Hermann Löns
Aus Forst und Flur. Vierzig Tiernovellen
Hermann Löns

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Sperber

Auf der einen Seite der großen Stadt zieht sich ein großer, schön gepflegter, nach der Stadt zu in bunte Anlagen umgewandelter Wald mit viel Unterholz, buschigen Blößen, Gräben, Teichen und künstlichen Bachläufen hin.

Auf der anderen Seite der Stadt liegt rechts und links neben dem Flusse ein ausgedehntes, teilweise parkartig behandeltes, mit alten hohen Pappeln und Weiden bestandenes Wiesengelände, in dem zwischen künstlichen, von buntem Alpengeblühe überwucherten Felsen künstliche buchtenreiche Teiche liegen.

In dem Walde sind eine Anzahl Kaffeewirtschaften. In einer sitzt ein junges Brautpaar, macht sich verliebte Augen und freut sich über ein Buchfinkenpaar, das vor ihnen zwischen den Tassen herumhüpft und die Kuchenkrümelchen aufpickt. Plötzlich schreit irgendwo eine Amsel auf, in demselben Augenblicke ducken sich die Buchfinken zum Abfliegen, aber da huscht auch schon ein braunes Ding über den Tisch, greift fast gleichzeitig die beiden Finken, und ehe Braut und Bräutigam den Vorgang recht begriffen haben, ist das braune Ding mit den Vögelchen schon verschwunden.

Just zu derselben Zeit sitzen zwei ältere Herren mit ihren Eheliebsten auf einer Bank in den Anlagen jenseits der Stadt, freuen sich über die buntblühenden Alpenpflanzen auf den von der Sonne bestrahlten Kalkfelsen und sehen einem Amselhahne zu, der mit einem gewaltigen Aufwande von hastigen Bewegungen am Rande des Teiches herumstochert. Da kommt ein braunes Ding dicht vor den vier Leutchen vorbeigefegt, saust auf die Amsel zu, packt sie und fliegt damit über den Teich.

Sowohl der glückliche Bräutigam wie einer der beiden alten Herren sind Mitglieder des Vogelschutzvereins und schreiben eine Karte an die Zeitung, in der sie den Vorfall schildern und von dem Vogelschutzverein verlangen, daß er die Ausrottung der Räuber veranlasse. Und wie es meist so ist, regnet es derartige Einsendungen, und der Redakteur weiß schließlich nicht, wo er mit den Nachrichten über die Untaten des Sperberpaares bleiben soll. Vorgestern wurde ihm gemeldet, daß ein Sperber in der Mitte der Stadt aus dem Garten eines Kaffees einen Spatzen gegriffen habe, gestern kommt ein Brief, in dem ausführlich dargestellt wird, wie ein Sperber vor dem Fenster einer Schule einen Rotschwanz fortfing, heute liegen drei Karten mit ähnlichen Meldungen vor, nur daß die Opfer ein Grünfink, ein Buchfink und eine Singdrossel waren, die an belebten Plätzen vor den Füßen der Spaziergänger geschlagen wurden, und zuletzt erscheint ein Mann und erzählt lang und breit, ein Raubvogel sei durch das eine offene Fenster in das Zimmer gekommen, habe ihm einen fingerzahmen Wellensittich von der Schulter genommen und sei durch das andere Fenster damit verschwunden.

Der Vogelschutzverein setzt einen Preis auf die Köpfe der Sperber aus, und die städtischen Waldwärter geben sich die größte Mühe, die Gaudiebe zu erwischen; es gelingt ihnen aber weder, sie selbst zu erwischen, noch den Horst ausfindig zu machen. Es haben sich nämlich ein Sperbermännchen und ein Weibchen zusammengefunden, die mit dem Großstadtleben so vertraut sind, daß sie ganz genau wissen, wie man sich zu verhalten hat, daß man am ungestörtesten da raubt, wo es vor Menschen wimmelt, am sichersten da schläft, wo die Räder und Wagen und Automobile einherflitzen und -rasseln und -donnern, und daß man seinen Horst dort am besten baut, wo recht viele Verbotstafeln im Walde stehen.

So gut sind die Sperber mit dem Großstadtleben vertraut, daß sie den milden Winter über im Lande blieben und gar nicht daran dachten, sich den Gefahren einer Südlands- oder gar Afrikafahrt auszusetzen. Spatzen gibt es in und bei der großen Stadt massenhaft, und Schwarzdrosseln nicht wenig. Rund um die Stadt herum lebten Gold- und Grauammern, Grünlinge, Hänflinge, Stieglitze, und im Walde und in den Gärten waren genug Buchfinken zurückgeblieben. Ab und zu kamen Flüge nordischer Drosseln und Bergfinken durch, auch Kreuzschnabel und Kernbeißer, und an Meisen, Kleibern, Baumläufern und Goldhähnchen mangelte es nie. Zudem barg der Wald viele Häher und viele vom Norden zugereiste Ringeltauben. Und was das Beste war, überall waren Futterplätze angelegt, und da hüpfte und schlüpfte und schwirrte es den ganzen Tag, und auch Mäuse fanden sich stets ein. So konnten die Sperber recht bequem leben.

