Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einundvierzigste Rune

Wäinämöinen spielt die Kantele und alle lebenden Wesen in der Luft, auf der Erde und in dem Meer eilen herbei, um seinem Spiel zu lauschen 1–168. Die Herzen aller werden dermaßen durch das Spiel bewegt, daß ihnen Tränen in die Augen treten; selbst aus den Augen Wäinämöinens fallen große Tropfen herab auf die Erde und rollen ins Wasser, wo sie in schöne bläuliche Perlen verwandelt werden 169–200.

Wäinämöinen alt und wahrhaft,
Dieser ew'ge Zaubersprecher,
Legt die Finger nun in Ordnung
Und benetzt die beiden Daumen;
Läßt sich auf dem Freudenfelsen,
Auf dem Stein des Sanges nieder,
Auf der silberhellen Höhe,
Auf dem Hügel goldnen Glanzes.

Nimmt die Harfe in die Finger,
Stützt die Wölbung an die Kniee; [10]
Hält die Kantele in Händen,
Redet Worte solcher Weise:
»Komme her um zuzuhören,
Wer bislang es noch nicht hörte,
Wie die ew'gen Lieder tönen,
Wie Schön-Kantele erklinget!«

Fing der alte Wäinämöinen
Nun gar kunstreich an zu spielen
Auf dem Spielgerät aus Gräten,
Auf der Kantele aus Fischbein, [20]
Schnell erhoben sich die Finger,
In die Höhe stieg der Daumen.

Da ward wahre Freud' aus Freude,
Aus dem Jubel echter Jubel,
Großes Spiel ward aus dem Spiele
Und zum Lied gedieh das Singen;
Da erklang der Zahn des Hechtes,
Töne gab des Fisches Gräte,
Mächt'ger Sang kam von den Saiten,
Heller Ruf von Rosses Haaren. [30]

Spielt der alte Wäinämöinen,
Nicht gab's zu der Zeit im Walde
Tiere laufend auf vier Füßen,
Tiere herzuhüpfen fähig,
Die nicht kamen zuzuhören,
Sich am Jubel zu erfreuen.

Lustig sprang das muntre Eichhorn,
Kletterte von Ast zu Aste;
Näher kamen Hermeline,
Setzten sich dort an die Zäune, [40]
Auf den Fluren hüpft das Elen,
Luchse teilen selbst die Freude.

Es erwacht der Wolf im Sumpfe,
Auf der Heide steht der Bär auf
Von dem Lager unter Fichten,
In dem tannenreichen Dickicht;
Eilt der Wolf durch weite Strecken,
Läuft der Bär durch lange Heiden,
Setzt sich endlich an dem Zaune,
Läßt sich nieder an der Pforte, [50]
Daß der Zaun zum Stein sich senket,
Auf das Feld die Pforte stürzet;
Steiget dann auf eine Tanne,
Schwingt sich schnell auf eine Fichte,
Um dem Spiele zuzuhören,
Sich am Jubel zu erfreuen.

Tapiolas wacher Alter,
Selbst der Hausherr von Metsola,
Und das ganze Volk Tapios,
Wie die Mädchen, so die Knaben, [60]
Stiegen auf des Berges Spitzen,
Um dem Saitenspiel zu lauschen;
Selber auch des Waldes Wirtin,
Tapiolas wache Alte
Zog nun an die blauen Strümpfe,
Band sie fest mit roten Bändern,
Setzt sich auf der Birke Biegung,
Auf die Krümmung einer Erle,
Um die Kantele zu hören,
Um dem Saitenspiel zu lauschen. [70]

Alle Vögel in den Lüften,
Alle die zwei Flügel schwingen
Kamen flockengleich geflattert,
Kamen eilig angeflogen,
Um den Wohlklang zu vernehmen,
Sich am Jubel zu erfreuen.

Als der Aar zu Hause hörte
Dieses schöne Spiel Suomis,
Ließ die Jungen er im Neste,
Macht sich selber auf zu fliegen [80]
Zu dem Spiel des hehren Helden,
Zu dem Sange Wäinämöinens.

