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Es will Abend werden. Hinter dem Kirchdache ist die Sonne untergegangen, und glührote und blaue Streifen, überschnitten von dem stumpfen Kirchturme, färben den Himmel.
»Abendrot, gut’ Wetterbot’«, denkt der Pfarrer, der, wie jeden Tag um die Sonnensinke, am Fenster seines Arbeitszimmers sitzt, die lange Pfeife, die er schon als Student besaß, raucht und auf den Besuch aufpaßt, der sich um diese Stunde einzustellen pflegt.
Es ist aber weder der Vorsteher noch der Förster, und der Lehrer ist es auch nicht und ebenfalls keiner von den Bauern, der Besuch, den der Pfarrer erwartet, es ist ganz was anderes. Da kommen sie auch schon an, wie des Pfarrherrn freundliches Lächeln anzeigt, und mit einem solchen Lärm und so viel Geschwätz, wie es bei den Dorfleuten sonst gar nicht Brauch ist.
Es ist aber dennoch Besuch aus dem Dorfe, wenn es auch keine Leute sind, die jetzt von allen Seiten herannahen, einzeln, zu zweien oder auch zu dreien und vieren, und einer nach dem anderen huscht in das hohe und dichte Efeugewirre hinein, das die steinerne Gartenpforte überwölbt, und nun zwitschert und piept und quiekt und quäkt und plappert und schnattert es da von lauter Feldspatzen.
Denn die sind es, die der Pfarrer allabendlich um die Schlummerstunde erwartet. Seit dreißig Jahren, solange er hier auf dem Dorfe ist, kommen sie schon und übernachten in dem uralten, birnbaumblättrigen Efeu, und wahrscheinlich schon viel länger, denn der Efeu ist so alt wie das Haus, und das steht schon über hundert Jahre da mit seinem gewaltigen Dache und den Steinvasen aus der bonapartischen Zeit rechts und links von der breiten, von Moos und Algen grün bezogenen Treppe.
Eine Viertelstunde hält das Ruscheln und Rappeln und das Quieken und Quäken in dem alten Efeu an. Ab und zu kommt noch ein Nachzügler, und dann geht das Gezeter von frischem los, oder einer von den kleinen Kerlen saust plötzlich aus dem Efeu heraus, setzt sich in den Birnbaum, schimpft gewaltig und macht dann wieder, daß er in den Efeu hineinkommt, denn die Sonnenmale hinter dem Kirchturme verblassen immer mehr, und vom Walde her macht sich der Nachtwind auf und rührt die Bäume im Pfarrgarten an. Einmal noch ruschelt es, und es zirpt oder zetert, und dann ist es still in dem Efeu.
Im Arbeitszimmer des Pfarrhauses brennt die grünkuppelige alte Studierlampe, und im Dorfe wird es still, höchstens daß ab und zu einmal eine Tür schlägt, ein Wagen dahinknattert, oder ein Hund bellt, oder ein Knecht, der aus dem Kruge kommt, ein Lied flötet. Dann aber rührt sich ein anderes Leben, von dem am Tage wenig zu merken war. Die Schleiereule, die in dem Kirchturme wohnt, kommt aus dem Schalloche gestrichen und schwebt mit lautlosen Flügelschlägen über die Gartenpforte des Pfarrhauses, um zu sehen, ob sie dort nicht eine der Ratten erwischt, die von den Ställen des Kruges gern an der Pfarre vorbei ihren Wechsel nach einem der Bauernhöfe nehmen. Schon ist die Eule an dem alten Efeu vorübergestrichen, da macht sie eine Wendung und streicht auf den dicken, dunklen Blätterklumpen zu, denn es raschelt ganz leise darin. Aber dann streicht sie weiter. Sie weiß, sie bekommt doch keinen von den Schläfern darinnen, denn zu tief und zu dicht ist das Gewirre der Ranken und des harten, starren Blattwerkes. Auch der Hausmarder, der auf dem Kirchboden seine Schlafstelle hat, weiß, wer in dem Efeu schläft; doch ihm ist auch bewußt, daß dort nichts zu holen ist, und als er darum mitten in der Nacht die Mauer des Pfarrgartens entlang hüpft, macht er wohl ein Männchen und schnuppert nach dem Efeudickicht hin, springt dann aber, ohne erst einen Versuch zu machen, einen Spatzen zu erbeuten, auf den Prellstein und folgt den Rattenspuren, und des Pfarrers Kater, der im Dorfe eine Liebesangelegenheit zu erledigen hat, wirft nur einen schiefen Blick nach dem Efeu und huscht weiter.
