muss hervorgehoben werden, weil die Entstehung dieser Selbstbiographie den Charakter des Philosophen fast richtiger darstellt als die Schrift selbst.

Im Jahre 1739 hatte sich ein Anhänger Wolffs an ihn gewandt mit der Bitte, aus seinem Archiv Memorabilien herauszugeben, die eben dieser Anhänger und Besucher, F. C. Baumeister, bei einer zweiten Auflage seiner Schrift über Wolff benützen könnte. Mit gut gespielter Bescheidenheit zierte sich der Philosoph ein wenig, verfasste dann vier Jahre später das Opus, das doch eigentlich keine Selbstbiographie geworden ist, weil Wolff mit nicht geringer Schlauheit die Spuren verwischt sehen wollte, die ihn selbst als den Verfasser hätten erraten lassen können. Er sandte das Manuskript an einen Mittelsmann und sprach den Wunsch aus, man möchte das Ansehen vermeiden, als wenn er selbst den Stoff gegeben hätte; auch wollte er die Arbeit Baumeisters nicht zur Durchsicht erhalten. Besonderen Wert legte er darauf (wie sonst auch häufig), dass in der Darstellung Baumeisters er nicht bloss als Leibnizianer herauskäme; er wünschte als selbständiger Philosoph eingeschätzt zu werden. Die Memorabilien sind übrigens liederlicher geschrieben als die von Wolff selbst herausgegebenen deutschen Schriften.

Die Eitelkeit des Professors generis humani äussert sich naiv und beinahe menschlich hübsch. Mehr als über seine Philosophie erfahren wir über Bilder, Medaillen, Carmina und Studentendemonstrationen, über andere Ehrungen durch Fürsten und berühmte Gelehrte; und mehr als einmal folgen diplomatische Andeutungen über die dienlichste Art der Benützung: wie man dem jungen Könige Friedrich schmeicheln könnte, wie man Anlass zu neuer Polemik vermeiden müsste. Einmal erzählt Wolff, mit wie auszeichnenden Worten ihm der berühmte Reaumur geantwortet habe und fügt hinzu: »Ob nun gleich dieses anzuführen aus vielen Ursachen dienlich sein möchte, so müsste es doch auf eine gute Manier geschehen, als ob es ein Passagier mündlich von einem der grössten Gelehrten in Paris gehöret.«

Unter solchen Umständen wird man in Wolffs eigener Lebensbeschreibung nicht mehr suchen dürfen, als was der mit allen Ehren zurückberufene Philosoph über seine Massregelung jetzt noch mitgeteilt wissen wollte; er war mit Preussen versöhnt, er war müde und (wie Baumeister nach einem erneuerten Besuche 1742 erschreckt schreibt) ein Phlegmatikus; »Ich habe kaum einen solchen zeitlebens gesehen; kann nicht leugnen, dass mir seine Person und übrige Konduite sehr schlecht gefallen.« Da ist es nun um so bemerkenswerter, dass Wolff, der allerdings auf den verstorbenen König keine Rücksicht mehr zu nehmen hatte, den Anlass zur Ungnade Friedrich Wilhelms noch einmal bestätigt: den Grimm des Königs darüber, dass die von Wolff gelehrte »Unfreiheit des Willens« die Desertion entschuldigen könne. Wolff ist aber in diesen Memorabilien so weich geworden, dass er den König gegen den Vorwurf in Schutz nimmt, die Order habe dem Philosophen befohlen, binnen vierundzwanzig Stunden das Land zu räumen; nein, eine Frist von zweimal vierundzwanzig Stunden sei ihm gewährt worden. Und wieder protestiert Wolff dagegen, dass man ihn wegen seiner Lehre von der Willensunfreiheit des Atheismus beschuldigen dürfe.

Der Ausgang der Geschichte ist bekannt. Wolff fand anderswo sofort ein behagliches Unterkommen. Es ist nicht unmöglich, dass er dem Streit nicht ausgewichen war, weil er die Berufung schon in der Tasche hatte; hat doch sogar ein so tapferer, ganzer Mann wie Fichte später, in dem berühmten Atheismusstreit von 1798, den Konflikt mit der Weimarer Regierung unheilbar verschärft, als er einer erfreulichen Berufung sicher zu sein glaubte.

Uebrigens war Friedrich Wilhelm wenigstens nicht eigensinnig. Nach einigen Jahren sah er ein, dass er seine beste Universität durch Verjagung des beliebtesten Dozenten geschädigt hatte. Wolff sollte wiederkommen. Nur Geld sollte es nicht kosten. Nach Frankfurt a. O., wo die Universität reich genug war. »Da kann er kriegen, was er will.« Nur nicht nach Halle. »Da würden sich die Kerls gleich wieder bei die Köpfe kriegen.« Wolff wartete seine Zeit ab, behandelte den König sehr diplomatisch, ebenso diplomatisch den Kronprinzen. Dann brach die neue Zeit an. Es war eine der ersten Regierungshandlungen Friedrichs des Grossen, dass er den Aufklärer Wolff, der um ein Haar der kleine Märtyrer einer grossen Sache geworden wäre, wie einen Sieger nach Halle zurückkehren liess. Nach Berlin zu kommen, hatte Wolff klüglich abgelehnt. Er hätte sich unter den Franzosen der Berliner Akademie nicht wohlgefühlt. In Halle kriegten sich die Kerls nicht wieder bei »die Köpfe«. Die frommen Gegner kuschten, und Wolff war alt geworden.

Es geht wirklich nur langsam vorwärts. An dem Gesetze, dass dem gelben Gotte nicht die gleiche Achtung bewiesen werden dürfe wie dem weissen Gotte, ist bis zur Stunde nichts geändert worden. Nur der Strafvollzug ist milder. Wer um 1600 gegen das Gesetz sündigte, wurde noch lebendig verbrannt. Um 1700 wurde er bei Androhung des Stranges aus Amt und Brot gejagt. Um 1800 musste sich ein Goethe darein fügen, dass der Atheist Fichte wie ein ungehorsamer Dienstbote weggeschickt wurde, vielleicht ins Elend. Und noch um 1900 versagen die besten Kenner und Kritiker des westlichen Dogmas der östlichen Lehre die schuldige Achtung. Als ob der gelbe Gott nicht auch ein Mensch wäre, nicht auch ein herrlicher Mensch gewesen wäre. Man muss wohl der Beamtenschaft der Regierung wie der Gelehrsamkeit gleich fernstehen, um für sich das grosse befreiende Gelächter anschlagen zu dürfen über diesen Götterstreit.

