Hermann Löns
Aus Forst und Flur. Vierzig Tiernovellen
Hermann Löns

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Am Graben

Agrion minium Harr., A. elegans Lind., A. cyathigerum Carp.

Unter dem Galgenberge mündet ein Graben in die Bucht des Sees; er kommt von den Wiesen und ist das ganze Jahr über in seinem unteren Teile mit Wasser gefüllt.

Seine Ufer tragen reichen Blumenschmuck, und allerlei Kräuter wachsen in ihm, Froschlöffel, Wasserhahnenfuß, Riesenampfer, Schwertlilie, Binsen, Riedgräser, Vergißmeinnicht, Bachlungenkraut und in der Nähe des Sees auch Froschbiß und Krebsschere.

Deshalb ist sein Tierleben reich; es wimmelt in dem Wasser von Kaulquappen und Molchlarven, Köcherraupen, Kleinkrebsen, Wasserkäfern, Mückenlarven, Milben, Schwimmwanzen, Würmchen, Polypen, Schnecken und Müschelchen.

Auch Libellenlarven finden sich in Menge, besonders die Larven der Schmaljungfern, zierliche, schlanke Geschöpfe, die viel hübscher aussehen als die Larven der großen Libellen und auch in ihren Bewegungen netter sind, denn wenn sie gestört werden, so schlängeln sie sich schnell und gewandt durch das Wasser.

Meistens aber sitzen sie verborgen im Kraute, durch ihre Farbe vor ihren Feinden geschützt, deren es nicht wenige gibt. Nicht nur die Stichlinge und Molche stellen ihnen nach, auch die Wasserskorpione und Schwimmwanzen, die Wasserspinnen und die Schwimmkäferlarven und besonders die Larven der großen Libellen.

Deshalb halten sie sich in dem dichten Gewirre des Gekrautes verborgen, meist regungslos hängend, die drei langen, bunt gebänderten Kiemen am Ende des Hinterleibes weit auseinandergespreizt, und lauern auf Beute. Zumeist sind es Wasserflöhe, von denen sie leben. Tanzt eine Daphnie oder ein Hüpferling dicht an ihnen vorbei, oder zappelt eine Mückenlarve bei ihnen vorüber, so schnellen sie die große, breite Fangmaske vor, ziehen sie mit der darin festgeklemmten Beute zurück, und die Kiefer zerpflücken sie.

Auch in den Uferlachen des Seeufers, in dem Teiche, in den dichten Wasserhahnenfußbänken, die im See treiben, wimmelt es von Schmaljungfernlarven, und wenn die warmen Sommertage kommen, hängen überall an den Halmen und Blättern die leeren, durchsichtigen, weißlichen Nymphenhüllen, und bei stillem Wetter flirrt und flimmert es um alle Büsche. Es sieht dann aus, als ob lauter goldgrüne, himmelblaue und rubinrote Nadeln in der Luft umherfliegen, denn viel dicker als Stecknadeln sind die Leiber der Schmaljungfern nicht, und ihre Flügelchen sind so zart, daß sie in der Sonne nur wie ein Schimmer wirken.

Es sind niedliche Tänzer, die Schmaljungfern, schüchterne Schweber, ganz von Sonne und Windstille abhängig. Wenn das Wetter warm und die Luft still ist, leben sie auf und flirren um die Büsche; bezieht sich der Himmel, versteckt sich die Sonne, weht der Wind kühl, dann hängen sie mit fest an den Leib gedrückten Flügeln still und traurig an den Blättern.

Sie jagen auch anders als die großen Wasserjungfern, sie erhaschen ihre Beute nicht im Fluge. Sie flattern um die Zweige der Büsche, und wo sie eine Blattlaussiedlung erspähen, da lassen sie sich nieder, pflücken die saftigen Tierchen ab und verzehren sie. Da Tausende von ihnen in den Büschen und im Grase umherschwirren, so wird durch sie tüchtig dafür gesorgt, daß die Blattläuse nicht überhandnehmen. Auch die eben ausgeschlüpften, zarten, winzigen Raupen haben in ihnen böse Feinde.

Doch auch ihnen selber mangelt es nicht an Nachstellung. Wenn sie dicht über den Boden hinflirren, werden sie von Fröschen fortgeschnappt, die Eidechse erhascht sie im Sprunge, die Waldmaus greift sie, wenn sie im Grase schlafen, und allerlei Vögel stellen ihnen nach. Ihre schlimmsten Feinde aber sind die Spinnen; ist das Netz auch noch so zart, die leichte Schmaljungfer bleibt darin hängen, und in allen Spinnenweben an dem Graben entlang schimmern ihre silbernen Flügelchen und blitzen ihre himmelblauen, goldgrünen und rubinroten Leiber in der Sonne.

