Hermann Löns
Aus Forst und Flur. Vierzig Tiernovellen
Hermann Löns

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Die Kohlmeise

Die Köchin rüstet sich dazu, die Weihnachtsgans zurechtzumachen. Sie stellt die Schale für die Abfälle auf die Anrichte, legt das Messer zur Hand und holt die Gans, die unter dem Küchenfenster hängt, herein.

Schon will sie daran gehen, den Braten ofengerecht zu machen, da werden ihre Augen ganz groß, und ihr pausbäckiges Gesicht nimmt den Ausdruck maßlosester Entrüstung an. Ganz tief bückt sie sich auf den Braten herab und sieht mit Entsetzen, daß an vielen Stellen die schöne fette Haut abgefressen ist, und daß sich an der Brust Löcher befinden, die tief in das Fleisch hineingehen. Entsetzt schlägt sie die derben Hände zusammen und läuft zu der Hausfrau, der das Unglück zu melden. Die macht auch erst ein langes Gesicht, lacht dann aber und meint, dann müßte ein wenig geflickt werden; unappetitlich wäre der Braten nicht weiter, denn Vögel wären daran gewesen, nicht vielleicht Ratten oder Katzen.

Während die Köchin darangeht, mit Nadel und Faden den Schaden wieder gutzumachen, schnurrt ein Vogel vor das Fensterbrett, sieht nach dem Haken, an dem acht Tage lang die Gans hing, ruft einige Male »Pink pink« und stößt dann, als er seinen Futterplatz leer findet, ein heiseres Wutgelächter aus. Laut klingt es: »Trärrärrärrärr«, daß die Köchin erstaunt hinaussieht. Aber sie denkt nicht daran, daß dieser hübsche kleine Vogel mit dem schwarzen Köpfchen, den weißen Bäckchen, dem weiß und grün gefleckten Nacken und der goldgelben, schwarz gestriemten Weste, der da so munter hin und her springt, der Bratenverderber gewesen sein könnte, denn mit dem kleinen Schnäbelchen, denkt sie, solche Löcher zu hacken, das ist wohl nicht gut möglich.

Die Kohlmeise ist derweilen in den Garten hinuntergeflogen. Auf dem toten, verpilzten Aste des Pflaumenbaumes läßt sie sich nieder, lockt, lacht, ruft, schnurrt in den Schneebeerenbusch und von da in den Birnbaum. Da gibt es etwas für ihren Schnabel. Um den einen Zweig zieht sich eine längliche, glatte, runde Walze, die Eierwalze des bösen Ringelspinners. Mit zähem Leim hat der Spinner Ei an Ei gekettet, so daß die Walze aus einer festen, harten Masse besteht. Keine Grasmücke, kein Baumläufer, kein Goldhähnchen wird damit fertig. Für die Kohlmeise ist es aber ein Vergnügen, Ei um Ei loszumeißeln, und ehe eine Viertelstunde vergangen ist, ist die Eierwalze verschwunden, und im nächsten Mai wird kein Raupennest den Baum verunstalten.

Nicht weit von dem Garten liegt der Wald. Dahin schnurrt die Meise jetzt. Hier, in dem Winterlaube der jungen Buche, klettert sie herum, daß das rostbraune Laub rasselt. Jedes zusammengerollte Blatt wird aufgerollt und, geht das nicht, auseinandergehackt. Da ist ein Häufchen Schmetterlingseier. »Szi ßi da da da«, lacht die Meise und pflückt ein Ei nach dem anderen herunter. Und dort sitzt, im dichten Gespinst verborgen, eine Puppe. Die wird aus ihrem Lager gegriffen und freigelegt. Auf einem Eichenaste nimmt die Meise Platz. Die Puppe hält sie zwischen den Zehen und hämmert mit dem kurzen, scharfen Schnabel darauf herum, daß die Fugen sich lösen. Und dann zieht sie den leckeren Inhalt heraus und verspeist ihn, fröhlich dabei lockend und kichernd.