II.
Der Philosoph von Sanssouci

Der König, der ein Stolz und darum eine Verlegenheit für alle späteren Fürsten geworden ist, heisst beim Volke und bei den Dichtern vertraulich »der Alte Fritz«; die Geschichte nennt ihn Friedrich den Grossen und hat damit einen Namen bestätigt, den zum erstenmal, etwas vorschnell, schon 1745 bei der Heimkehr aus dem zweiten Schlesischen Kriege die Schüler des Köllnischen Gymnasiums zu Berlin ihm zugerufen hatten, sicherlich von einem Schulmeister belehrt: »Vivat Fridericus Rex, Magnus, Felix, Pater Patriae«. Begeisterte Verehrer haben ihn noch anders genannt: Friedrich den Einzigen, Friedrich den Ewigen. Und Voltaire, der sich gern als Agent auch in politische Geschäfte eingemengt hätte, scheint bereits 1742 Lust gehabt zu haben, seinen königlichen Freund zum Kaiser »Friedrich der Grosse« auszurufen. Der König selbst wagte es, sich einen anderen Titel beizulegen, den des »Philosophen von Sanssouci«; schon der sechzehnjährige Jüngling hatte einen Brief an seine liebe Schwester, wohl scherzhaft, »Friedrich der Philosoph« unterschrieben, und im Jahre 1750 gab er seine Gedichte unter dem Namen »Philosophe de Sanssouci« heraus. Viele Briefe an Voltaire sind ebenso unterzeichnet.

Es ist nun vielleicht der Untersuchung wert, in welchem Sinne Friedrich den Ehrennamen eines Philosophen verdiene. Ob ihm ein Kapitel in der Geschichte der Philosophie gebühre oder nicht. Eduard Zeller, der klassische, d. h. philologisch vorzügliche Geschichtschreiber der griechischen Philosophie, hat in seinem Buche über die deutsche Philosophie den König nur ganz flüchtig als einen Beschützer Wolffs erwähnt, hat dann aber zehn Jahre später, zum hundertsten Todestage Friedrichs, ein Buch herausgegeben: »Friedrich der Grosse als Philosoph«. Das Buch ist gut und bringt in seinen Anmerkungen eine reiche Fülle von Aeusserungen Friedrichs; aber völlig anvertrauen können wir uns dieser Schrift nicht, weil auch für Zeller der grosse Skeptiker auf dem Throne eine gewisse Verlegenheit ist, weil auch Zeller in einem entscheidenden Punkte offiziös zu werden versucht.

Gewiss ist, dass Friedrich sein Leben nicht der Philosophie gewidmet hat. Er trieb in erster Linie das harte Metier eines Königs, ce chien de metier; mit unvergleichlicher Pflichttreue, mit unermüdlichem Fleiss arbeitete er daran, seinen Staat einem unmöglichen Ideale anzunähern: einem Rechtsstaat mit dem absoluten Monarchen an der Spitze. Was vom Arbeitstage des Königs übrig blieb, darein hatten sich Poesie und Musik, Philosophie und mancherlei Zerstreuungen zu teilen. Die bahnbrechenden Philosophen haben anders gelebt.

Gewiss ist auch, dass sein scharfer Geist gerade für die tiefsten Probleme der Philosophie kein Interesse fasste und dass sein Schulsack für ein Studium der grössten Denker der Vorzeit zu gering war. Friedrich hatte weder die griechische noch die lateinische Sprache lernen dürfen, dazu war es ihm unerträglich oder unmöglich, deutsche Philosophen (oder doch die deutschen Philosophen, von deren Existenz er bis zu seinem Tode etwas erfuhr), in deutscher Sprache zu lesen; so war er auf französische Schriftsteller und auf französische Uebersetzungen der Meisterwerke angewiesen; selbst seinen geliebten Wolff (den er freilich später viel weniger hochschätzte) liess er sich erst ins Französische übersetzen, bevor er ihn zu lesen wagte. So lernte er nicht nur die römischen Skribenten, denen er bis in sein Alter treu blieb, sondern auch weiterhin Locke und die Religionsgespräche Humes einzig auf dem Umwege über die französische Gedankenwelt kennen; da war es natürlich, dass ihn die französischen Originalschriftsteller schon durch die Form ihrer Schriften mehr anzogen, dass er sich allmählich von dem unvergleichlichen Voltaire und vielfach auch von den jüngeren französischen Materialisten leiten liess. Es traf sich glücklich, dass schon vorher ein stärkerer Franzose einen entscheidenden Eindruck auf Friedrich gemacht hatte: der ganz undogmatische Pierre Bayle. Bayle der Skeptiker war der wichtigste Erzieher Friedrichs. Damit mag es zusammenhängen, dass Friedrich sich um Naturwissenschaften so gut wie niemals bekümmerte und dass er für die Mathematik eine oft witzige, mitunter auch unfreiwillig komische Verachtung zur Schau trug. So war er durch die Grenzen seiner positiven Kenntnisse und durch seine Gleichgültigkeit gegen alle Fragen der Erkenntnistheorie dazu verurteilt, sich als Philosoph auf einige wenige Probleme zu beschränken; ein neues philosophisches System hat Friedrich nicht aufgestellt und diese Bemerkung soll wahrlich keinen Tadel aussprechen. Es waren nicht die schlechtesten Köpfe unter den grossen Philosophen, die sich zur Skepsis bekannten, die den letzten Fragen gegenüber ihr Nichtwissen eingestanden.

Ein Skeptiker war Friedrich im Grunde auch als Mensch und als König. Das äussert sich nirgends stärker als in seiner mit den Jahren immer wachsenden Neigung zu einer grimmigen Menschenverachtung; er hatte als Jüngling mit aller Welt für die Tugend im Menschen geschwärmt; je älter er wurde, desto finsterer wurde sein Pessimismus. Und dieser Zug trennt ihn von den philosophischen Wortführern seiner Zeit. Man hat den König, und in mancher Beziehung mit Recht, den Fürsten der Aufklärung genannt. Aber die Aufklärungszeit glaubte mit Leibniz an die beste aller Welten, glaubte an den Sieg des guten Prinzips, glaubte an eine göttliche Natur im Menschen; auch Friedrich hatte beinahe bis zu seiner Thronbesteigung an alle diese schönen Dinge geglaubt, hatte als Kronprinz seinen Anti-Machiavell geschrieben, der in der Tat überaus moralisch ist; und im Grunde unehrlich. Dann jedoch lehrte ihn sein Königsmetier, dass die Menschen böse sind und nur mit harter Hand zur Gesetzlichkeit oder wenigstens zur Heuchelei der Tugend geführt werden können; so wurde Friedrich selbst ein machiavellistischer Fürst, nicht im bösen Sinne des Wortes. Seine Menschenverachtung braucht fast nicht erst durch Zeugnisse belegt zu werden. Schon 1741 schreibt ihm Voltaire: »Ich fürchte sehr, Sie werden dazu gelangen, die Menschen zu sehr zu verachten.« Voltaire hatte recht gesehen, hat später seinem königlichen Freunde übrigens Grund gegeben, auch hervorragende Geister zu verachten. Während des Siebenjährigen Krieges schreibt Friedrich einmal: »Trotz aller Philosophenschulen wird der Mensch die schlimmste Bestie der Welt bleiben.« Und 1777: »Es gibt einen Keim der Wildheit im Menschenherzen, der immer wieder da ist, wenn man ihn zerstört zu haben glaubt. Die Leute, welche durch Wissenschaft und Kunst vom gröbsten Schmutze gesäubert worden sind, sind wie die Bären, denen ihre Führer beigebracht haben, auf ihren Hinterfüssen zu tanzen; die Unwissenden sind wie Bären, die nicht tanzen.« Kant hat uns das Wort überliefert, das Friedrich zu einem der deutschen Aufklärer gesprochen hatte: »Sie kennen die verwünschte Rasse nicht, zu der wir gehören.« Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Wandlung, die sich vom Glauben an das gute Prinzip zum Pessimismus vollzieht, und der Wandlung, die Friedrich aus einem Schüler des Wolffschen Dogmatismus zu einem radikalen Skeptiker macht. Zu einem Skeptiker gegenüber den Begriffen und Idealen der Aufklärungszeit. Er hat sich das Wort einer geistreichen Französin zu eigen gemacht: denken lernen heisst zweifeln lernen; er zitiert gelegentlich schon Montaignes skeptischen Wahlspruch, er liebt das skeptische Gelächter Swifts. Wohlgemerkt, nicht erst der alte, müde König beginnt an dem Dasein einer absoluten Wahrheit zu zweifeln; bereits als Kronprinz (1738) schreibt er an Voltaire: »Hat man wissenschaftlich gearbeitet und den Sinn der Menschen beobachtet, so wird man natürlich dem Skeptizismus zuneigen.« Und bald darauf wagte er die eigentlich erkenntnistheoretische Frage, ob der Unsicherheiten in der Physik nicht ebenso viele seien wie in der Metaphysik.