Die dreißig und mehr Feldspatzen aber haben die Köpfe unter das Rückengefieder gesteckt und schlafen, trotzdem der Wind sich immer mehr aufmacht und gegen Morgen einen tüchtigen Schneefall mitbringt, so fest und ruhig, als säßen sie in ihren Bruthöhlen, und erst, als es hell wird, rappeln sie sich auf, piepsen ein wenig, und einer nach dem anderen fliegt in den Birnbaum, zieht sich sein Gefieder zurecht und sieht zu, wo es etwas für seinen Schnabel zu finden gibt. Zwar liegt der Schnee ziemlich hoch, und allerlei Gesindel, das von Rechts wegen im Dorfe gar nichts zu suchen hat, Finken, Ammern, Haubenlerchen und wer weiß was noch alles, ist von weit und breit zugereist und schmälert den Spatzen die Nahrung. Aber die wissen gut Bescheid und besitzen zudem eine gehörige Menge von Unverschämtheit, wenn sie auch nicht so frech sind wie die Dickköpfe von Hausspatzen. Immerhin wagen sie sich dreist in die Höfe, und wo die Dreschflegel klingen, sind sie da, stürzen sich auf den Kaff, der in den Hof geschüttet wird, und hüpfen kaum zur Seite, hackt einmal ein Huhn nach ihnen. Außerdem kennen sie die Stellen an den Zäunen, wo sich der Schnee nicht hält, und suchen sich da die Samen des Knöterichs, der Melde, der Mäusegerste und des Hirtentäschels, kehren dann beim Kruge ein, denn vor der Haustüre mangelt es nie an Roßäpfeln, in denen manch unverdautes Korn zu finden ist, oder treiben sich zu demselben Zwecke auf der Landstraße herum, besuchen die schneefreien Raine rund um das Dorf, tränken sich bei der Pferdeschwemme am Bache, versammeln sich mittags, wenn die Sonne recht schön scheint, in der hohen Pappel am Feuerteiche und schwatzen dort ein Stündchen, ohne sich um die Elstern zu kümmern, die unter ihnen sitzen, und bringen den Nachmittag wieder mit Futtersuchen zu, bis der Abend herannaht und sie sich zum Schlafen versammeln, die eine Schar in dem Efeu der Pfarre, die andere in dem Storchenneste auf dem Vorsteherhause, die dritte in den hohen und dichten Weißdornhecken der Försterei, und wo es sonst überwindig und sicher ist.
So treiben sie es den einen Tag wie den anderen, immer fröhlich und unverdrossen, selbst wenn es noch so sehr weht und schneit, ohne viel Ungemach auszustehen. Vor dem Sperber, diesem Gaudieb, müssen sie sich allerdings hüten, denn der jagt wintertags liebendgern mitten im Dorfe. Wie der Blitz ist er da, greift einen Spatzen, und ehe die anderen so recht wissen, was sich begeben hat, ist er schon wieder hinter den Häusern verschwunden. Auch dem Käuzchen, das in einem der Schafställe vor dem Dorfe brütet, ist nicht so recht zu trauen. Manchmal kümmert es sich um die Spatzen gar nicht, bis es auf einmal zwischen ihnen ist, einen packt und trotz des Geschimpfes der anderen, die ihm eine Weile nachfliegen, sich mit ihm von dannen macht. Ab und zu kommt es auch vor, daß einer von den kleinen fremden Falken, die im Winter durchreisen, sich in der Dorfmark aufhält, und dann heißt es aufpassen. Im allgemeinen führen die Spatzen aber auch in der rauhen Zeit ein sorgloses Leben, und da sie früh im Jahre mit Brüten anfangen und spät damit aufhören und jedesmal mindestens vier Eier legen, so werden es ihrer eher mehr, denn weniger. Nur in dem einen Jahre, als die Verfügung von Landratsamte kam, daß jeder Hof soundso viele Spatzenköpfe abliefern mußte, weil die Sperlinge überhand zu nehmen drohten, wurden, obgleich die Verordnung eigentlich nur den Hausspatzen galt, auch die Feldspatzen etwas dünn; sie sorgten aber dafür, daß der Ausfall bald wieder wettgemacht wurde, zumal sie meist da brüteten, wo sie nicht so leicht zu bekommen waren, vorzüglich nicht unter den Strohdächern oder sonstwie in den Häusern.
