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Friedrich Dernburg hat mehr als einmal, wenn in der Redaktionsstube geistige Energie vergeudet, das heisst geplaudert wurde, die nachdenkliche Bemerkung gemacht: Immer, wenn unter diesen pietätlosen Journalisten die Nachricht vom Tode eines bedeutenden Mannes eintreffe, gebe es zuerst einige Heiterkeit und die Erinnerung an lustige Anekdoten von dem eben Verewigten; eine Stunde später finde sich dann leicht ein Kollege, der würdig und feierlich den Trauerartikel schreibt.
Ich habe seitdem wohl die Gewohnheit angenommen, die Nekrologe für berühmte Theaterdirektoren und andere Unternehmer, für erfolgreiche Verteidiger und Parteiführer, für die kleinen Staatsmänner und die grossen Friedensgeneräle unserer Zeit daraufhin anzusehen, ob sich zwischen den Zeilen nicht die anfängliche Heiterkeit des Schreibers verrate. Und habe gefunden, dass der Journalist doch kein so vollkommener Schauspieler ist wie der Geistliche, der etwa in jeder seiner Leichenreden den Verstorbenen als das Muster eines edlen Menschen preist. Zwischen den Zeilen eines Zeitungsnekrologs guckt doch mitunter eine der ersten Assoziationen hervor, eine der lustigen Anekdoten; der Schreiber rächt sich im voraus dafür, dass alle seine grossen Worte zwölf Stunden, zwölf Tage, spätestens zwölf Monate später nicht mehr geglaubt werden.
Uebrigens trifft die nachdenkliche Bemerkung Dernburgs doch nicht immer zu. Es gibt Todesnachrichten, bei deren Verkündigung selbst abgebrühte Nekrologschreiber in scheuer Ehrfurcht verstummen. Ein Engel schreitet durch die Redaktionsstube sogar. Das Gefühl: die Menschheit hat einen Verlust erlitten. Und nachher ist dann gerade nicht leicht jemand imstande; diesem Gefühl Worte zu finden. Dass solche Fälle überaus selten eintreten, vielleicht nicht ein einziges Mal in einer Journalistengeneration, das liegt nur an einer Kleinigkeit: an der Tatsache oder dem Gesetz, dass es sehr viele Menschen gibt, die bis zu ihrem Tode erfolgreich mit den Schätzen der Menschheit gespielt haben, dass es aber nur sehr selten Menschen gibt, die Mehrer des Schatzes waren und von ihren Zeitgenossen als Mehrer des Schatzes erkannt wurden. Es gibt auf der Welt mehr Spieler als Schöpfer.
Ich muss leider zugeben, dass der Begriff »Schatz der Menschheit« nicht leicht zu definieren sei; er ist ganz bequem zu unterscheiden, etwa nur von dem abschätzbaren Schatze einer Familie oder von den idealen und den dinglichen Schätzen einer Stadt, aber schon der gesamte Schatz eines Volkes oder gar der eines Erdteils wird von seinen Mitbesitzern allzu häufig mit dem Schatze der Menschheit verwechselt. Jedes Volk und fast jeder Erdteil bildet sich gern ein, die Menschheit genügend zu vertreten. Doch immerhin mag ungefähr zu verstehen sein, was mit dem »Schatz der Menschheit« gemeint ist; keinesfalls die Andacht zu der langsam veraltenden Phrase vom Weltbürgertum.
Stellen wir nun nicht bloss bei Theaterdirektoren und Parteirednern, sondern gleich bei allen Grössen des Konversationslexikons die Frage, ob sie Mehrer des Schatzes waren, und legen wir nach Beantwortung dieser Frage den Massstab an, so werden die Gegenstände unserer Heldenverehrung an Zahl schrecklich abnehmen.