Daneben aber flirren die dahin, die den Spinnen entgingen, in lustiger Liebesjagd. Hier fährt ein goldgrünes Weibchen hinter einem dunkelen, blaugeringelten Männchen her, dort hat ein glührotes Männchen das düstere Weibchen mit der Liebeszange gefaßt und flattert mit ihm dem nächsten Blatte zu, da bildet ein Pärchen eine seltsame Schlinge, darunter zwingt ein Männchen das Weibchen, ihm zu Willen zu sein, und auf jenem Blatte sträubt sich ein Weibchen mit wildem Geflatter gegen die Liebkosungen eines Männchens, das nicht von seiner eigenen Art ist.

Seltsam ist die Liebe der Libellen, ganz seltsam. Mit den Beinen faßt das Männchen das Weibchen am Rückenschild, und wenn es ihm nicht mehr entgehen kann, dann packt die sonderbare Zange, die es am Ende des Leibes trägt, den ersten Brustring des Weibchens. Hin und her schiebt der Leib des Männchens das Weibchen, heftig flattern beide, aber schließlich wird das Weibchen von der Erregung des Männchens angesteckt, es krümmt den Hinterleib nach unten, schiebt ihn unter seinen Beinen her, nähert das Ende seines Leibes der Brust des Männchens und vereinigt sich mit ihm. So bildet das Pärchen eine merkwürdige Figur, eine eigenartige Schleife; des Männchens Hinterleibspitze umfaßt den Rücken des Weibchens, und dessen Leibesende ist mit der Unterseite des Vorderleibes des Gatten vereinigt.

Eine Wolke richtet sich vor der Sonne auf; mit einem Schlage ist das Geflirre und Geblitze zu Ende. Matt, der Kraft beraubt, fallen die zierlichen Tiere auf die Blätter und bleiben an den Halmen haften, den Leib wagerecht ausstreckend und seine Farbenpracht mit den Flügeln verhüllend. Auch hierin ähneln sie den anderen Jungfern nicht, die mit gespreizten oder emporgerichteten Schwingen ruhen. Sie aber dürfen das nicht; zu zart sind sie, und die Brise, die die Wolke brachte, würde sie in das Wasser wehen, wo die Ukeleis auf sie lauern.

Doch die Wolke ist schon wieder fortgezogen; eins nach dem anderen von den Silberstäbchen lüftet die Flügel, und wieder blitzt und funkelt es rot und blau und grün um die Erlenblätter und Grashalme, von neuem beginnt das Getändel und Gekose, fängt der feenhafte Hochzeitsreigen der märchenhaften Tierchen an, die jeder Mensch gesehen hat, die aber keiner kennt, mag er sie auch Tag für Tag vor Augen haben.

Es lohnt sich aber schon, sich auf den Grabenrand zu setzen und ihnen zuzuschauen für den, der Augen hat, sich an Schönem und Prächtigem zu freuen, und wenn es fein und klein ist. Dieses Tierchen hier mit den silbernen Flügeln, jeder vor der Spitze zierlich gefleckt, und dem rubinroten, goldgrün endigenden Leibe, es hat soeben mit den rotfunkelnden Augen eine Blattlaus erspäht und sie mit Behagen verspeist. Jetzt putzt es sich die Kiefer und die Taster und flattert dahin, wo schon ein halbes Dutzend Männchen ein Weibchen umbalzen. Zierlich, wie die Tiere selbst, sind auch ihre Liebeskämpfe; ein bißchen zorniges Flügelgeruschel, ein klein wenig Anrempelei, dann ist das Duell zu Ende, der Besiegte flattert weiter, ein anderes Weibchen zu suchen, und der Sieger müht sich um seine Schöne, bis sie so will, wie er es meint.

Vielerlei Arten gibt es von diesen reizenden Wesen; hier am Graben flattern allein sieben bis acht durcheinander, und da die Weibchen anders gefärbt sind als die Männchen, so ist der Farbenreichtum groß. Da sind welche, deren Leiber fast ganz himmelblau mit schmalen schwarzen Binden sind, bei anderen sind die dunklen Bänder breiter, bei einer dritten Art haben sie sich so ausgedehnt, daß nur schmale blaue Ringe übrigblieben. Ähnlich ist die grüne Farbe bei den Weibchen verteilt. Auch die Färbung der Augen ist verschieden; bei einigen sehen sie wie rote, bei anderen wie grüne, bei der dritten Art wie hellblaue und bei der vierten wie goldgelbe Glasperlen aus, oder sind gar zweifarbig halb grün, halb rot.