Es gibt ja genug hohle Obstbäume im Dorfe und an der Landstraße und in den Kopfweiden am Feuerteiche und bei den Flachsrottekuhlen und längs des Baches, und so manche von den alten Eichen auf den Höfen bietet auch ein Loch, in dem es sich gut nisten läßt, und dann sind ein Dutzend Storchennester im Dorfe, und in jedem von ihnen brütet ein Dutzend Feldspatzen, ohne sich vor den Störchen zu scheuen. Auch einige von den Starkästen, welche die Bauern aufhängten, haben sich die Spatzen angeeignet und nicht minder zwei von den Meisenkästen, die der Pfarrer in seinem Garten angebracht hat. Zuerst war er ärgerlich und nahm sich vor, die Spatzennester samt den Eiern hinauszuwerfen; aber da sah er eines Tages, wie einer von den Rotköpfen an dem Stamme des Apfelbaumes emporkletterte und fleißig die scheußlichen Blutläufe vertilgte, und deswegen ließ er sie wohnen, wo sie wollten, zumal sie ihm nicht, wie die Hausspatzen, an seine Kirschen, Erdbeeren und Weintrauben gingen, sich auch nicht durch das Abbeißen und Zerfetzen der Salatpflanzen und des anderen Junggemüses lästig erwiesen und auch den Schwalben, die an der Kirche brüteten, die Nester nicht abtrieben. So hängte er lieber noch ein halbes Dutzend Meisenkästen auf, ließ die Spatzen gewähren und stand sich gut dabei.
Zwei von den Nistkästen in dem Birnbaume vor dem Arbeitszimmer des Pfarrers sind von Feldspatzen bewohnt, so daß der Geistliche ganz genau beobachten kann, was sie tun und treiben. Schon um die Mitte des Ostermondes bringen sie die erste Brut auf und können dann weiter nichts tun, als hin- und wiederfliegen und füttern und füttern und füttern, denn die jungen Spatzen haben einen kurzen Darm und eine überaus gesegnete Verdauung. So sehen die beiden Pärchen zu, daß sie das Futter für ihre Brut möglichst dicht bei den Nestern bekommen, und suchen emsig die Obstbäume, die Beerensträucher, die Reben, den Blumengarten und die Gemüsebeete nach Räupchen, Käfern und anderem Geziefer ab, und da ihnen die Feldspatzen, die in dem Storchenneste auf der Kirche nisten, dabei behilflich sind, auch Meisen, Rotschwänze, Fliegenschnäpper, Grasmücken, Gartensänger, Zaunkönige, Bachstelzen und Braunellen, die teils im Pfarrgarten, teils auf dem Friedhofe oder in der nächsten Nachbarschaft ihre Jungen haben, sie darin unterstützen, so weiß der Pfarrer gar nicht, was Käferfraß und Raupenschaden ist, und sein Obst, sein Gemüse, seine Blumen gedeihen auf das allerbeste, und wenn ihm die Spatzen auch an den Sämereien oder sonstwie einen kleinen Schaden anrichten, das läßt er ihnen hingehen und sagt, wenn seine Schwester, die ihm den Haushalt führt, sich darüber beklagt, lächelnd: »Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert, und dem Ochsen, so da drischet, soll man das Maul nicht verbinden.«
Er hat ein gutes Herz, der alte Herr und zwei heiter blickende Augen, die sich an allem freuen, was hübsch auf der Welt ist. Und wenn er sich auch sagt, daß der Trauerfliegenschnäpper, der in der alten Roßkastanie gebaut hat, und der Gartenrötel, der in dem Walnußbaume brütet, deren Geschilpe mit dem Gesange der beiden edlen Vögel zudem keineswegs verglichen werden kann, wie sie so wintertags auf dem Schneebeerenstrauche sitzen, oder bei Sonnenschein in einer Reihe auf der Gartenmauer hocken, ab und zu zwitschern, lustig die rotbraunen Köpfchen drehen, mit den Schwänzchen schnippen, stille sitzen wollen, es aber nicht können, dann findet er, daß es ganz allerliebste, hübsch gezeichnete und dabei so drollige Tierchen sind, und wenn im Frühling ein Männchen vor seiner Angebeteten herumhüpft und schilpt und den Schwanz fächert und die Flügel hängen läßt, als wäre er ein balzender Urhahn, da lacht der Pfarrer oft ganz herzhaft los.