Ein lauter Ruf ertönt aus dem Inneren des Waldes, ein helles »Jück, jük, jück«. Prrr, schwirrt die Meise davon, denn sie weiß, was das bedeutet. Sie findet Gesellschaft. Geführt von einem schwarzweißroten Spechte, sucht dort ein Meisentrupp das Holz ab. Das lockt und ruft und piept und zirpt, lacht und kichert, pfeift und kullert, rasselt durch das Dürrlaub, raschelt an der Rinde, schnurrt und burrt, klettert hier, hämmert da, pickt dort, hängt überkopf an den Zweigen, zimmert an den Ästen, guckt hinter jede Rindenspalte, schaut in jede Borkenritze, erfüllt die ganze Waldecke mit Lärm und Farben. Allen voran schnurrt der bunte Specht, bleibt am einem Hornzacken hängen, rutscht um ihn herum, meißelt mit kräftigen Schlägen, daß Rindenstücke und Flechtenkrusten in den Schnee bröckeln, legt Käfer und Larven bloß, sticht sie mit der Harpunenzunge an und schlingt sie herunter. Unter ihm in der Eiche toben ein Dutzend Kohlmeisen herum. Überall leuchten ihre hellen Westen, blitzen ihre weißen Backen. Hier zimmert eine an einem Rindenrisse herum, in dem Schmetterlingseier sitzen, dort legt eine andere einen Käfer frei, der unter der grauen Flechte versteckt sitzt; die dritte meißelt aus einer Knospe den Wurm heraus, eine vierte hämmert eine Buchennuß auf, die sie in einen Rindenspalt klemmte. Andere hüpfen auf der Erde umher, suchen im Moose und im Fallaube nach erstarrten Käfern und Raupen, oder klopfen die Rinde von den modernden Ästen, um Larven und Käfer zu entdecken. Und ebenso machen es ein halbes Dutzend Sumpfmeisen, ebensoviel Tannenmeisen, Haubenmeisen und Blaumeisen, während ein Kleiber es dem Spechte gleichtut und ein Baumläufer stumm um den Stamm der Eiche rutscht und mit dem dünnen, krummen Schnäbelchen in allen Ritzen nach Ungeziefer stochert. Die zierlichen Schwanzmeisen aber kobolzen in dem dünnsten Gezweige umher und suchen nach Schmetterlingseiern, und ebenso machen es die winzigen Goldhähnchen, deren schüchternes Gepiepe aus allen Kronen erklingt. So huscht die bunte Schar hinter dem Spechte her durch den Wald und sorgt dafür, daß im Frühling nicht allzuviel Wickler und Borkenkäfer, Spinner und Spanner erscheinen und dem Förster Ärger und dem Staate Schaden verursachen.

Wenn es dann Frühling wird, die Sonne schon ab und zu Kraft bekommt, dann wird die Kohlmeise lustig und heiter. Sang sie bisher etwas betrübt: »Spinn' lütting, spinn' lütting«, so pfeift sie jetzt aus voller Brust: »Spinn' dicke, spinn' dicke«, und das Bauernmädchen, das hinter dem blühenden Geranienstock das Spinnrad schnurren läßt, lacht, denn es weiß, nun hat die langweilige Winterarbeit bald ein Ende, und die lustige Arbeit in Garten und Feld beginnt wieder. Die Meise denkt daran, daß jeden Tag mehr fette Spinnen und Räupchen und Käfer zum Vorschein kommen, und vergnügt fängt sie sich ein Frostspannerweibchen und verspeist es unter fröhlichem »Pink, pink« und »Szi ßi da da da«. Und dann schnurrt sie auf einen Ast, der in der vollen Sonne liegt, und läutet von da aus den Frühling ein, bald sehnsüchtig und zärtlich: »Zi düi, zi düi«, bald keck und lustig: »Zizidi, zizidi, zizidi«.

