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Fünfzehnte Rune

An einem Tage fängt in Lemminkäinens Heimat Blut an aus seinem Kamm zu tropfen, woraus die Mutter den Schluß zieht, daß bereits Untergang ihren Sohn ereilt habe; sie eilt nach dem Nordland und frägt des Nordlands Wirtin, wo sie Lemminkäinen hingetan habe 1–62. Des Nordlands Wirtin gesteht endlich, auf welche Arbeit sie ihn ausgeschickt, und die Sonne gibt ihr genauen Bescheid über den Tod Lemminkäinens 63–194. Lemminkäinens Mutter geht mit einer langen Harke in der Hand zu den Gewässern unterhalb des Wasserfalls von Tuoni, durchharkt das Wasser, bis sie alle Teile von dem Leibe ihres Sohnes beisammen hat, fügt sie dann zusammen und bringt sie vermittelst der Zaubersprüche und der Salben wiederum ins Leben 195–554. Lemminkäinen erzählt, nachdem er zum Bewußtsein erwacht ist, wie er im Strom des Totenlands umgekommen, und kehrt mit seiner Mutter heim 555–650.

Lemminkäinens alte Mutter
Dachte stets in ihrem Hause:
»Wohin ist wohl Lemminkäinen,
Wo mein Kauko hingeraten?
Höre nichts von seiner Heimkehr
Von der Fahrt in weite Ferne.«

Ach, nicht wußt's die arme Mutter,
Nicht die mühvoll ihn getragen,
Wo ihr Fleisch sich nun bewegte,
Wo ihr eigen Blut sich regte, [10]
Ob er nach dem Fichtenberge,
Nach dem Heideland gegangen,
Oder auf des Meeres Rücken,
Auf die schaumbedeckten Fluten,
Oder in das Kriegsgetümmel,
In die grausenhaften Schlachten,
Wo das Blut in Wadenhöhe,
Wo das rote kniehoch flutet.

Kyllikki, die schöne Hausfrau,
Blickt sich um nach allen Seiten [20]
In dem Hause Lemminkäinens,
In dem Hofe Kaukomielis,
Schaut am Abend nach dem Kamme,
Blickt darauf am frühen Morgen;
Da geschah's an einem Tage,
Um die Zeit der Morgenstunde,
Daß das Blut dem Kamm entströmte,
Rot es von den Zähnen tropfte.

Kyllikki, die schöne Hausfrau,
Redet Worte solcher Weise: [30]
»Mir ist nun mein Mann geschwunden,
Mir mein Kauko nun verloren
Auf den unbewohnten Stegen,
Auf den unbekannten Pfaden,
Blut entströmet jetzt dem Kamme,
Rote Tropfen seinen Zähnen.«

Lemminkäinens Mutter selber
Schaute auf den Kamm, die Alte,
Fing voll Kummer an zu weinen:
»Weh mir Armen ob des Lebens, [40]
Ob des Daseins mir Unsel'gen,
Schon ist mir mein liebes Söhnchen,
Schon das Kind der Unglücksvollen
In gar schlechte Tag' gekommen,
Unheil hat den armen Knaben,
Schaden Kauko nun betroffen,
Blutig strömt es aus dem Kamme,
Rote Tropfen aus den Zähnen.«

Rafft den Saum mit ihren Händen,
Mit den Armen ihre Hülle, [50]
Eilends macht sie auf den Weg sich,
Eilt und läuft aus allen Kräften,
Berge macht ihr Gang erbeben,
Täler steigen, Hügel sinken,
Hohes Land neigt sich zur Niedrung,
Tiefen recken sich zur Höhe.