Nur darf man Friedrich um seiner Wahrheitsverzweiflung willen nicht den – ich möchte sagen – dogmatischen Skeptikern zurechnen, den Bekennern eines »totalen Skeptizismus«, wie dieser als eine Schule der griechischen Philosophie berühmt geworden ist. Das sophistische Hauptbuch jener Schule, der Sextus Empiricus, stand zwar in der Bibliothek des jungen Prinzen, die sein Vater dann 1730, nach Friedrichs Fluchtversuch, wegnehmen und verkaufen liess. Aber Friedrich hat dieses Buch wahrscheinlich niemals gelesen. Seine Skepsis stammte nicht aus einer alten oder einer neuen Logik, sondern aus seinem Temperament. Und weil sich diese Skepsis begreiflicherweise zunächst gegen das wandte, was die eigene Zeit als höchste Weisheit schätzte, darum überwand Friedrich die flache Aufklärung, deren Förderer er zu sein schien. Das wird am klarsten aus seiner Stellung zu den drei Problemen der Aufklärungsphilosophie: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Um des besseren Verständnisses willen ist es gut, in der Darstellung die Ordnung dieser drei langlebigen Fragen umzukehren.

An die Unsterblichkeit der Seele hat Friedrich eigentlich niemals geglaubt; kaum dass er vorübergehend sich von Wolff den Dualismus von Leib und Seele einreden liess; doch schon 1752 spottet er über diesen Dualismus: »Die Grossen sagen Wir, wenn sie von sich reden, sie werden aber dadurch nicht vervielfältigt.« Mit den Jahren nahm Friedrich die Gesinnungen der französischen Materialisten an, wenigstens für die Psychologie; häufig kehrt in seinen Briefen der Satz wieder, dass der Mensch mit dem Tode aufhöre (er ahnte wohl nicht, dass noch hundert Jahre später eine sogenannte freireligiöse Gemeinde für die Friedhofaufschrift »Es gibt kein Wiedersehn« von preussischen Behörden würde schikaniert werden); der Selbstmord oder Freitod war ihm bekanntlich kein fremder Gedanke; in seinem Testament erklärt er feierlich, er gebe willig und ohne Klage seinen Leib den Elementen zurück, aus denen er gebildet sei. (Merkwürdig ähnlich lässt Schiller, in seiner »Jungfrau«, den sterbenden Atheisten Talbot sich ausdrücken.) Die Aufklärer aber hatten niemals aufgehört, an dem gefährdeten Seelenbegriffe herumzuflicken.

Nicht so einfach ist die Stellung Friedrichs zu der Frage nach der menschlichen Willensfreiheit, die doch von den Aufklärern immer wieder mit moralischen Phrasen bewiesen wurde. Friedrich leugnete die Willensfreiheit fast immer, aber er leugnete sie als Jüngling, weil sie sich mit der Vorherbestimmung der göttlichen Weltordnung nicht vertrug, er leugnete sie als Mann, weil sie sich mit der gesetzlichen Ordnung der Natur nicht vertrug. Glänzend und den Ausführungen Voltaires weit überlegen sind bei Gelegenheit solcher Auseinandersetzungen die Gedanken Friedrichs; er durchschaut die Notwendigkeit alles Geschehens und erkennt deutlich und bescheidentlich, welche Rolle »die verdammte Majestät Zufall« in der elenden Welt spiele. Er erkennt beinahe die Relativität des Zufallsbegriffs, und nur ein Rest von Wortaberglauben hindert ihn (1771), den Begriff der Freiheit einfach über Bord zu werfen. Nicht ohne einige Heiterkeit wird man erfahren, dass sein Königsmetier ihn bezüglich der Willensfreiheit am Ende zwar nicht den Anschauungen, aber doch der Praxis seines Vaters näherte. Der Vater hatte einst den Philosophen Wolff bei Androhung der Todesstrafe aus dem Lande gewiesen, und den letzten Anlass zu dieser dummen Tyrannei (die Friedrich Wilhelm selbst noch wieder gut zu machen suchte) soll ja der Verdacht gegeben haben, Wolffs Lehre von der Möglichkeit einer Unfreiheit des menschlichen Willens könnte das Strafrecht untergraben, könnte zum Beispiel die Desertion straflos erscheinen lassen. Als Friedrich 1758 gegen einen Dieb unter seinen Adjutanten aufgebracht war, hielt man ihm entgegen, dass er ja selbst die Unfreiheit des Willens behauptete, also nicht strafen dürfte; Friedrich gab das Strafrecht nicht preis und erklärte lieber die Frage der Willensfreiheit für unentschieden.