Von der Höhe flog der Adler,
Durch die Wolken kam der Habicht,
Enten aus der Fluten Tiefe,
Schwäne aus den schwanken Sümpfen,
Selbst die allerkleinsten Finken,
Vöglein, die gar munter zwitschern,
Zeisige wohl viele Hundert,
Wohl ein Tausend lust'ger Lerchen [90]
Freuen sich im Raum der Lüfte,
Lärmen auf des Mannes Schultern,
Bei dem Freudenspiel des Vaters,
Bei den Tönen Wäinämöinens.

Selbst der Lüfte Schöpfungstöchter,
Sie, die holden Jungfraun, kamen,
Um am Jubel sich zu freuen,
Um der Kantele zu lauschen;
Eine auf des Himmels Wölbung,
Auf dem Regenbogen strahlend, [100]
Auf dem Wölklein saß die andre,
Auf dem roten Saume glühend.

Hielt des Mondes zarte Jungfrau,
Hielt der Sonne starke Tochter
In der Hand die Weberkämme,
Hoben auf die Weberschäfte,
Webten an dem Goldgewebe,
Rauschten mit den Silberfäden
An dem Rand der roten Wolke,
An des langen Bogens Kante. [110]

Als sie aber nun vernahmen
Dieser schönen Harfe Klänge,
Fiel der Kamm rasch aus den Händen,
Stürzt' das Schifflein aus den Fingern,
Ging entzwei der goldne Faden,
Riß die Schnur von schönem Silber.

Damals gab es keine Wesen,
Keine Tiere in dem Wasser,
Die mit sechs der Flossen wandern,
Gab es keine Schwärme Fische, [120]
Die nicht kamen zuzuhören,
Sich am Jubel zu erfreuen.

Angeschwommen kamen Hechte,
Ungelenk die Wasserhunde,
Von den Klippen kamen Lachse,
Schnäpel aus des Meeres Tiefe;
Mit dem Rotaug kamen Barsche,
Stinte kamen, andre Fische,
Drängten sich im dichten Schilfrohr,
Reihten sich entlang dem Strande, [130]
Wäinämöinens Lied zu hören,
Seinem Saitenspiel zu lauschen.

Ahto, König in den Fluten,
Der grasbärt'ge Greis der Wogen,
Taucht' empor zur Wasserfläche,
Streckte sich auf Wasserrosen,
Horchte auf den Klang der Freude,
Sprach dann selber diese Worte:
»Hab' dergleichen nie gehöret,
Nie solang die Zeiten währen, [140]
Wie dies Spielen Wäinämöinens,
Wie das Lied des ew'gen Sängers.«

An dem Strand die Sotkotöchter,
Sie, des Schilfrohrs schöne Schwestern,
Glätteten grad ihre Haare,
Kämmten sorgsam ihre Locken
Mit dem silberreichen Kamme,
Mit der goldgeschmückten Bürste;
Hörten da die neuen Töne,
Dieses wundersüße Spielen, [150]
In das Wasser glitt die Bürste,
Fiel der Kamm da in die Wogen,
Blieben ungekämmt die Haare
Und zur Hälfte nur geordnet.

Selbst die Wirtin der Gewässer,
Sie, die schilfbedeckte Alte,
Hob sich aus des Meeres Tiefe,
Taucht' bedächtig aus den Fluten,
Schlich heran zum Schilfesrande,
Lehnte sich an eine Klippe, [160]
Um die Töne anzuhören,
Wäinämöinens schönes Spielen,
Da die Töne wunderseltsam,
Wundersüß das Spiel erschallte;
Fiel alsdann in tiefen Schlummer,
Sank aufs Antlitz dort zu Boden,
Auf des bunten Felsens Rücken,
Auf der dicken Klippe Kante.