Zwischen Entdeckern und Erfindern wird vom Standpunkt der Mehrung des Schatzes eine seltsame Unterscheidung gemacht werden müssen, eine ganz andere als die im Sprachgebrauch übliche. Eigentlich mehrt ein Entdecker niemals den Schatz der Menschheit. Die weltberühmten Entdecker neuer Erdteile und Inseln haben nur die Goldquellen ihrer Heimatvölker vermehrt, fast immer auf Kosten der Eingeborenen. Die Entdecker gar des Nord- und des Südpols, die Entdecker neuer Planeten und neuer Kometen haben ihre Namen, wie man zu sagen pflegt, in die Sterne geschrieben; aber alle diese kosmischen Entdecker zusammen haben den Schatz an menschlicher Wissenschaft nur um einen winzigen Bruchteil vermehrt, und es ist gar nicht so ungerecht, wenn man die Heldentaten solcher Männer mit sportlichen Leistungen vergleicht. Die griechischen oder ägyptischen Gelehrten, welche vor mehr als zweitausend Jahren die Vorstellung gewannen, die Erde müsste als freischwebende Kugel sich um ihre Achse drehen, und die Endpunkte dieser Achse könnten ihre Pole genannt werden, die haben für die Wissenschaft immerhin mehr geleistet als die todbereiten Polentdecker.
Mehrer des Schatzes waren die Entdecker des Kleinen, des Unscheinbaren. Nur dass wir nicht wissen, wer die Eigenschaften des Eisens, wer die des Bernsteins zuerst entdeckt hat. Mit den Erfindern des Feueranzündens, des Pfluges hat uns wenigstens die Sage bekannt gemacht; über den Entdecker des Eisens schweigt sogar die allwissende Sage.
Die Gewinnung der meisten chemischen Elemente und vieler jetzt unentbehrlicher Stoffe verdanken wir eher dem Erfindungsgeiste als dem Entdeckermute der alten Alchimisten und der neuen Chemiker. Was man aber zumeist eine Erfindung nennt, die schlaue Herstellung einer Maschine, die besser oder schneller oder billiger arbeitet als Menschenkraft, oder die Aufgaben löst, an deren Lösung die Menschen vorher gar nicht denken konnten, diese Herstellung von Maschinen hat doch wohl den Schatz der Menschheit nicht immer gemehrt. Schiesspulver und Schiesswaffen sind ein Segen nur für solche Völker, die eben just die besseren Waffen haben. Die Buchdruckerkunst hat unmittelbar nur die Bewahrung und Verbreitung des Wissens unterstützt; erst mittelbar (weil auch die Söhne armer Leute sich jetzt das alte Wissen aneignen konnten) auch die Mehrung der Wissenschaften. Und weil seit der Erfindung des Buchdrucks ein erworbenes Wissen nicht so leicht durch Krieg und Fanatismus wieder verloren gehen konnte, darum zumeist folgen die Erfindungen seit Gutenberg und seinen schlauen Helfershelfern so rasch aufeinander. Und weil die allermeisten von unseren unzähligen neuen Erfindungen nur Verbesserungen früherer Maschinen sind, darum werden nur wenige der neuen Patentinhaber in das Heldenbuch der Erfindungen eingetragen werden. Wir sehen in dem sehr schätzenswerten Erfinder der Druckknöpfe keinen Mehrer des Schatzes.
Auch die Männer, die mit Daransetzung ihrer Lebenszeit irgendeinen Traum der Menschheit nach langem Ringen verwirklichten, die den Telegraphen, das Telephon, die Photographie, die drahtlose Telegraphie, das Luftschiff erfanden, waren freilich niemals ganz allein am Werke; sie haben Vorgänger gehabt, deren halbfertige Ideen sie benutzten; den Erfolg an Gold und Ruhm verdanken sie aber doch dem Umstand, dass gerade sie zuerst (nach endlosen Mühen, fast niemals mehr infolge eines glücklichen Zufalls) mit einer gebrauchsfähigen Maschine fertig wurden.
Waren nun alle diese gewiss bewunderungswürdigen Männer Mehrer des Schatzes? Ist die amerikanische und europäische Menschheit um so viel glücklicher geworden, seitdem sie einige Millionen Telephonstellen besitzt? Seitdem sie Lichtdrucke oder kinematographische Aufnahmen der gestrigen Kaiserparade betrachten kann? Seitdem die nun wirklich oberen Zehntausend sich den Luxus einer Luftreise gönnen können? Den Ruhm des Grafen Zeppelin in Ehren. Was wir aber beim siegreichen Vorüberfahren seines ersten Luftschiffes empfanden, das war weniger Freude über eine menschenbeglückende Erfindung als der Rausch beim Einzuge eines Siegers. Des Siegers über das Luftmeer. Der einem neuen Welteroberer eine neue Waffe geschmiedet hatte. Und wir werden gleich sehen, was uns die Welteroberer als Mehrer des Schatzes bedeuten. Selbst die Erfindung des Seeschiffs (kein Name wird uns genannt) ist für die Menschheit wahrscheinlich ein kostbareres Geschenk gewesen als die so viel schwierigere Erfindung des Luftschiffs.