Vor den Menschen hatten sie gar keine Angst. Wenn auch eine ganze Familie hinter dem Fenster stand und sich über all das bunte Volk freute, das sich auf dem Futterbrette vor dem Fenster gütlich tat, das war den Sperbern gleich. Unverschämt, wie sie waren, strichen sie an den Hausfronten entlang, vermieden klug die elektrischen Leitungsdrähte und holten sich von dem Futterbrette den Spatzen oder die Meise, oder was es sonst gerade gab. So klug waren sie schon, daß sie nicht Tag für Tag dieselben Stellen besuchten. Drei Tage hintereinander raubten sie auf diesem Platze oder in jenem Garten, und dann verlegten sie ihre Raubzüge in eine andere Ecke. Da niemand nach ihnen schoß, denn in der Stadt ging das nicht und im Stadtwalde auch nicht, so wurden sie täglich frecher.

Ausgerechnet der Vorsitzende des Vogelschutzvereins, dessen vogelliebes Herz sich auf alles erstreckte, was ungefähr zu den Singsvögeln gehörte, selbst auf die Spatzen, mußte es sein, der folgenden Streich mit ansah. Er stand mit der langen Pfeife in seinem Garten und sah den Spatzen zu, die mit viel Eifer einen Pferdeapfel auf unverdaute Haferkörner untersuchten. Plötzlich schreien die Spatzen und fliegen durch das eiserne Gitter in seinen Garten. Vor dem Gitter flattert der Sperber hin und her, rutscht an dem Gitter herunter, greift hindurch und zieht in demselben Augenblicke ab, wie der entrüstete Vogelfreund nach ihm mit der Pfeife schlug, was dem Sperber gar nichts, Pfeifenkopf und Abguß aber sehr viel Schaden brachte.

Wutentbrannt berief er eine außerordentliche Hauptversammlung des Vereins, verbreitete sich des langen über den Sperber oder Finkenhabicht, auch Stößer genannt, im allgemeinen und unter Vorlesung der Zeitungsausschnitte über das städtische Sperberpaar im besonderen, schilderte mit glühenden Farben und unter starker Entrüstung den Vorfall, der sich vor seinen, des Vorsitzenden Augen in der letzten Woche abspielte, stichelte ziemlich deutlich unter dem Beifalle der Versammlung gegen die städtischen Forstbeamten, die dem Unwesen nicht zu steuern imstande wären, und richtete an sämtliche Vereinsmitglieder die dringliche Aufforderung, den Horst des Sperberpaares ausfindig zu machen, damit man die Alten beim Horst abschießen oder auf ihm mit dem Nestgarn fangen könne.

Am untersten Ende der langen Tafel saß ein langer, dürrer Mann mit verschossenem Schnurrbart, blätterte in aufgelegten Zeitschriften und grinste, als der Vorsitzende schloß, ziemlich schmutzig in sein Bierglas hinein. Er wußte, wo die Sperber horsteten, wußte sogar im Stadtwalde zwei Horste und weiterhin mehrere, machte aber keineswegs den Mund auf und teilte seine Wissenschaft mit, sondern rauchte langsam und besonnen an seiner Zigarre und dachte dabei: »Das möchtet ihr wohl, meine Herrschaften! Nicht genug, daß ihr Stare im Großbetriebe züchtet, so daß alle anderen Höhlenbrüter allmählich vor ihnen verschwinden, und über die Amseln, diese Salatzerreißer und Eierzerpicker, eure Hände haltet und euch entrüstet, wenn ein Junge einen Spatzen mit der Gummischleuder erlegt, und neulich sogar eine Protestresolution gegen meinen Freund Waldkauz faßtet, weil bei seinem Brutbaume Amselfedern gefunden waren, wollt ihr auch meinen Freunden, den Sperbern, zu Leibe, die brav dafür sorgen, daß die Spatzen, Stare und Amseln sich nicht noch mehr vervielfältigen, als es ohnehin schon der Fall ist. Und wenn sie auch Buchfinken mögen und Lerchen und Goldammern, von denen ist ja auch ein reichlicher Vorrat.« Aus diesen Erwägungen heraus beschloß er, seine Kenntnis für sich zu behalten.