Von weiten klingt es ebenso, aber auch heiser und grob: »Szi tärrärrär«. Da lockt ein anderer Meisenhahn und umwirbt ein hübsches Weibchen, das gefallsüchtig auf einem Faulbaume sitzt und leise lockend mit dem Schwanze wippt. Ein Meisenhahn schnurrt heran, nimmt bei ihm Platz und rückt in einem fort, lockend und pfeifend, immer näher. Und dann bläst er die Kehle auf, spreizt die Flügel, fächert den Schwanz, sträubt die Kopffedern und singt ein seltsames Liebeslied, ein sonderbares, leises Lied, wobei er auf dem Zweige hin und her trippelt, sich verbeugt und als dicke, plusterige Federkugel zu der Henne hinflattert. Aus der Eiche kommt noch ein solcher Federball heruntergeflattert, nimmt auch auf dem Faulbaume Platz, singt dasselbe schnurrige Lied, rückt dem Weibchen immer näher, singt und lockt immer zärtlicher, und die Henne sieht bald nach rechts und bald nach links und piept leise und niedlich. Und plötzlich stoßen beide Hähne eine heiseren Schrei aus, fahren aufeinander los, flattern gegeneinander an, hacken mit den Schnäbeln, greifen mit den Krallen, fassen sich und wirbeln als schwarzweißgelber Ball durch die Zweige und in das Fallaub, wo sie sich quiekend und piepend und fauchend und zischend umeinander umdrehen, daß Moosflöckchen, Blätter und Federchen herumstieben. Dann lassen sie sich los, und arg zerzaust flattert der eine davon, und der andere fliegt auf einen niedrigen Ast, ruft schadenfroh, ordnet sein Gefieder, stößt wieder zu dem Weibchen und macht ihr noch eifriger als zuvor den Hof, den Wald mit seinem hellen Singsang erfüllend.

Eines Tages hat das Weibchen ein Baumloch entdeckt, das ihr zusagt. Es sitzt in doppelter Mannshöhe in einer Eiche, ist nach Osten geöffnet, hübsch rund und glatt und so eng, daß nur eine Meise und sonst nichts einschlüpfen kann. Frohlockend ruft sie das Hähnchen herbei, und nun schlüpfen beide abwechselnd aus und ein, zimmern in der Höhle herum, schaffen faule Späne, Spinnengewebe und tote Käfer heraus und tragen Baustoffe heran, Mooszweige, Grashalme, Haare, Wollfäden und Federn. In der Dickung liegt ein verludertes Reh. Das Wildbret hat sich der Fuchs geholt, und überall liegen Fetzen der Haut und Haare herum. Fortwährend fliegen die Meisen in die Dickung und tragen ein Bündel Haare nach dem anderen zu Neste. Dann entdecken sie eine tote Krähe und zupfen ihr die Federn aus, und frech, wie sie sind, holen sie sich von dem Abfallplatze und dem Geflügelhofe der Försterei alles, was sie an brauchbaren Haaren und Federn und Fäden finden.

Das Nest ist kaum fertig, da liegt auch schon ein weißes, rotgetüpfeltes Ei darin, und bald darauf ein zweites, und so geht es weiter, bis zehn Eier beieinander liegen. Den ganzen Tag über brütet das Weibchen, aber über Mittag kommt es hervor, und das Männchen nimmt seine Stelle ein. Einmal versucht eine Eichkatze die Eier zu stehlen, aber das Loch ist zu eng. Ein anders Mal erklettert ein Junge den Nistbaum und fühlt mit einem Finger in das Nistloch. Aber da fährt der Meisenhahn in die Höhe und faucht so fürchterlich, daß der Junge erschrocken zurückprallt, den Halt verliert, zu Boden fällt und geschunden und hinkend von dannen zieht. Die Meisen haben fortan Ruhe.

Eine Woche geht hin und abermals eine, da piepst es dünn und fein in dem Nestloche. Nun haben die Alten kaum Zeit, an sich zu denken. Zehn Schnäbelchen sind zu stopfen, und viele hundert Male am Tag heißt es nun hin und her fliegen und Räupchen und Käferchen, Fliegen und Mücken, Spinnen und Blattläuse herbeitragen. Von früh bis spät sind die Alten tätig, um die zehn kleinen Nimmersatte zu stopfen, und kaum kommen sie dazu, mittags zum Bache zu fliegen und sich zu tränken. Aber die Kleinen wachsen auch auf das beste. Kaum haben sie mehr Platz in der Nesthöhle, und es ist hohe Zeit, daß sie flügge werden.