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Spielte einen Tag, den zweiten, [170]
Gab dort keinen von den Helden,
Keinen von den kräft'gen Männern,
Keinen Mann und keins der Mädchen,
Keins der zopfgeschmückten Weiber,
Die er nicht zu Tränen rührte,
Deren Herz er nicht bewegte;
Weinten Junge, weinten Alte,
Weinten unbeweibte Männer,
Weinten die beweibten Helden,
Weinten halberwachsne Knaben, [180]
Wie die Knaben, so die Jungfraun,
Ja die allerkleinsten Mädchen,
Denn der Klang war wunderseltsam,
Wundersüß das Spiel des Alten.

Selbst dem alten Wäinämöinen
Füllte sich der Blick mit Tränen,
Aus den Augen fielen Tropfen,
Wasserperlen rannen nieder,
Voller als des Sumpfes Beeren,
Dicker als die Erbsenkörner, [190]
Runder als des Feldhuhns Eier,
Größer als die Schwalbenköpfe.

Aus den Augen tropfte Wasser,
Quoll hervor in reichen Tropfen,
Strömte auf die Backenknochen,
Glitt der Wangen Fläche nieder,
Von der schönen Wangen Fläche
Auf das Kinn, das stark gewölbte,
Von des Kinnes starker Wölbung
Auf die Brust, die breit gewachsne, [200]
Von dem breiten Wuchs des Busens
Auf die fest geformten Kniee,
Von den fest geformten Knieen
Auf des Fußes hohe Fläche,
Von des Fußes hoher Fläche
Auf den Boden an den Füßen,
Durch fünf wollne Kleider rann es,
Durch sechs goldgestickte Gürtel,
Rann durch sieben blaue Röcke,
Durch acht grobe Überröcke. [210]

Rannen so die Wassertropfen
Von dem alten Wäinämöinen
Zu dem Strand des blauen Meeres,
Von dem Strand des blauen Meeres
In des klaren Wassers Tiefe,
Auf des schwarzen Schlammes Masse.

Sprach der alte Wäinämöinen
Selber Worte solcher Weise:
»Ist in diesen Jünglingshaufen,
In den schönen Jugendscharen, [220]
In dem ausgedehnten Stamme,
Von des Ahnen Nachfahrn einer,
Der nun meine Tränen sammelt
Aus der klaren Fluten Tiefe?«

Also sprachen da die Jungen,
Antwort gaben so die Alten:
»Nicht ist in dem Jünglingshaufen,
In den schönen Jugendscharen,
In dem ausgedehnten Stamme
Von des Ahnen Nachfahrn einer, [230]
Der nun deine Tränen sammelt
Aus der klaren Fluten Tiefe.«

Sprach der alte Wäinämöinen
Selber Worte dieser Weise:
»Wer die Tränen mir zurückbringt,
Wer die Wassertropfen sammelt
Aus der klaren Fluten Tiefe,
Wird ein Federkleid erhalten.«

Kam der Rabe angekrächzet;
Sprach der alte Wäinämöinen: [240]
»Hol', o Rabe, meine Tränen
Aus der klaren Fluten Tiefe!
Werd' ein Federkleid dir geben.«
Nicht erhascht der Rab' die Tränen.

Hörte das die blaue Ente,
Kam herbei die blaue Ente;
Sprach der alte Wäinämöinen:
»Oftmals tauchst du, blaue Ente,
Mit dem Schnabel in die Tiefe,
Kühlst dich ab im frischen Wasser; [250]
Gehe, sammle meine Tränen
Aus der klaren Fluten Tiefe!
Guten Lohn wirst du erhalten,
Werd' ein Federkleid dir geben.«

Ging die Ente aufzusammeln
Alle Tränen Wäinämöinens
Aus der klaren Fluten Tiefe,
Von dem Grund des schwarzen Schlammes;
Sammelt aus dem Meer die Tränen,
Trägt sie hin in Wäinös Hände, [260]
Doch sie hatten sich verwandelt,
Waren wunderschön geworden:
Sind zu Perlen nun verdichtet,
Schimmern bläulich voller Klarheit,
Zu dem Schmucke manches Königs,
Zu der Mächt'gen ew'ger Freude.


Anmerkungen

Vers 143. Die Sotkottaret sind die Beschützerinnen der Enten ( sotka: Ente).


 << zurück weiter >>