Die größte Freude jedoch hat er an ihnen, wenn die junge Brut so weit herangewachsen ist, daß sie die Nistkästen verläßt und sich auf den nächsten Zweig wagt und da tolpatschig herumhampelt, bis sie festen Fuß gefaßt hat und nun, eins neben dem anderen, mit dem Stummelschwänzchen wippt, unaufhörlich piepst und fortwährend hin und her äugt, bis eins von den Alten vorbeischnurrt. Dann geht ein heißhungriges Gieren und ein aufgeregtes Gewackel und ein flehentliches Flügelgezitter los, und das von den vier oder fünf oder sechs Kleinen, dem die Räupchen in den gelbrandigen Schnabel gestopft wurden, rückt sich befriedigt zurecht, hebt das Schwänzchen und macht für das Futter, das es in den Magen drückte, Platz; die anderen aber piepsen wehmütig und machen hinter dem abfliegenden Elternvogel lange Hälse und warten, bis die Reihe an sie selber kommt.
Wenn die kleinen Spatzen erst so weit sind, daß sie sich freier auf dem Aste bewegen können, dann dauert es nicht mehr so lange, und sie schnurren im Garten umher, und ein Weilchen später sind sie verschwunden, denn sie haben sich mit den anderen jungen Feld- und Hausspatzen zusammengeschlagen, treiben sich in der Feldmark herum, wo sie sowohl allerlei Gewürm vertilgen aber auch manchen Schaden an der reifenden Gerste anrichten, weswegen der Jagdaufseher, der selber Bauer ist, ab und zu losgeht und mit dem allerdünnsten Schrote in einem von den großen, nach Hunderten zählenden Spatzenschwarm hineinschießt, einmal des Feldschadens wegen und dann auch, weil er auf diese Art leicht zu Futter für seine Frettchen kommt. Aber mit einem Schlage sind die Spatzen dann bis auf einige Paare, die noch Spätbruten haben, verschwunden, und niemand vermißt sie. Sie streichen weit umher, machen sich heute hier nützlich, morgen da unnütz, werden durch den Menschen, den Sperber, durch Anfliegen gegen Leitungsdrähte, Schnellzuglokomotiven und Kraftwagen und wohl auch durch Krankheiten sehr vermindert, und nur ein Teil von ihnen kehrt wieder nach dem Dorfe zurück, tut sich mit den Daheimgebliebenen zusammen und läßt sich abends nach einem der Schlafplätze in den Storchennestern, Hecken oder in den Efeu der Pfarre mitnehmen.
Wenn dann die schweren Regenschauer im Spätherbste herunterkommen und den Spatzen alle Lust nehmen, in der kahlen und öden Feldmark auf Atzung auszufliegen, dann erbarmt sich der Pfarrer ihrer wohl und streut ihnen Krümelchen und Hanfsamen vor das Fenster und freut sich, wenn sie sich mit den Kohlmeisen darum zanken. Er weiß, was er an seinen Spatzen hat. Er ist kränklich und führt ein einsames Leben, das sich zumeist zwischen seinem Hause und der Kirche hin und her bewegt, und seine Blumen und die Vögel in seinem Garten sind außer den Büchern seine einzige Freude.
Wenn aber die letzten Blumen vom Nachtfroste geknickt sind, wenn selbst das Hausrotschwänzchen südwärts gezogen ist, dann sind es nur die Feldspatzen allein, die Tag für Tag den alten Herrn erfreuen, und so streut er ihnen ab und zu Futter und sieht ihnen jeden Abend zu, wenn sie sich in dem Efeu über der Gartenpforte zum Schlafen einschwingen.