Endlich sind sie so weit. Erst wagt das eine sich auf den Rand des Nestloches, piepst dort unbeholfen herum und folgt endlich mit unsicherem Fluge dem Lockton der Henne. Mit Not und Mühe erreicht es einen Zweig, krallt sich daran, flattert ängstlich und sitzt schließlich tiefatmend da. Nun schwirrt ein zweites herbei und ein drittes und schließlich alle, und auch das Nesthäkchen wagt den Flug in die Welt, und nach vielen vergeblichen Flugversuchen und Purzelbäumen in das Moos und das Laub finden sich alle zehn Stummelschwänze auf einem Zweig zusammen, rücken eng aneinander und piepsen unaufhörlich nach Futter. Fortwährend schnurren die Alten hin und her und stopfen die immerfort gierende Brut, bis die Kleinen es lernen, ihnen zu folgen.

Nun geht ein lustiges Leben los. Heute wird im Buchenwalde gejagt, morgen in den Fichten; übermorgen treiben sich die zwölf Meisen in dem Unterholze am Waldrande umher, tags darauf tummeln sie sich in den Weiden zwischen Bach und Wiese. Das Nesthäkchen verschwindet spurlos; der Sperber griff es, und als die Familie nach langem Besinnen mit ängstlichen Flügelschlägen die Reise über die Wiesen nach dem fernen Walde wagte, schlug der Lerchenfalke das zweitälteste Stück. Aber die zehn übrigen reisen weiter, tauchen bald im Garten des Forsthauses, bald im Dorfe auf, durchreisen viele Büsche und Wälder und vertilgen Unmengen von Ungeziefer, und schließlich, wie die Kleinen schon lange Schwänze haben und schöne goldgelbe Brüstchen, trennen sich die Jungen von den Alten und versuchen ihr Glück allein. Die Alten streifen, bald allein, bald mit anderen Meisen zusammen, noch eine Zeitlang umher, aber dann fliegen sie wieder zu ihrem Nestbaume am Waldrande bei der großen Stadt hin. Wieder lockt und singt das Männchen zärtlich, wieder besteht es Kämpfe mit anderen Männchen, wieder siegt es. Dann wird das Nest gesäubert und frisch aufgepolstert, und bald sitzt das Weibchen auf dem zweiten Gelege, und Ende Juni sind wieder acht hungrige Gelbschnäbel zu stopfen. Im Juli ist auch die zweite Brut flügge und macht mit den Alten die Reise in die weite Welt, und von da ab streifen sie mit anderen Meisen, Goldhähnchen, Kleibern und Baumläufern, oft geführt von einem bunten Spechte, durch das Land, vertilgen in dem Fichtenwalde die Nonne und den Kiefernspanner, im Buchenwalde Wicklerraupen, im Garten Blutläuse und in den Kohlfeldern die Puppen der Weißlinge.

Wenn der Spätherbst mit Sturm und Regen kommt, den Meisen ist es gleich. Sie sind immer lustig, immer munter und immer hungrig. Not leiden sie nie, auch wenn der Schnee hoch liegt, denn an allen Stämmen und Ästen und Zweigen finden sie Nahrung in Hülle und Fülle, und hier und da findet sich ein Knochen, ein verendetes Stück Wild, ein Bücklingskopf, eine Speckschwarte, und auf den Futterplätzen vor den Fenstern in den Städten sucht man sich Hanf und Mohn. Und hängt irgendwo ein Hase unter dem Küchenfenster oder eine Gans, so gibt es einen fetten Schmaus.

Nur wenn Raureif die Zweige mit dicker Kruste umhüllt, sieht die Tafel mager aus. Aber das dauert nur einen Tag, und dann sind die Zweige wieder frei und bieten Schmetterlingseier zur Genüge, und die grauen Wintermotten fliegen bis zur Mitte des Winters, hier und da findet sich eine Buchennuß, die über einen naßkalten, rauhen Tag hinweghilft, und wenn auch der Sperber ab und zu eine Meise greift oder der Kauz eine schlägt, es bleiben noch immer genug übrig, um Ende Februar den Frühling einzuleiten.

 


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