Kommt nun zu des Nordlands Stuben,
Fragt und heischt nach ihrem Sohne,
Fragt und redet solche Worte:
»O du Wirtin von Pohjola, [60]
Wo hast du den Lemminkäinen,
Meinen Sohn du hingesendet?«

Louhi, Nordlands alte Wirtin,
Gab zur Antwort solche Worte:
»Weiß von deinem Sohne gar nicht,
Wo er irgend hingeraten;
Spannt' den Hengst an seinen Schlitten,
Gab ein Roß ihm voller Feuer;
Ist vielleicht im Schnee versunken,
In des Meeres Eis erstarret, [70]
Oder in des Wolfes Rachen,
In des Bären Schlund gefallen.«

Sprach die Mutter Lemminkäinens:
»Sagst gewiß nur lauter Lügen,
Mein Geschlecht verzehrt der Wolf nicht,
Nicht der Bär den Lemminkäinen,
Mit dem Finger wirft er Wölfe,
Mit den Händen Bären nieder;
Wirst du mir nicht wahrhaft sagen,
Was du Lemminkäinen tatest, [80]
Stürme ich die Tür der Darre,
Sprenge ich des Sampo Angeln.«

Sprach die Wirtin von Pohjola:
»Hab' den Mann gar wohl gespeiset,
Hab' zu trinken ihm gegeben,
Hab' ihn ganz und gar gesättigt,
An des Bootes End' gesetzet,
Um die Strömung zu durchschiffen,
Nimmer kann ich's aber wissen,
Wo der Arme hingeraten, [90]
In den Schaum des Wasserfalles,
In des Strudels heft'ge Wirbel.«

Sprach die Mutter Lemminkäinens:
»Sagst gewiß nur lauter Lügen,
Rede nun genau die Wahrheit,
Deinen Lügen mach' ein Ende,
Wohin tatst du Lemminkäinen,
Stürztest du den Kalewhelden?
Oder Untergang soll kommen,
Tod soll dich sogleich erreichen.« [100]

Sprach die Wirtin von Pohjola:
»Wahrheit sprech' ich nun gewißlich,
Schickte ihn die Elentiere,
Sie, die stolzen mir zu fangen,
Große Hengste mir zu zügeln,
Füllen ins Geschirr zu zwingen,
Schickte ihn den Schwan zu suchen,
Mir den Vogel einzufangen,
Kann es aber nimmer wissen,
Ob in Unglück er geraten [110]
Und wodurch er aufgehalten,
Hörte nicht, daß er gekommen,
Um die Braut hier anzuhalten,
Um die Tochter nun zu freien.«

Den Verschwundnen sucht die Mutter,
Banget um den Fortgeratnen,
Eilt durch Sümpfe gleich dem Wolfe,
Geht durch Wälder gleich dem Bären,
Schwimmt dem Otter gleich durch Wasser,
Wandert durch die Flur dem Dachs gleich, [120]
Wie der Igel durch die Landzung',
Wie der Has' an Sees Ufern;
Wälzt die Steine auf die Seite,
Stürzt die Stämme hügelabwärts,
Fegt das Reisig von den Wegen,
Aus dem Fallholz baut sie Brücken.

Lange sucht sie den Verschwundnen,
Sucht ihn, ohne ihn zu finden;
Frägt die Bäume nach dem Sohne,
Forscht nach dem verlornen Kinde, [130]
Und der Fichtenbaum spricht schnaubend,
Kluge Antwort gibt die Eiche:
»Sorge trag' ich um mich selber,
Kann für deinen Sohn nicht sorgen,
Trage selbst ein hartes Schicksal,
Unglück ist mein Teil geworden,
Daß in Keile ich zerschnitten,
Daß in Scheite ich zerschlagen,
Daß als Brennholz ich verzehret,
Ich gefällt beim Schwenden werde.« [140]

Lange sucht sie den Verschwundnen,
Sucht ihn, ohne ihn zu finden;
Kommt ein Weg ihr da entgegen,
Diesen fragt sie nun mit Flehen:
»Weglein du, von Gott geschaffen,
Hast du meinen Sohn gesehen,
Meinen Apfel, meinen goldnen,
Mein geliebtes Silberstöcklein?«

Klüglich gibt er ihr die Antwort,
Also spricht der Weg zur Mutter: [150]
»Sorge trag' ich um mich selber,
Kann für deinen Sohn nicht sorgen,
Trage selbst ein hartes Schicksal,
Unglück ist mein Teil geworden,
Daß von Hunden ich durchlaufen,
Daß von Reitern ich durchstrichen,
Daß von Schuhen ich getreten
Und gedrückt vom Absatz werde.«

