Hermann Löns
Aus Forst und Flur. Vierzig Tiernovellen
Hermann Löns

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Auf der Wanderschaft

Libellula quadrimaculata L.

Heute wird es noch heißer, als es gestern und vorgestern war; die Luft hat sich über Nacht kaum abgekühlt; sie ist geladen mit Hitze. Ein Tag ist es für alles, was die Sonne liebt, ein Bienentag, ein Faltertag, ein Schwalbentag; hoch ist der Himmel und wolkenlos, und ein weicher Wind geht über das Korn.

Hoch im hellen Blau spielen die Schwalben; sie haben es heute gut. In der letzten Woche, als der Himmel grau war und ein grämlicher Wind heulte, mußten sie sich, dicht an der Erde, hinter den Hecken und um die Kronen der Bäume flatternd, mühsam ihr Futter zusammensuchen.

Jetzt ist alles anders. Alles, was Flügelchen hat und den Tag und die Wärme liebt, kam hervor aus Moos und Mulm, Rohr und Ried, Gras und Gesträuch, entfaltete die Schwingen und ließ sich emportragen von der lauen Luft, höher, immer höher, und mit den Kurzflüglern und Rapskäfern, Mückchen und Fliegen stiegen die Schwalben empor, und nun jagen sie dort oben nach Herzenslust.

Auch den Schmetterlingen gefällt der blanke Tag. Über der Wiese, aus der Hahnenfuß und Kuckucksnelke eine grüngelbroten Teppich machten, ist ein lustiges Getümmel. Weißlinge, Bläulinge und Lieschgrasfalter tanzen bunt durcheinander, die bunten Widderchen schwärmen, Schwalbenschwänze schweben, am Raine sausen die Karpfenschwänze hin und her, und um die zerbohrten Pappeln fahren die Glasschwärmer.

Überall ist außerdem ein eifriges Summen und Brummen, Schwirren und Flirren; alle Bienen und Fliegen, Wespen und Hummeln sind unterwegs, denn allerorts ist der Tisch gedeckt. Um die Brombeerblüten geht es zu wie um den Tanzplatz beim Schützenfest; auf den Dolden des Schneeballes drängt es sich wie um die Würfelbuden beim Jahrmarkte; die Bienen wissen nicht, welche Blüte sie zuerst besuchen sollen, denn zu groß ist die Auswahl; die Hummeln brummen vor Vergnügen vor sich hin, und die Schwebfliegen führen vor lauter Wonne ihre wildesten Tänze auf. Selbst der behäbige Pappelbock fühlt sich veranlaßt, die Flügel zu lüften, und sogar der dicke rote Blattkäfer läßt sich zu einem Fluge herbei, denn wenn ringsumher alle Heuschrecken fiedeln, dann kann man schlecht widerstehen. Die Dorngrasmücke findet auch, daß heute ein Prachttag ist; alle Augenblicke schwingt sie sich singend aus ihrem Brombeerbusche in die Luft, und das Weißkehlchen, das in den Brandgrasgewirr bei dem Weidenbusche wohnt, macht es genau so. Sogar das Dorndrehermännchen, das sich meist für viel zu vornehm hält, um zu singen, fängt mit einem Male an zu zwitschern, denn so gut, wie heute, ist es ihm lange nicht gegangen; auf dem dürren Schlehenzweige hat es schon für mindestens drei Tage Vorräte an Käfern und Heuschrecken aufgespießt, damit es ihm nicht wieder so gehen soll wie in der vorherigen Woche, wo es zufrieden war, wenn es schließlich irgendwo ein mageres Fröschchen erwischte. Heute aber ist es anders; da ist eine dicke Hummel, hier ein fetter Käfer, dort eine leckere Heuschrecke. Es läßt sich heute schon leben.