Wie Friedrich endlich über das Dasein Gottes gedacht hat, das wäre sehr leicht zu erfahren, wenn man voraussetzungslos seine Schriften und Briefe lesen wollte. Ueber alle positiven Religionen stimmte er mit den Aufklärern überein; sie schienen der ganzen Zeit Werke von Betrügern oder von betrogenen Betrügern. Es ist bekannt, dass Friedrich den Kriegsruf Voltaires »Ecrasez l'infâme« gern wiederholte. Zeller hat den unglücklichen Versuch gemacht, den Protestantismus des Königs ein wenig zu retten durch die Behauptung, Friedrich habe dabei nur die katholische Kirche im Auge gehabt. Das ist falsch; man dürfte höchstens sagen, dass für Voltaire und für Friedrich bei ihren Blasphemien und wohl auch Gassenbübereien die Handgreiflichkeiten des Katholizismus bequemer waren als die Abstraktionen der reformierten Kirche. Es wäre eine freche Lüge, wollte man ihn darum zu einem Bekenner des Protestantismus machen. In der Verwerfung aller positiven Religionen war Friedrich ebenso entschieden wie der Lessing des Nathan; nur dass der König, viel boshafter und radikaler in seinen Privatäusserungen, als König vorsichtig wurde in Worten und Handlungen. Theoretisch unduldsam gegen jeden Aberglauben war er praktisch duldsam gegen jeden Glauben.

Das Dasein Gottes habe Friedrich nie bezweifelt, sagt Zeller wiederholt; nur dass Friedrich es trotz aller Vorsicht klar ausspricht, dass für ihn auch der Gott der Vernunftreligion, dass für ihn irgendein persönlicher Gott, der sich um die Schicksale der Menschen kümmere, der eine Vorsehung ausübe, nicht vorhanden sei. Vielleicht darf man sich gegen Zeller auch auf die öffentliche Meinung der Zeit berufen. Die Freunde des Kronprinzen Friedrich waren mit Papa Friedrich Wilhelm der gleichen Meinung, dass mit Friedrich der Atheismus auf den Thron gesetzt werden würde; und als Friedrich der Grosse sich bemühte, den berühmten Haller nach Berlin zu ziehen (nach 1755), lehnte dieser ab, und zwar aus Angst vor des Königs Atheismus. Ein Mann, der niemals am Dasein Gottes gezweifelt hat, hätte wohl seinem Sekretär auch im Uebermut nicht die Antwort gegeben (1771): »Lieber Gott, wenn es einen gibt, habe Erbarmen mit meiner armen Seele, wenn ich eine habe.«

Die Wirkung der Schriften des Philosophen von Sanssouci ist gewiss geringer gewesen als die Wirkung der Tatsache, dass ein solcher König fast ein halbes Jahrhundert lang die Herrschaft ausübte, nach seiner Ueberzeugung ausübte. Er gab seinem Lande Gedankenfreiheit und dem Ausland ein Vorbild. Die Nachwelt darf sich auf ihn berufen, und so ist er seinen Amtsgenossen ein Stolz und eine Verlegenheit geworden. Goethe hat es zuerst dankbar ausgesprochen, was Friedrich für die deutsche Geistesbewegung bedeutete. Friedrich hat von Lessing wahrscheinlich nicht mehr erfahren als einen unbesonnenen Jugendstreich des Berliner Journalisten, hat von Kant kaum mehr als den Namen gekannt; aber Lessing und Kant hätten sich ohne Friedrich, hätten sich in einem anders regierten Staate nicht zu so freien Individualitäten entwickeln können, hätten nicht – darin Friedrichs Mitarbeiter – die geistlose Aufklärung so siegreich überwunden, jeder in seiner Weise.

Und dennoch war die Wirkung des philosophischen Königs nur gering, und die Verbitterung und Menschenverachtung des Greises wurde durch seine Erfahrungen begründet. »Sie glauben nicht, meine Herren,« rief er einmal seinen Beamten zu, »was mir alles daran gelegen ist, die Leute klug und glücklich zu machen.« Die Leute hatten über Klugheit und Glück vielfach andere Ansichten als der König. Und sie haben seinem Nachfolger zugejubelt. Sie haben noch jedem Neuen zugejubelt, auch jedem neuen Könige.

III.
Unter Wilhelm II.

Die Feinde der göttlichen Weltordnung

Die Rede des deutschen Kaisers, in welcher er zunächst das Volk und dann die Garden gegen alle Feinde der göttlichen Weltordnung schwungvoll zum Kampfe rief, wurde vor bald zwanzig Jahren von den Zeitungen aller Parteien gedreht und gedeutelt. Und man weiss nicht, war es Schlauheit oder Heuchelei zu nennen, dass die Parteien alle nur über die möglichen praktischen Folgen der Kaiserrede orakelten, ihren Wortlaut aber, ihren unmittelbaren Gedanken gar nicht zu beachten schienen. Wohl entspricht es dem groben Materialismus des politischen Parteilebens, unter den »Feinden der göttlichen Weltordnung« einfach die Sozialdemokraten zu verstehen und dem Aufruf mit Zustimmung oder Warnung zu antworten; wer aber die geistige Not des Volkes in ihrer unsichtbaren Wirkung auf die grossen Gegensätze der Zeit kennen gelernt hat, der wird diesen Materialismus der Parteien als eine Frivolität erkennen und einer Betrachtung über das eigentliche Kaiserwort nicht aus dem Wege gehen. Und weil die Schlauheit oder Heuchelei bei ähnlichen Gelegenheiten immer wiederkehrt, darum möchte ich meinen Lesern noch einmal vorlegen, was ich damals zu schreiben mich gedrängt fühlte.

Die Zeitungen aller Parteien müssten auf einen Leser aus Japan oder aus dem Monde den Eindruck machen, als wäre der Glaube, als wäre die Gewissheit einer wohlbekannten göttlichen Weltordnung bei den führenden Männern des deutschen Volkes überall vorhanden. Auf der äussersten Rechten, missbraucht man den Namen Gottes alltäglich; Herr Stöcker darf erzählen, darf ohne ungeheure Heiterkeit erzählen, er habe mit seinem Freunde Hammerstein als »Seelsorger« gesprochen, da er sich mit ihm über Unterschlagungen und Wechselfälschungen auseinandersetzte. Auf der äussersten Linken scheuen die Sozialdemokraten trotz Pfaffenhass vor der Religionsfrage zurück, aus Rücksicht auf ihre Frauen und auf die Bauern. Noch deutlicher aber sieht man die politische Heuchelei bei den Mittelparteien, deren beste Köpfe durchaus in der Kultur ihrer Zeit stehen, über Gott und die Welt ungefähr ebenso denken – nur etwas dümmer oder etwas unklarer – wie Goethe und Kant, wie Strauss und Renan, sich von der Kirche fernhalten, aber offiziell immer wieder als Freunde der »göttlichen Weltordnung« gelten wollen.