Aber wer sieht das und wer sammelt Libellen? Man sammelt Käfer ohne Zweck, denn die deutschen Käfer sind gut erforscht, man sammelt Schmetterlinge, ohne daß es viel Sinn hat, denn wir kennen ihre Verbreitung gut. Die Verbreitung der deutschen Wasserjungfern ist aber noch wenig bekannt, und ein aufmerksamer Forscher könnte manche wichtige Tatsache feststellen. Es gibt Arten, die erst von wenigen, weit voneinander entfernten Gegenden bekannt sind, und manche Lücke unseres Wissens ist noch auszufüllen, ehe wir die Gründe erkennen, warum diese Art nur dort und jene nur da vorkommt.

Auch die Lebensweise dieser Tiere ist zum Teil noch wenig genug erforscht, vor allem die Fortpflanzung und auch die Ernährung, und von vielen Arten kennt man die Larven noch nicht. Dabei ist es so leicht, sie zu halten und zur Entwicklung zu bringen. Ein Standglas mit einigen hübschen Wasserpflanzen, eine Zierde für das Fenster oder den Blumentisch, ab und zu eine Fliege, einige Daphnien oder bei den Larven der großen Arten ein Regenwurm, das ist alles, was diese Tiere verlangen, um zu gedeihen und sich zu entwickeln.

Obgleich sie nicht sehr beweglich sind, uninteressant sind sie darum noch nicht. Es ist ganz lustig anzusehen, wie eine Libellenlarve geduldig wartet, bis ein kleines Tier ihr naht, oder wie sie, dauert es ihr damit zu lange, sich an die Beute heranpirscht und sie erfaßt. Wenn eine große Larve ein starkes Beutetier erwischt hat und dieses sich wehrt, dann krümmt sie den Hinterleib über den Rücken nach dem Kopfe zu und führt damit einen Stoß nach dem Opfer, es mit einem kräftigen Wasserstrahle aus den Darmkiemen betäubend.

Dann sitzt sie vielleicht einen Tag stumpfsinnig da, ohne sich zu rühren und ohne die Futtertiere, die ihr dicht vor dem Kopfe umherschwimmen, zu beachten. Am anderen Tage sieht sie nicht mehr so trübe gefärbt aus; ihr Rücken weist ein scharfes Muster auf, und ihre Beine sind hell und dunkel geringelt. Sie hat sich gehäutet; über ihr in den Ranken des Hornkrautes hängt die leere, durchsichtige Hülle. Ein tüchtiges Stück gewachsen ist die Larve und heißhungrig und raubgierig. Die Wasserflöhe genügen ihr nicht mehr; sie dreht den Kopf hin und her, ob nicht wieder ein Regenwurm angeschwommen kommt. Sie merkt die leise Erschütterung, die der Ärmel des Menschen, der den Rand des Glases streifte, hervorbrachte, und sie weiß, was das bedeutet. Schnell dreht sie den Kopf nach der Seite und erblickt den Wurm, der sich zwischen den Ranken hin und her windet. Lange besinnt sie sich; endlich rückt sie vor, aber langsam, sehr langsam geht das, und nun ist sie doch zu spät gekommen, denn ehe sie dicht genug bei ihm ist, sank er auf den Sand. Wieder muß sie sich lange besinnen; dann klettert sie mit dem Kopfe nach unten dem Wurm nach, der auf dem Sande umherkriecht. Jetzt ist sie dicht bei ihm; die Fangmaske kommt unter dem Kopfe hervorgeschossen, und der Wurm hängt zwischen den Kiefern, die ihn langsam und sicher zerreißen.

Sie sind nicht so dumm und so langweilig, diese Tiere, wie es den Anschein hat. Setzt man Schmaljungfernlarven in ein Glas, das ihren Todfeind, eine Larve der großen Art, beherbergt, so verstecken sie sich in den dichtesten Quirlen des Hornkrautes und betreiben nur die Anstandsjagd auf Daphnien, Cyklopse, Mückenlarven und junge Flohkrebse. Sind aber nur ihresgleichen in dem Gefäße, so haben sie es bald heraus, daß sie keinen Feind zu fürchten haben, und sind die Futtertiere spärlich, so gehen sie auf die Pirsche, kriechen auf dem Sande am Boden und an den Glaswänden umher, daß man mit dem Vergrößerungsglase alle Gefäße in ihren durchsichtigen Leibern deutlich sehen und genau beobachten kann, wie sie die Mückenlarve zerreißen und verschlingen.

Nicht nur das, was groß und auffallend ist in der Natur, ist der Beachtung wert, auch das Kleine und Feine und das, was in der Verborgenheit lebt, und reizt es nicht zum sinnlosen Sammeln und Töten, so lockt es zur liebevollen Beobachtung und lohnt die Zeit, die man damit zubrachte, durch manchen unbeobachteten Vorgang, der mehr wert ist als ein Kasten voll dürrer Falter oder trockener Käfer.

 


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