Aber die große Wasserjungfer, die dort in so sonderbar stetigem Fluge einherzieht, muß er doch noch haben; schnell flattert er ihr nach, holt sie ein, faßt sie und fliegt mit ihr nach seinem Dornenzweige. Eine Weile hält er sie noch im Schnabel, dann spießt er sie neben dem blanken Laufkäfer, wippt zufrieden mit dem bunten Schwanze hin und her und fängt wieder zu singen an. Aber da ist ja schon wieder eine Wasserjungfer, ganz dieselbe Art, und sie fliegt in derselben Richtung und in derselben stetigen Weise. Der Würger fliegt hin und holt sie sich auch. Und eine dritte spießt er auch noch auf, aber als er dann aufsieht, da fliegt schon wieder eine dahin, und noch eine, und jetzt zwei, und dann drei, und immer mehr; die ganze Luft ist voll davon.

Hoch oben in der Pappel sitzt der Turmfalke. Ab und zu schießt er herab, rüttelt über der Wiese oder läßt sich in ihr nieder, um mit einer Heuschrecke oder einem Käfer wieder nach seiner Warte zu fliegen, sie zu kröpfen und wieder zu lauern, bis er wieder eine Beute erspäht. Die Libelle kommt ihm gerade recht; ehe sie ihn erblickt, ist er über ihr und greift sie. Kaum hat er die hinabgewürgt, da kommt schon wieder eine an, und eben hat er sie gefaßt, da ist noch eine da und hinter ihr abermals eine, und es will damit kein Ende nehmen, Libellen, nichts als Libellen, neben- und hinter- und übereinander, alle von derselben, großen, vierfleckigen, grünköpfigen Art, alle nach derselben Richtung in derselben rührigen Weise fliegend, wie es sonst nicht Sitte bei ihnen ist. Ebenso verdutzt, wie der Würger, sieht der Falke ihnen nach.

Und ebenso verblüfft sind die Menschen des Städtchens. Wasserjungfern sind sie ja gewohnt, sehr viele sogar, denn um die Zeit, wenn die Tiere flugreif geworden sind, wimmelt es am Ufer von ihnen, und mitten in den Straßen der Stadt trifft man sie oft an, fliegend oder ermattet an den Hauswänden hängend. Das sind aber zumeist andere, mit dünnen, schwarz und gelb gemusterten Leibern, und nicht diese Art, und selbst wenn viele von ihnen da sind, in solchen Massen sind sie noch nie gekommen, und sie flogen auch nie wie diese hier, alle in derselben Richtung und in einem geschlossenen Schwarme, der über fünfzig Fuß breit und an zehn Fuß hoch ist, und der anscheinend gar kein Ende nehmen will, denn als die Jungens zur Schule gingen, erzählten sie dem Lehrer schon davon, und jetzt, wo die Frühstückspause ist, fliegen sie noch immer und in noch größerer Menge.

Die Jungens vergessen ganz ihre Butterbrote, denn so etwas haben sie noch nie erlebt; ganz unheimlich kommt ihnen die Sache vor. Sie versuchen die Tiere zu zählen, aber das geht nicht; Tausende und Tausende sind es, die über den Schulhof hinwegziehen, doch so hoch, daß das Werfen mit den Mützen und Hüten sich nicht lohnt. Eine Viertelstunde dauert die Pause, und als sie aus ist, ist noch kein Ende des Libellenfluges abzusehen. Der Lehrer, der auch noch nie einen solchen Flug erlebt hat, sieht ein, daß es mit dem Mathematikunterricht heute nichts gibt; die ganzen dreißig Jungens haben die Augen, statt auf der Tafel, bei den Fenstern, und die so sitzen, daß sie nicht hinaussehen können, die flüstern den anderen alle Augenblicke zu: »Fliegen sie noch immer?«