Bevor also gefragt wird, welche Personen oder welche Partei das Kaiserwort treffen wollte, muss doch wohl sein Sinn untersucht werden. Und da ist es klar, dass es nicht buchstäblich zu nehmen ist. Wenn es eine göttliche Weltordnung gibt, wenn ein allmächtiger und allweiser persönlicher Gott jede grösste und kleinste irdische Veränderung nach seinem Willen und zu seinen Zielen lenkt, dann kann diese Allmacht natürlich keinen Feind haben, es wäre denn der Teufel selbst, und den kann ein so moderner Geist wie Kaiser Wilhelm unmöglich gemeint haben. Auch braucht man nur die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt zu lenken, um der allgemeinen Zustimmung gewiss zu sein: gemeint sind die Zweifler, die Leugner einer göttlichen Weltordnung, die dann freilich manche Folgerung aus ihrer Ketzerei ziehen mögen. Da aber der alte Glaube in bestimmten Dogmen festgelegt ist, da nur die Dogmengläubigen zuverlässige »Freunde der göttlichen Weltordnung« sind, dürfte die ungeheure Mehrzahl der gebildeten Deutschen, als vom Dogma abgefallen, Bekenner eines neuen Glaubens sein und damit Feinde einer göttlichen Weltordnung. Es ist ein öffentliches Geheimnis, dass der gebildete deutsche Mann, der etwa nur einen Nationalliberalen in den Reichstag wählt, sich innerlich längst nicht mehr zum Katechismus bekennt, dass er entweder gottlos dahinlebt oder sich ausserhalb seiner Kirche eine Privatreligion zurechtgedacht hat. Diese Tatsache erst beweisen wollen, hiesse offene Türen einstossen. Der Unterschied gegen früher ist nur der, dass vor hundert Jahren ebensoviele Tausende mit Goethe und Kant dachten, wie vor fünfzig Jahren Zehntausende mit Feuerbach und Strauss, wie heute Hunderttausende mit – ja es fällt schwer, für die Gegenwart auch nur hervorragende Namen zu nennen, weil doch heute der Glaube an die göttliche Weltordnung aus Philosophie, Wissenschaft und Poesie so gut wie verschwunden ist. Der Atheismus ist bei den führenden Denkern keine Ueberraschung mehr, keine Tat; er ist der selbstverständliche neue Glaube, der beinahe schon aufhört, etwas Negatives zu sein. Soweit unsere Literatur modern ist, kommt sie von dem Atheisten Schopenhauer her oder ist doch durch ihn und durch den Antichristen Nietzsche hindurchgegangen; und auch ein so abgeklärter Poet wie Gottfried Keller, der in seiner Weltanschauung etwa von Feuerbach herkam, ist nicht gerade ein Freund der göttlichen Weltordnung. Die Macht der Zeitumstände ist so gross, dass auch die höchsten Kreise sich der Huldigung für die Geistesbefreier Deutschlands nicht entziehen können und wollen. Dem grossen Heiden Goethe, der im Mittelalter für seine Verse gegen das Kreuz, für sein Bekenntnis »er sei ein dezidierter Nichtchrist« verbrannt worden wäre, wurde in Gegenwart des alten Kaisers Wilhelm ein Denkmal enthüllt, das doch wohl dem ganzen Manne galt; auch bei der Enthüllung des Denkmals für den Dichter des Nathan, den Wiedererwecker Spinozas, für Lessing, fehlte nicht ein kaiserlicher Prinz. Kant endlich, der tiefer als ein anderer die Fundamente aller Theologie erschüttert hat, ist heute noch der fast legendäre Reformator jeder deutschen Wissenschaft, wie sie unter Aufsicht jedes Unterrichtsministers offiziell gepflegt wird. In der Volksschule wird der alte Glaube gelehrt; auf den Universitäten ist eine Umkehr vom neuen Glauben so unmöglich, dass der Kritiker Harnack seit 1889 in Berlin seine Dogmengeschichte als ordentlicher Professor vortragen durfte.

Man hat sich darüber gewundert, dass dieser ehrliche Mann, trotzdem er die Veränderlichkeit der Dogmen lehrt, sonst eine konservative Gesinnung hegt. Das ist ja aber gerade das Neue an unserer Zeit, dass wohl die konservativen Parteien den alten Glauben an die göttliche Weltordnung mit Hilfe der Polizeigewalt unveränderlich aufrecht erhalten möchten, dass aber der Einzelne frei geworden ist. In Preussen kommt noch dazu, dass sich die gebildeten Offiziere und Beamten auf den grossen König, auf Friedrich den Einzigen, berufen können, dass sie noch vor vierzig Jahren sich gern auf ihn beriefen, der in der Sprache seiner Zeit und als Schüler des deistischen Voltaire wohl irgendeinen unerkennbaren Gott nicht ausdrücklich leugnete, seinen Unglauben aber an die Unsterblichkeit der Seele, also an die göttliche Weltordnung der christlichen Kirche, öffentlich bekannte und der trotzdem ein eisernes Regiment führte. Wie denn Kant ihn (in einem Schriftchen aus dem Jahre 1784) sehr hübsch sagen lässt: » Räsoniert soviel ihr wollt, und worüber ihr wollt, aber gehorcht!« Und dazu ist zu bemerken, dass dieser Menschenverächter, der mit aufgeklärtem Despotismus sein Reich gross machte, unbeliebt war bei seiner Umgebung, bis kurz vor seinem Ende aber vergöttert beim Volke, das die drückendsten Steuern leichter erträgt, wenn es Verständnis findet für seine geistigen Bedürfnisse. Freilich – wie gesagt – auch seinem Nachfolger jubelte man zu.

Wie der alte Kaiser Wilhelm und seine Räte zur Orthodoxie standen, das wird noch lange nicht mit Sicherheit ausgemacht werden können. Aber es war eine frohe Osterbotschaft für das gebildete Deutschland, als im Jahre 1892 in den Nachlassschriften Moltkes die »Trostgedanken« veröffentlicht wurden. Moltke hatte in seinem tatenreichen Leben keine Zeit, sich in die psychologischen Abgründe der modernen Erkenntnistheorie zu vertiefen; aber auch dieser konservativste Mann bekennt in seinen Trostgedanken, dass die Vernunft in Widerspruch mit manchen ehrwürdigen Ueberlieferungen trete, dass sie den Blick zweifelnd auf das Dogma richte, dass er an die Unsterblichkeit der Seele im kirchlichen Sinne nicht glaube.

So ist es heute um die Ueberzeugungen von Gott und Welt ähnlich bestellt, wie im dritten und vierten Jahrhundert nach Christi Geburt, wo doch auch jeder Gebildete sich mit dem auslebenden alten Glauben persönlich verschieden abfand, wo ein neuer Glaube übermächtig nach Anerkennung rang. Dieser neue Glaube, der in tausendjähriger Herrschaft das Werk der Sklavenbefreiung vollführte, wird in der Weltgeschichte immer das Christentum heissen. Damals aber, als der alte Glaube sich vor seinem Ende in unzählige Kulte zersetzte, damals waren die uneinigen Bekenner des alten Glaubens nur darin einig, dass sie der kommenden Religion den Vorwurf des Atheismus machten und es auch an Verfolgungen nicht fehlen Hessen. Und doch, der Vergleich geht besser auf die Generation vor uns, deren Atheismus noch mit Materialismus zusammenging und wesentlich etwas Negatives war, eine Opposition gegen die Kirche. Wer sich gegenwärtig ruhig zum Atheismus bekennt, der steht auf positivem Boden, der hat den anderen Köhlerglauben, den an den Materialismus oder Monismus, überwunden und weiss in seinem neuen Glauben, dass er »die Welträtsel« nicht gelöst hat.