Wenn also nicht die Leute der angewandten Wissenschaften, so werden gewiss die Männer der reinen Wissenschaft die stärksten Mehrer des Schatzes sein? Der Lokalpatriotismus der einzelnen Berufszweige lässt die Techniker ebenso wie die Gelehrten rufen: »Wir sind die wahren Beglücker der Menschheit.« Der armen Menschheit, die doch immer noch nicht so recht eigentlich glücklich geworden ist.
Wenn man die Mehrung des Schatzes zum Massstab nimmt, so muss man bei den Männern (und neuerdings auch bei den Frauen) der Wissenschaft zunächst 90 oder 95 oder 99 Prozent von der Zahl abziehen; die Gelehrten nämlich, die nur Bewahrer des Schatzes sind. Sie sind – genau genommen – durch den Buchdruck überflüssig gemacht worden. Sie verhalten sich zu ihren Vorgängern etwa wie neue Auflagen guter Bücher zu älteren Auflagen. Die Herren quälen sich »im Schweisse ihres Angesichts«, an irgendeiner Stelle eine kleine Verbesserung anzubringen, um die Berechtigung ihres eigenen Daseins zu erweisen. Wer den wissenschaftlichen Betrieb kennt, wird solche Sätze nicht für Verkleinerungen halten. Heute schon glaubt alle Welt, der Schatz werde nicht dadurch gemehrt, dass ein »Forscher« die Echtheit oder Unechtheit von Schillers Schädel in der Gruft von Weimar nachweise. Ueber kurz oder lang wird man so auch glauben, dass der Schatz der Menschheit nicht gemehrt werde, wenn im deutschen Buchhandel anstatt einer etwas veralteten Lessingbiographie eine etwas modernere verkauft wird. Anders liegt der Fall nur, wenn von mutigen Entdeckern verschüttete Meisterwerke zur Freude eines neuen Geschlechts wieder ausgegraben werden: wenn Shakespeare, für Voltaire ein betrunkener Wilder, von Lessing entdeckt wird, oder unsere mittelalterliche Dichtung, die noch für Friedrich den Grossen keinen Schuss Pulver wert war, von den Begründern der deutschen Sprachkunde. Bei solchen Wiederbelebungen scheintoter Dichtungen, vergessener Bildwerke mag die Gelehrsamkeit über die Echtheit mitzusprechen haben; über den Schönheitswert entscheidet der Künstler im Kritiker.
Die Zahl der Mehrer des Schatzes unter den wissenschaftlichen Bahnbrechern wird vermehrt oder vermindert – je nachdem –, wenn man beachtet, dass manche Helden der Erkenntnis nur Zerstörer von falschen Vorstellungen waren. Ich nehme als Beispiel wieder die langsam gewonnene Einsicht in die wahre Bewegung der Erde. Kopernikus zerstörte nur (mit besseren Beweisen, als es einige Griechen versucht hatten) den alten Aberglauben an den Stillstand der Erde; ihre Bahn und endlich die »Ursache« dieser Bahn erforschten erst Kepler und Newton; und doch waren alle drei Mehrer des Schatzes. Wie Voltaire, der kein Dichter war, ein Mehrer des Schatzes wurde durch Zerstörung so manchen Aberglaubens. Der hochgelahrte Leser mag hinzufügen, was sich über das Verhältnis der Zerstörung und Erbauung sagen liesse von den Mehrern des Schatzes unter den Philosophen und unter den Religionsstiftern. Es gab unter den Legendenzerstörern mindestens ebenso viele Märtyrer wie unter den Gläubigen; es war mitunter notwendig, der Menschheit zu sagen: das kostbare Gefäss, von dem euch erzählt wird, es sei aus einem seltensten Edelstein geschnitten, ist ganz gemeiner Glasfluss. Die grossen Skeptiker, die den Wert der philosophischen Begriffe genauer bestimmten und tote Worte, tote Symbole aus den Zierschränken hinauswarfen, waren bessere Mehrer des Sprachschatzes als die Konservatoren alles alten Gerumpels. Es ist nicht wahr, dass wir verpflichtet sind, dem neuen Geschlechte durch Erhaltung jeder Baracke aus Väterzeit Luft und Licht zu versperren; dass alle Ruinen uns heilig sein sollen. Nur die edelsten Bauwerke können uns noch als Ruinen heilig sein. Das Parthenon, nicht jede alte Kirchenmauer. Der hochgelahrte Leser mag entscheiden, ob er die kühnsten Systemerbauer der Philosophie, einen Thomas von Aquino, einen Spinoza, einen Schopenhauer, lieber mit den besten Architekten vergleichen wolle oder mit den besten Dichtern; und ob die grossen Skeptiker nicht am Ende wertvoller waren als die System-Architekten oder System-Dichter, die ihre luftigen Phantasiegebäude ohne Prüfung des Materials ausgeführt hatten.