Am anderen Tage, es war ein Sonntag, saß er in aller Frühe dort, wo ringsrum im Stadtwalde die Verbotstafeln stehen, gut gedeckt in der Krone einer Eiche und rauchte seine Zigarre. Dreißig Schritte vor ihm erhoben sich, von dichtbelaubten Eichen versteckt, zwei Fichten, eng beieinander stehend. Zwischen ihnen saß ein unordentlich aussehender Horst. Daraus kamen ab und zu zwei, drei, auch vier wollige Köpfchen, die leise gierten. Dann und wann schwebte ein brauner Schatten heran, lockte mit leisem »Ki-ki-ki«, fußte auf dem Horstrande und ließ etwas fallen, und dann ging im Horste ein eifriges Zerren los. Mit seinem Glas konnte der Mann genau erkennen, was die alten Sperber ihrer Brut zutrugen. Zu allermeist waren es Spatzen; dann kamen Buchfinken, ab und zu auch Amseln, hin und wieder eine Meise oder ein anderer Kleinvogel und mitunter auch eine Maus.

Sehr vorsichtig und heimlich waren die Alten, und auch die Jungen gierten nur ganz leise. Im Frühling hatte der Mann das Sperberpaar bei seinem Minnespiel oft beobachtet. So frech es sonst war, jetzt benahm es sich sehr scheu. Nur dort, wo höchstens einmal die Forstwärter hinkamen, trieben sie sich, und dort riefen sie sich, aber viel leiser als in den Heidwäldern und Berghölzern klang ihr weiches, verliebtes »I-üh«, und niemals fiel es ihnen ein, wie in den stillen Heiden, über dem Bestande zu kreisen. Es waren eben ganz andere Vögel geworden, diese Großstadtsperber, das sah man ihnen schon am Federkleide an. Da war kein schieferblauer Rücken, keine rostrote Weiche, keine weiße, gebänderte Brust zu sehen; das Schlafen auf den verrußten, angeräucherten Bäumen hatte ihr Gefieder tiefgraubraun gefärbt, ganz so wie das ihrer Hauptbeute, der Spatzen.

Am Nachmittage radelte der Mann weit vor die Stadt hinaus, bis in eine hohe Heide, die an eine üppige Bachmarsch stieß. Er schob sein Rad in den Busch und trat vorsichtig in einen dürren Kiefernstangenort, bis er in dessen Mitte war. Dort duckte er sich in einen alten Wacholderbusch, steckte sich seine Zigarre an, legte sein Glas zurecht und sah den Haubenmeisen zu, die vor ihm im Geäste herumhüpften, und richtete ab und zu sein Glas in die Krone einer schlanken jungen Kiefer, in der ein alter Krähenhorst stand, aus der ab und zu ein lautes Gieren erklang. Ein helles, weitschallendes »Kikiki« meldete ihm die Ankunft eines alten Sperbers. Lauter wurde das Gieren in dem Krähenhorste. Da fußte auch schon das Sperberweibchen auf einem Aste, eine Maus in dem einen Griffe haltend. Schön blaugrau war das Weibchen und der rostrote Anflug an den Weichen bewies, daß es ein altes Stück war. Einen Augenblick spähte es umher, dann schwang es sich auf den Horst, verweilte einen Augenblick und strich wieder ab. Fast in demselben Augenblicke klang das »Kikiki« wieder, nur dünner, und das Männchen, ein schmuckes Ding mit hellfuchsroter Unterseite und schön blauem Obergefieder, hakte auf einem Aste auf, äugte umher und warf seiner Brut den Grünling hin, den es in den Klauen hielt.

Noch manches Mal saß der Mann in der Krone der Eiche im Stadtwalde und in dem Wacholderbusche in dem Kiefernstangenorte und beobachtete die beiden Sperberfamilien, die mißfarbigen, schwarzen, beim Horste heimlichen Großstadtsperber, und ihre Gegenstücke, die schmucken, bunten, am Horste sich ganz anders gebärdenden Heidsperber. Als die Brut im Stadtwalde beflogen war, da merkte kein Förster, kein Spaziergänger etwas davon, daß hier fünf Jungsperber Unterricht im Rauben bekamen; im fernen Heidwalde dagegen ging es laut genug her, und das »Gäggäggäg« und »Kikiki« wollte den ganzen Tag über kein Ende nehmen.

Als der Spätherbst herankam, verschwanden die Sperber aus der Heide, und auch die Jungsperber im Stadtwalde verließen ihre Heimat und zogen dem Süden zu. Der alte rußige Sperberhahn und sein noch rußigeres Weibchen aber blieben ihrem Walde getreu, brachten nach wie vor Entsetzen über die Spatzen und Amseln in der Stadt.