Auch heute wären die Freunde des sterbenden alten Glaubens nicht auf ein einziges Bekenntnis zu einigen. Man glaubt, die Feinde der göttlichen Weltordnung genau zu kennen, aber man würde die Weltordnung, die geschützt werden soll, unmöglich gemeinsam definieren können. Es braucht nur an den Zwiespalt erinnert zu werden, der zwischen Katholizismus und Protestantismus besteht und der nicht nur äusserlich ist, sondern das grundsätzliche Verhältnis von Gott und Welt, also die Weltordnung betrifft. Es ist ganz modern, dass unser Staat beide Weltordnungen durch seine Volksschullehrer lehren lässt.

Der Vergleich zwischen unserer Zeit und der des Sieges des Christentums hinkt nun freilich auch darin, dass die neuen Ueberzeugungen noch nicht den Charakter einer neuen Religion angenommen haben. Man überschätzt die Sozialdemokratie, wenn man sie schlankweg die Religion der Zukunft nennt. Es kann sich aus ihr durch irgendein unvorhergesehenes Ereignis, ein Martyrium oder eine mystische Bewegung, heute oder morgen eine Religion entwickeln; vorläufig aber steckt sie noch tief in der Negation, im Materialismus. Wer die kritischen Taten der Sozialdemokratie zum grossen Teil anerkennt, aber an die Utopien der Sozialdemokratie nicht glaubt (und darin dürften erstaunlich viele freie Männer mit mir übereinstimmen), der kann in ihr den neuen Glauben nicht sehen. Wäre die Lehre von Karl Marx, die Lehre vom irdischen Jenseits, die Religion der Zukunft, dann freilich könnte ein Fürst kaum schwanken, ob er dem Beispiel Julians oder Konstantins zu folgen hätte. Der geistreiche, tapfere, mit allerlei Talenten ausgestattete Julian versuchte es, mit dem Einsatz seiner ganzen lebhaften Persönlichkeit den alten Glauben gegen den vermeintlichen Atheismus zu schützen. Die Klassiker des neuen Glaubens, die Kirchenväter, nannten ihn dafür den Abtrünnigen; wohl hat dann später der Hass gegen die Kirche dazu geführt, von Gibbon bis Ibsen, diesen Julian zu verherrlichen, aber seit Strauss kennt man ihn nur noch als den Romantiker auf dem Throne der Cäsaren. Der kluge Konstantin liess seinen Staat Frieden schliessen mit dem neuen Glauben und dafür geht er durch die Geschichte als Konstantin »der Grosse«. In diesem feuchtfröhlichen Jubiläumsjahre, in welchem auch seine Stadt beinahe christlich geworden wäre, werden wir ja oft genug an seine falsche Grösse erinnert werden. Konstantin wird nach 1500 Jahren dafür gefeiert, dass er die neue Lehre zur Staatsreligion erhoben hat. Sein Ruhm sollte doch einen modernen und ehrgeizigen König reizen, lieber ihn als den Romantiker Julian nachzuahmen, also: lieber für den Glauben der Zukunft einzutreten.

Aber so weit sind wir noch nicht, noch hat der neue Glaube seinen klassischen Ausdruck nicht gefunden.

Ich wollte nur zeigen, dass unter den Feinden der göttlichen Weltordnung bloss diejenigen verstanden werden können, die an die göttliche Weltordnung nicht glauben, und dass diese Ungläubigen weit über den Kreis der Sozialdemokraten hinausgehen, ja, dass zu ihnen die meisten gebildeten Menschen der modernen Welt gehören. Es geht über meine Absicht und über mein Wissen, alle Folgerungen aus dieser Tatsache zu ziehen. Die beste Folgerung aber wäre die: die Sozialdemokraten nicht immer als eine besonders gefährliche Klasse von den übrigen Staatsbürgern trennen zu wollen.

Die Auseinandersetzung zwischen dem alten und dem neuen Glauben kann nicht ohne Heftigkeit erfolgen, wenn die Macht Partei ergreift. Vielleicht aber könnte ein neuer aufgeklärter Despotismus, in welchen die Menschen bei der Erbärmlichkeit ihrer Natur immer wieder zurückzufallen scheinen, diese Auseinandersetzung in friedlichem Sinne beeinflussen, indem er den Zerfall des Christentums in freie Sekten begünstigte. Vielleicht würde dann in den einzelnen Gruppen ein ehrlicher gemeinsamer Glaube, ein freies, anpassungsfähiges Verhältnis zum Unerkennbaren wenigstens der geistigen Not des Volkes ein Ende machen, das metaphysische Bedürfnis auch des ärmsten Menschen befriedigen. Vielleicht könnte so der materiellen Not der tiefste und gefährlichste Schmerz gemildert werden.

Kaiser, Galiläer und Goethe.

Seitdem David Friedrich Strauss in seiner berühmten Schrift »Der Romantiker auf dem Throne der Cäsaren« (auf einer Universitätsbibliothek fand ich sie einmal unter »Deutsche Literaturgeschichte«, Abteilung »Romantik«) das Doppelbild von Friedrich Wilhelm IV. und von Kaiser Julian gezeichnet hat, ist es bequem geworden, geistige Restaurationsbestrebungen unserer Tage mit denen der römischen Uebergangszeit zu vergleichen. Die Aehnlichkeit drängt sich immer wieder auf, weniger durch die Charaktere unserer Herrscher als durch den grossen Gegensatz der Weltanschauungen, um die damals wie heute sich alle kleineren Kämpfe bewegen, welche Kunst und Religion, Wissenschaft und Sozialpolitik betreffen. Damals wie heute hatte eine tausendjährige Kultur bei allen Intellektuellen an Ansehen verloren, damals wie heute drang eine neue Kultur siegreich vorwärts und fand Anhänger bei den Intellektuellen und zugleich bei den Armen an Geist. Damals wanderten die Götter Griechenlands ins »Elend« und die Männer, welche sich zu dem neuen Glauben bekannten, die Christen, wurden Gottlose und Atheisten genannt. Heute ist die alte Kirche ebenso im Rückgang begriffen, und die Bekenner eines Zukunftsglaubens werden mit Schimpfnamen belegt. Nur freilich, dass in unseren skeptischen Tagen der Zukunftsglaube nur schwer eine feste Gestalt findet, weil wir das Utopische in den Lehren der neuen Propheten durchschauen, weil wir keine Wunder sehen, weil wir zuviel gelernt haben und unser Denken dadurch seine mythenbildende Kraft verloren hat, – weil wir kein Talent zur Religionsstiftung besitzen.