Die gebildete Welt sieht Mehr er des Schatzes vor allem in den Schöpfern von Idealen, in den Dichtern, den Musikern, den bildenden Künstlern. Mit Recht, obgleich auch da die Zerstörung alter Ideale vorauszugehen pflegt, wie in der Anklageliteratur der letzten Sturmbewegung der Poesie. Sind aber alle talentvollen Nachahmer und Mitläufer allezeit Mehrer des künstlerischen Reiches? Doch wohl kaum, auch wenn sie den Büchmann um einige »geflügelte Worte« vermehrt haben. Vielleicht ist die letzte Bedeutung eines Künstlers für die Menschheit daran zu erkennen, dass seinen Werken der wunderbare Zauber innewohnt: nach ihrer Erschaffung, ja noch lange nach dem Tode ihres Schöpfers weiter zu wachsen, als ob sie lebendig wären. So kann man von einem tausendjährigen Wachstum der Aeneis, Von einem hundertjährigen Wachstum der Schillerschen Gedichte sprechen. Die Schriften Rousseaus, die Poesien Goethes wachsen unter unseren Augen immer noch weiter. Wir nennen gerade das mit einem sehr feierlichen Worte: Unsterblichkeit. Aber die ganze Geschichte der Kunst bietet doch nur ein einziges Beispiel so unvergänglicher Fortdauer: Homer.
Die Welteroberer und Staatenlenker gehören auch hierher. Nicht einmal für ihr eigenes Volk sind sie immer auch nur Mehrer des Wohlstandes gewesen. Und dennoch in ihren vollendeten Typen Mehrer des Schatzes der Menschheit, weil sie in glaubhafter Wirklichkeit boten, was die Dichter und Künstler bloss als Kerls ihrer Phantasie hinmalen konnten: Menschen, die die überkommene Welt in Stücke schlugen, um sich aus den Trümmern eine neue bessere Welt ihrer Sehnsucht zu schaffen. Alexander der Grosse und Julius Cäsar dichteten gewissermassen ihr eigenes Heldenleben; und besassen, wie nur die grössten Dichtungen, ihr Wachstum nach dem Tode des Dichters; Alexander wirkte in Cäsar und Julianus weiter, Cäsar in Napoleon. »Das beste an der Geschichte ist der Enthusiasmus, den sie erregt.«
Wenn nun die Mehrer des Schatzes viel weniger zahlreich sind, als es die Gedenktage unserer gefälligen Kalender vermuten lassen, wenn gar in der Schatzkammer der Menschheit auch Werke der Skepsis, also negative Werte, bewahrt und gehütet werden müssen, so könnte man auf den Gedanken kommen: der Schatz der Menschheit ist geringer, als wir dachten. Er ist wirklich nicht so gross, wie progressistische Optimisten uns glauben machen wollen. Was tut's?
Ist der Schatz nicht unübersehbar, sind die Mehrer des Schatzes sehr seltene Menschen, so kann das nur eine Mahnung sein, Zeiten nicht wiederkommen zu lassen, in denen die seltenen Mehrer des Schatzes durch Scheiterhaufen und Folterwerkzeuge des schatzfeindlichen Fanatismus am Werke gehindert und vernichtet wurden. Nur dass die Mitlebenden ihre eigenen Genies nicht erkennen und dass die Scheiterhaufen und Folterwerkzeuge in jedem Jahrhundert neue Formen und neue Namen annehmen. Die geistige Armut der Herrscher will den Schatz der Menschheit nicht vermehrt sehen. In alten Zeiten wurden die Genies einfach mit dem Schwerte totgeschlagen; das Mittelalter war schon milder und verurteilte sie zum Feuertode, ohne Blutvergiessen; erst die ganz humane Gegenwart hat die feinste Kunst gelernt, die Genies durch Totschweigen auszuhungern.