War es schlechtes Wetter, dann hockte das eine hier an einer Brandmauer und wartete, bis ein Spatz in die Nähe kam, und das andere lauerte irgendwo anders auf einem versteckten Balkonsimse oder hinter einem Schornsteine, und als der Frühling kam, sahen beide eher wie Dohlen, denn wie Finkenhabichte aus. Auch die Mauser brachte ihnen kein bunteres Kleid, Ruß und Rauch färbten die neuen Federn bald ebenso schwarzgrau wie die alten.

An einem abscheulichen Tage, wo es vom Himmel schneite, was da nur herunterwollte, so daß selbst die Spatzen schon am Nachmittage in ihre Löcher krochen, saß das Männchen hungrig mit eingezogenem Kopfe auf dem Dache des Vogelhauses im Zoologischen Garten und machte lange Augen nach den Finken, Drosseln und Amseln, die unter ihm um den Futternapf herumhüpften. Da entdeckte es, daß an einer Seite das Drahtgitter ein schmales Loch hatte. Es trippelte näher, zwängte erst den Kopf, dann den Leib durch die Ritze, und während die Vögel entsetzlich schrien, schlüpfte es in den Käfig und hub ein großes Schlachten an. Dann als es nichts mehr zu morden gab, schwang es sich auf den Mauervorsprung in die dunkelste Ecke unter dem Dache und schlief mit schlechtem, aber ruhigem Gewissen ein.

Als es hell wurde, langte es sich einige Vögel und kröpfte sie in seinem Dachverstecke. Der Wärter machte ganz runde Augen, als er die Bescherung sah, und bat den Direktor herbei. Man sah das Loch in der Decke und schloß auf einen Marder. Die große Tür wurde aufgeschlossen, der Wärter öffnete sie und wollte gerade in den Käfig treten, da flog der Sperber, nicht ohne den Kernbeißer, mit dem er beschäftigt war, mitzunehmen, an ihm vorbei, und erstaunte Menschenaugen sahen ihm nach.

Dem Weibchen, das viel stärker als das Männchen war, wurden mit der Zeit die Spatzen langweilig, und es sah sich nach lohnenderer Beute um. So hielt es sich in der Nähe der Taubenschläge auf einem Schornsteine versteckt und wartete, bis die Tauben sich irgendwo niederließen. Und dann fing es eine, schleppte sie hinter einen Schornstein und rupfte sie mit Muße. Gelang ihm der Fang nicht, retteten sich die Tauben in den Schlag, so war es frech genug, auf dem Trittbrett aufzublocken und sich zu Fuß in den Schlag zu begeben und alle Tauben, bis auf eine, die es griff hinauszutreiben. In anderthalb Dutzend Taubenschlägen wagten sich nach solchen bösen Erfahrungen die Tauben nicht mehr hinein, und in den Taubensportvereinen gab es lange Auseinandersetzungen über das Thema: »Die Schlagfurcht der Brieftauben.«

Schließlich rannte das Männchen, als es in seiner Raublust einen Kanarienvogel, der hinter einer Fensterscheibe umherhüpfte, kapern wollte, so stark gegen das Glas, daß es betäubt auf die Straße fiel und von einem Jungen gegriffen wurde, der es nach dem Zoologischen Garten verkaufte, wo es aber trotz reichlicher Fütterung mit Spatzen und Mäusen schon nach drei Tagen einging. Das Weibchen nahm ein noch schrecklicheres Ende. Es griff auf einem belebten Platze eine Taube, konnte diese aber nicht schnell genug fortschleppen und wurde, ehe es die Krallen aus ihr lösen konnte, von einem Automobil plattgewalzt. Beide Sperber, die zu so vielen Lokalnotizen Veranlassung gegeben hatten, brachten es in der Zeitung nun auch zu Nachrufen, wenn auch nicht gerade solchen ehrenvoller Art, und im Vogelschutzverein war große Freude.

Nur ein Mitglied des Vereins nahm an dem allgemeinen Jubel nicht teil und beklagte, daß zwei so interessante Räuber, die ihm so manche genußreiche Beobachtung gebracht hatten, aus dem Stadtwalde verschwunden waren. Als aber der April in das Land kam, trieb in aller Frühe dort, wo die vielen Verbotstafeln stehen, wieder ein mißfarbiges, rußiges Sperberpaar seine Minnespiele, und es war ebenso heimlich und vorsichtig wie das frühere, sowohl in seinen Liebesäußerungen als später beim Horste.

 


 << zurück weiter >>