Die ähnliche Lage der Dinge wird vielleicht am besten durch eine kleine etymologische Erinnerung erläutert. In der Zeit des Kaisers Julian ungefähr hatte sich der alte Gottesdienst aus den Städten auf das flache Land zurückgezogen; »bäuerisch« war die Bezeichnung für den Gläubigen des sogenannten Heidentums. Pagani (ländlich, bäuerisch) wurden von den Anhängern der neuen Kirche die Nichtchristen genannt; daraus ist das französische payen geworden, das mit paysan also eines Stammes ist; unser deutsches »Heide« (Heide = Feld) ist wahrscheinlich eine wörtliche Uebersetzung. Ich habe anderswo für diese Art von Wortübersetzung, die so wichtig ist für die internationale Sprachgeschichte, die Bezeichnung »Lehnübersetzung« vorgeschlagen Einleitung zu meinem »Wörterbuch der Philosophie«.. Unwillkürlich muss man daran denken, wie die Altgläubigen heutzutage die gottlosen, atheistischen Städte schelten, aus denen sich die Frömmigkeit auf das flache Land zurückgezogen hat.

Es bietet unendlichen Reiz, die Schriften und Reden des Kaisers Julian zu lesen, des sogenannten Abtrünnigen, der die Reste der alten Kultur zusammenraffte, um die neue mit Talent zu bekämpfen. Sein Versuch ging von einer viel zu komplizierten Seelenstimmung, von einer viel zu gründlichen Bildung aus, als dass man ihn unter das Schlagwort Reaktion bringen sollte. Julian verschloss sich nicht der sozialen Grösse in den Neuerungen; er hielt aber die vermeintlich umstürzlerische Geistesgewalt für eine vorübergehende Erscheinung und täuschte sich freilich über die Dauer dieses Vorübergehens. Schiller hat den Kaiser Julian einmal in einem Drama verherrlichen wollen; Ibsen hat ihn in »Kaiser und Galiläer« bei realistischer Zeichnung seiner menschlichen Schwächen als so bedeutend hingestellt, dass wir ohne Gefahr einer Verkleinerung (eher unter dem Verdachte einer Schmeichelei) unseren Kaiser mit Julian vergleichen dürfen, der doch sogar ein Soldat ersten Ranges, ein hervorragender Staatsmann war, sich aber in seiner romantischen Weltanschauung nicht gerade in Uebereinstimmung befand mit den geistigen Führern seiner Zeit. Ueber Heidentum und Christentum hinweg wollte er ein drittes Reich schaffen, das goldene Zeitalter, zu welchem auch Lessing in der »Erziehung des Menschengeschlechtes« emporblickt; Julians Irrtum bestand darin, dass er in dieser Absicht nicht das jungfrische Christentum, sondern das alternde Heidentum zu läutern unternahm. Die griechischen Dichter der Vorzeit sollten zu Propheten von Julians Sonnenkultus umgedeutet werden. Das ging nicht immer leicht.

Wie Kaiser Julian sich persönlich an den Disputationen der Hochschulen von Athen beteiligte, so hat Kaiser Wilhelm einmal das Fest der Berliner Akademie durch eine Rede geehrt. Sie war fast ebenso gut und fast ebenso bedeutungsvoll wie manche akademische Rede, die bei feierlichen Anlässen von eigens dafür und darum berufenen Gelehrten zur grösseren Ehre der Hohenzollern gehalten wurde. Es war hübsch, wie ein Kaiser solche Höflichkeit erwiderte.

Aber Kaiser Wilhelm hat in dieser Rede den überragenden Goethe, einen der wenigen Menschen, in welchem sich jemals das dritte Reich verkörpert hat, für seine romantische Weltanschauung in Anspruch genommen; er hat ein schönes Wort Goethes zitiert, dass nämlich das tiefste Thema aller Weltgeschichte der Konflikt des Unglaubens und Glaubens sei und hat in Goethes Sinne, wie er ausdrücklich sagte, hinzugefügt, dieses Thema sei » die Betätigung Gottes am Menschengeschlecht«. Dieser Umdeutung Goethes muss mit dem Freimut, der immer ein Beweis hoher Achtung ist, einfach widersprochen werden.

Im Sinne der Kirche war Goethe zeit seines Lebens ein Heide; er hat an die Betätigung eines persönlichen Gottes vom Jünglingsalter bis zum Tode niemals geglaubt. Früh und spät hat er über die Heiligtümer der Kirche Ketzereien und Spöttereien niedergeschrieben, die ihn – wenn er heute lebte, in Preussen lebte und genau so schriebe – nur selten aus dem Gefängnisse herauskommen lassen würden. Oft gebärdet er sich als Antichrist, so im »Satyros«, so in der »Ersten Walpurgisnacht«, so in zahlreichen Epigrammen, die in diesem Zusammenhange besser nicht in ihrem erschrecklichen Wortlaute angeführt seien. Denn der Religionsspötter Goethe ist uns gar nicht der reinste und beste Goethe. Goethe's höchstes Glaubensbekenntnis ist nicht negativ, ist von der Jugend bis zum Tode eine ernste, ehrfurchtsvolle, konfessionslose und doch innerst religiöse Unterwerfung unter das Walten eines Unbekannten, unter die göttliche Natur, unter einen poetisch angeschauten Pantheismus, der von einem persönlichen Gotte nichts wusste. Mit seinem freidenkenden Generalsuperintendenten Herder wusste er sich eins in der Verehrung Spinozas, welchem Gott und Natur Wechselbegriffe waren; alle Geistlichen der Gegenwart würden sich entsetzen über die beinahe blasphemischen Verse, mit welchen der Superintendent Herder ein Exemplar des Spinoza als Christgeschenk zu Weihnachten übersandte. Nur im aufgezwungenen Kampfe wären diese Verse ebenso wie die bitterbösen Epigramme Goethes abzudrucken, die doch nur zur Schmach Deutschlands und unter dem Gelächter von ganz Europa verfolgt werden dürften.

Dass ihm der Glaube an die Betätigung eines persönlichen Gottes fremd war, das hat Goethe nicht etwa nur in gelegentlichen übermütigen Versen ausgesprochen, sondern in monumentalen Dichtungen, wie im »Faust«, da der Doktor von Gretchen katechesiert wird, und noch stärker im »Prometheus«. Und wollte man töricht genug dagegen einwenden, dass Goethe da die Titanen Faust und Prometheus sprechen lasse (trotzdem Goethes persönlichste Stimme doch nicht zu überhören ist), so wäre auf die Sprüche hinzuweisen, in denen Goethes Ueberzeugung ohne jede Verkleidung hervortritt.

»Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
Hat auch Religion;
Wer jene beiden nicht besitzt,
Der habe Religion!«

Das war übrigens vor hundert Jahren gar nicht so unerhört; der Hofprediger Schleiermacher durfte schreiben: »Du hast Religion, wenn Du den Sinn für alles Schöne ausbildest.« Goethe war ganz frei, frei, Gott sei Dank, von dem philiströsen Aufkläricht seiner Zeit, frei von beschränktem materialistischen Aberglauben, aber auch frei von jeder kirchlichen Fessel. So blieb er bis in seine letzte Stunde.