Der Lehrer lächelt; ihm wäre es nicht anders gegangen, als er noch ein Junge war, und so macht er mit der Mathematik Schluß und holt die Naturgeschichte aus dem Schranke und trägt den Schülern über die Wasserjungfern und ihre großen Wanderflüge vor, die schon oft beobachtet sind, von denen man aber nur weiß, daß es meistens die vierfleckige Art ist, die in solchen Mengen auftaucht, daß aber Ursache und Ziel dieser Auswanderungen noch unbekannt sind, denn bestimmte Gesetze über die Rolle, die der Wind dabei spielt, hat man noch nicht herausfinden können, und auch für den heutigen Flug fehlt jede Erklärung. Man könnte vielleicht denken, die Libellen fühlten, der See könnte nicht alle die Millionen von Larven ernähren, wenn die unzähligen Tiere in dem See ihre Eier ablegten; aber das sei nicht der Fall, weil der See Milliarden von winzigen Krebstierchen, Larven, Würmern und Jungfischen enthalte; austrockenen könne er auch nicht, weil er zu starke Quellen habe, und sonderbar sei es, daß die Libellen nicht nach dem nächsten, noch größeren See, sondern in einer Richtung flögen, in der auf Meilen hin gar keine Seen lägen.

Die einzige Erklärung, die es gäbe, sei die: die kalte Witterung der letzten Wochen habe das Ausschlüpfen der Wasserjungfern verzögert. Nun sei mit einem Male die starke Hitze eingetreten, und es habe eine Massenentwicklung stattgefunden, und es sei eine alte Erfahrung, daß, wenn eine Tierart in außergewöhnlicher Menge auftrete, sie Neigung habe, zu wandern, wie man es bei dem Heerwurm, dem Lemming und dem Baumweißling beobachtet habe, und daß dann diese Massen sich zusammenschlössen und alle nach derselben Richtung wanderten. Warum sie das aber täten, das wisse man nicht.

Als es Mittag läutete, hatten es die Jungens noch eiliger als sonst, und fast alle machten den Umweg am See vorbei, ehe sie nach Hause gingen, denn vom See kam der Libellenzug her, und auch der Lehrer ging zum Seeufer. Aber dort gab es auch keine gute Erklärung für die seltsame Erscheinung. Zwar saßen überall am Ufer, an den Binsen und an Rohr und Schilf, an den Balken der Waschbänke, den Wänden der Fischerboote die leeren Larvenhüllen, und auf dem blauen Tongrunde des flachen Seeufers krimmelte und wimmelte es von breiten, flachen Larven, und überall sah man Wasserjungfern, die eben die Hülle verließen, und andere, die frisch ausgeschlüpft waren und mit schlaffen, farblosen Flügeln am Halmen und Treibholz hingen, und andere, die den ersten Flug wagten; aber der Hauptflug kam von der anderen Seite des Sees, wo die großen, flachen, kahlen Buchten waren.

Quer über den Spiegel des Sees kamen sie geflogen in fünfzig Fuß breiten, zehn Fuß hohem Bande, das so scharf abgegrenzt war, daß nur ganz selten einmal ein Stück außerhalb der Reihe flog. So wie sich der Zug dem Ufer näherte, erhoben sich die frisch ausgeschlüpften Stücke, die schon kräftig genug waren, und reihten sich ein, aber immer nur, wenn sie zu der vierfleckigen Art gehörten, denn es flogen auch solche mit den gelben Leibern, die aber dem Schwarme auswichen und unter ihm herjagten, denn er hielt sich immer in Manneshöhe über dem Wasserspiegel und hob sich noch höher, als er die ersten Häuser der Stadt erreichte, um sich wieder etwas zu senken, wenn er die Stadt hinter sich hatte. Hätte der Zug seine Richtung ein klein wenig nach rechts genommen, so hätte er nicht über die Häuser zu fliegen brauchen, sondern wäre gleich im freien Felde gewesen; und noch eins war merkwürdig, die Tiere flogen ganz anders als sonst, wenn sie am Ufer auf- und abjagten, so ruhig, so stetig, und so gar nicht hastig. Auch sah man nicht, daß auch nur ein einziges Stück raubte, trotzdem es an Fliegen, Haften und anderem Getier durchaus nicht mangelte; auch waren alle in demselben Alter, denn die, welche die Leute mit langen Stangen, an die sie Zweige gebunden hatten, herunterschlugen, die waren alle so frisch und hatten so schimmernde Flügel, daß man es ihnen ansah, daß sie alle erst an diesem Tage ausgeschlüpft waren.