Goethe war in seiner herrlichen Selbstsicherheit keine polemische Natur. »Höchstes Glück der Erdenkinder sei nur die Persönlichkeit.« Seine mächtige Persönlichkeit behauptete er gewöhnlich mit ruhigem Lächeln und liess sich nicht leicht zur Ablegung eines Kredo herbei; als aber der zudringliche Lavater ihn darum belästigte, da erwiderte ihm Goethe das historische Wort, das sie sollen lassen stahn, er sei »ein dezidierter Nichtchrist«. Eine dichterische Bestätigung für dieses Geständnis oder Bekenntnis kann man auf unzähligen Seiten von Goethes Schriften finden, nicht zuletzt in unverfänglichen Gedichten, wie dem von den himmlischen Mächten, die uns ins Leben hineinführen, den Armen schuldig werden lassen und ihn dann der Pein überlassen. »Denn alle Schuld rächt sich auf Erden.« Und diese »tiefschmerzlichen Zeilen« wären die Lieblingsverse der Königin Luise gewesen. »Wer dürfte«, sagte Goethe mit wehmütigem Stolze nach dem Tode der Königin, »diese schon in die Ewigkeit sich erstreckende Wirkung wohl jemals verkümmern?« Wie hier mit dem Worte Ewigkeit, so spielt der Poet Goethe auch sonst mit dem Gedanken an die Unsterblichkeit der Seele; doch fern ab von kirchlichen Vorstellungen bleibt Goethe auch in solchen Phantasien.

Diese Lieblingsverse der Königin Luise durften hier erwähnt werden, weil Goethe sie im »Wilhelm Meister« in der Stimmung von frommen Menschen gelesen wissen will, »die sich, abgesondert von der Kirche, reiner, herzlicher und geistreicher zu erbauen glauben«; die Verse werden natürlich trotzdem nicht so beweiskräftig sein wie die unzähligen Bekenntnisse in Prosa, welche in seinen Schriften und treu überlieferten Gesprächen vorliegen, auch lange noch nach seiner wilden Epoche. An seinen Freund Jacobi schreibt er 1813: »Als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als Naturforscher, und eins so entschieden wie das andere.« Noch 1824 lacht der Greis über die Weiber, die ihn, der den Gedanken an eine Seelenwanderung lieb hatte, auf seinen Glauben hin examinierten. »Ich ärgerte sie, indem ich sagte: es könne mir ganz recht sein, wenn nach Ablauf dieses Lebens uns ein abermaliges beglücke; allein ich wolle mir ausbitten, dass mir drüben niemand von denen begegne, die hier daran geglaubt hätten. Denn sonst würde meine Plage erst recht angehen!«

Goethes Verhältnis zur letzten Frage der Religion, zu dem Glauben an einen persönlichen Gott, kann nicht zweifelhaft sein, so vielfach auch sein Ton gegen die Kirche zwischen Hohn und einer gewissen Anerkennung gewechselt haben mag, so innig seine Verehrung der Jesusgestalt war. Sein letztes Wort findet man vielleicht im ersten Kapitel vom zweiten Buche der »Wanderjahre«, wo Goethe die drei einzig möglichen Religionen nennt, sich zu allen dreien bekennt und das Gefühl der Ehrfurcht auf der höchsten Stufe statt jedes Glaubens setzt. In dieser tiefsten geheimnisvollen Andacht mögen sich wohl wie in einem unsichtbaren Freimaurerorden, in einem unsichtbaren Goethe-Orden Goethe und die Könige begegnen, welche dem Volke die Religion erhalten wissen wollen. Nur dass auch das Volk langsam vom Symbol zur Erkenntnis emporsteigt.

Man darf mit diesem grossen unsichtbaren Goethe-Orden natürlich nicht die kleine, alljährlich einmal sichtbare Goethe-Gesellschaft verwechseln, bei deren »Festen« der Damentoast und die Frage: »Wer ist dem Grossherzog vorzustellen?« eine bedeutende Rolle zu spielen pflegt. Pflegte, muss man sagen. Der alte Grossherzog ist tot, Erich Schmidt (der von ihm so nette Anekdoten zu erzählen wusste), durch geistige und körperliche Vorzüge der geborene Präsident dieser Gesellschaft, ist tot, und die kleine Goethe-Gesellschaft hat, wie das recht und billig, einen betitelten Herrn, der schwerlich das deutsche Volk zum Erben Goethes machen möchte, an ihre Spitze gestellt. Ich wüsste nicht, was für das deutsche Volk gleichgültiger sein könnte. (Zu einem Massenaustritt aus der Gesellschaft war besserer Grund vorhanden, als vor sechs Jahren – Erich Schmidt traf keine Schuld – das Machwerk eines ebenso alten wie elenden Skribenten auserwählt wurde, zu Ehren Goethes gespielt zu werden.) Die kleine Goethe-Gesellschaft ist immer höfisch gewesen. Goethe sei es auch gewesen? Mit dem Unterschied, dass Goethe höfisch war als ein Pair, als einer vom Hofe, die Herren aber als Subalterne. Ich wollte jedoch nur von dem grossen unsichtbaren Goethe-Orden sprechen, der berufen wäre, dem Volke den wahren Goethe zu zeigen.

Kaiser Julian, der in dem Kulturkampfe seiner neuerungssüchtigen Zeitgenossen nur das Hässliche sah und sich die Vergangenheit oft poetisch verklärte, wollte an seinen Hochschulen nicht einmal die philologischen Fächer von Neugläubigen vorgetragen wissen; Goethe stand wenigstens bei der Berufung Herders auf anderem Standpunkte. Und hat sich bei der schmählichen Vertreibung Fichtes nur ungern der Forderung der sächsischen Höfe gefügt. Julian handelte mit dieser vielgenannten Verordnung ganz zielbewusst. Er mochte sich, als er die schöne Vergangenheit reformieren wollte, von den Stürmern und Drängern des neuen Glaubens, dessen entscheidenden Vorzug (in der sozialen Armenpflege) er wohl erkannte, nicht zu Ueberstürzungen verleiten lassen. Ihm wurde das Schicksal, dass er von den Bekennern und den egoistischen Heuchlern des alten Glaubens überlaufen und rhetorisch gepriesen wurde, dass die meisten Neugläubigen ihn unterschätzten, ihn nicht verstanden.

Die Geschichte oder die Legende erzählt, dass dieser tätigste und geistreichste der spätrömischen Kaiser mit dem Rufe gestorben sei: »Galiläer, du hast gesiegt!« Wenn das Wort nicht wahr ist, so ist es gut erfunden. Was Julian bekämpfen zu müssen glaubte, war damals die Zukunft. Und es ist wohlfeile Binsenweisheit, wenn sie auch halb banal, halb paradox klingen mag: die Zukunft siegt immer, weil sie kommt.


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