Den ganzen Tag über dauerte der Flug; erst als die Sonne unterging, nahm er ab, und an allen Hauswänden, an allen Bäumen, Hecken und Zäunen hingen die Tiere die Nacht über; als aber der Morgen kam und die Sonne über dem See stand, erhoben sie sich und schlossen sich dem Zuge an, der wieder über die Stadt zog; er war immer noch stark, wenn auch nicht mehr so wie am Tage vorher, und noch am Tage darauf ging ein Zug Libellen über die Dächer, der noch schwächer war, und einzelne flogen auch am vierten Tage noch in der alten Richtung, doch fielen sie kaum mehr auf.

Weiterhin im Lande, in der Richtung des Zuges, waren die großen Massen von Libellen auch beobachtet, wo aber das Ende des Zuges war, wo er sich verteilte, das erfuhr man ebensowenig wie in früheren Fällen, und unter der Bevölkerung des Städtchens ging noch lange des Gerede von den vielen Libellen, und eine alte Frau, die die Karten legte und das Vieh besprach, prophezeite, daß nun die Cholera oder ein großer Krieg kommen müsse wie jedesmal, wenn sich das fremde Ungeziefer sehen lasse.

Die Cholera kam aber nicht, und ein Krieg brach auch nicht aus, und es war auch gar kein fremdes Ungeziefer, sondern es entstammte dem See bei der Stadt und den vielen anderen Seen und Teichen in der Umgegend. Sie ist ein häufiges Tier, die vierfleckige Jungfer, und wo ein Wasser ist, da jagt sie, und auch über den Feldern und auf den Wiesen. Aber wer achtet auf sie? Den Löwen und den Tiger lernen die Kinder in der Schule kennen, und einige sammeln auch Käfer und Schmetterlinge, besonders die schönen und großen und tragen in kindlichem Unverstande mit dazu bei, die Natur zu verwüsten. Aber die Wasserjungfern, die sie täglich sehen, kennen sie nicht, denn auch der Lehrer weiß meist nicht allzuviel davon, obgleich es ein Tier ist, das seine Bedeutung hat, weil es Unmengen von Ungeziefer vertilgt.

Sehr lehrreich wäre es für die Kinder, richtete der Lehrer ein Schulaquarium ein und führte darin die seltsame, unheimliche Larve vor, damit die Kinder beobachten könnten, wie sie den Bachflohkrebs belauert und den Regenwurm anschleicht oder, an dem Stengel des Wasserhahnenfußes langsam emporkriechend, die Schmeißfliege mit der Fangmaske packt und verzehrt, oder aber, ärgert der Lehrer sie mit dem Bleistifte, durch Ausstoßen und Einziehen von Wasser durch den Darm sich schnell quer durch das Glasgefäß fortbewegt. Die Kinder können beobachten, wie sie sich häutet, wie dann die Nymphe entsteht, die im Gegensatze zu der Larve Flügelscheiden aufweist, wie die Nymphe freßunlustig wird, das Wasser verläßt und aus dem plumpen, unheimlichen Wesen die schlanke, schöne Jungfer entsteht, wie sie sie täglich am Seeufer und auf den Wegen beobachten können.

Mit ganz anderen Augen würden die Kinder ihnen dann nachsehen, und später, wenn sie groß sind und einen Libellenflug erleben, würden sie wissen, daß Seuche und Kriegsgefahr andere Ursachen haben als die flinken Flatterer, die am Seeufer hin und her flittern.

 


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