Lange sucht sie den Verschwundnen,
Sucht ihn, ohne ihn zu finden; [160]
Kommt der Mond desselben Weges,
Flehend spricht sie so zum Monde:
»Goldner Mond, von Gott geschaffen,
Hast du meinen Sohn gesehen,
Meinen Apfel, meinen goldnen,
Mein geliebtes Silberstöcklein?«

Und der Mond, von Gott geschaffen,
Gibt ihr klüglich diese Antwort:
»Sorge trag' ich um mich selber,
Kann für deinen Sohn nicht sorgen, [170]
Trage selbst ein hartes Schicksal,
Unglück ist mein Teil geworden,
Einsam in der Nacht zu wandern,
Bei dem härtsten Frost zu leuchten,
In dem Winter streng zu wachen
Und im Sommer hinzuschwinden.«

Lange sucht sie den Verschwundnen,
Sucht ihn, ohne ihn zu finden,
Kommt die Sonne ihr entgegen,
Flehend spricht sie so zur Sonne: [180]
»Sonne, du von Gott geschaffne,
Hast du meinen Sohn gesehen,
Meinen Apfel, meinen goldnen,
Mein geliebtes Silberstöcklein?«

Wissen mußt' es wohl die Sonne,
Also gibt sie ihr zur Antwort:
»Schon verkommen ist dein Söhnlein,
Schon gestorben er, der Ärmste,
In dem schwarzen Flusse Tuonis,
In Manalas Urgewässer, [190]
In den Wasserfall gestürzet,
In den Wirbel hingesunken,
In den Gründen von Tuonela,
In den Tiefen von Manala.«

Lemminkäinens Mutter selber
Überkam ein stilles Weinen,
Zu des Schmiedes Esse ging sie:
»Ilmarinen du, o Schmieder,
Schmiedetst früher, schmiedetst gestern,
Schmiede auch am heut'gen Tage [200]
Eine Hark' mit Schaft von Kupfer
Und mit Zähnen starken Eisens,
Hundert Klafter lang die Zähne,
Und der Schaft fünfhundert Klafter.«

Macht der Schmieder Ilmarinen,
Er, der ew'ge Hämmerkünstler,
Gleich den Kupferschaft der Harke,
Macht sodann die Eisenzähne,
Hundert Klafter lang die Zähne,
Gibt dem Schaft fünfhundert Klafter. [210]

Selbst die Mutter Lemminkäinens
Nimmt die Harke starken Eisens,
Fliegt zum Flusse von Tuonela,
Also bittet sie die Sonne:
»Sonne, du von Gott geschaffne,
Leuchtendes Geschöpf des Schöpfers,
Send' ein Weilchen glüh'nde Strahlen,
Schein' ein zweites, daß man schwitze,
Brenn' ein drittes voller Schärfe,
Schläfre ein die bösen Leute, [220]
Mache matt das Volk Manalas
Und ermüd' das Reich Tuonis.«

Die von Gott geschaffne Sonne,
Sie, das liebe Kind des Schöpfers,
Flieget zu der Birke Höhlung,
Senkt sich auf der Erle Krümmung,
Schickt ein Weilchen glüh'nde Strahlen,
Scheint ein zweites, daß man schwitzet,
Brennt ein drittes voller Schärfe,
Schläfert ein die böse Menge, [230]
Machet matt das Volk Manalas,
Junge Männer mit den Schwertern,
Alte Männer an den Stäben,
Die inmitten mit den Speeren,
Schwebend hebt sie sich von dannen,
Steigt empor zum Himmelsplane,
An die langgewohnte Stelle,
An die alte Stätte wieder.

Lemminkäinens Mutter nimmt nun
Ihre Harke starken Eisens, [240]
Harkt und sucht nach ihrem Sohne
In des Wasserfalles Brausen,
In der wilden Strömung Tosen,
Harket, ohne ihn zu finden.

Tiefer läßt sie sich hernieder,
Steigt hinab in das Gewässer,
Bis zum Strumpfband in die Fluten,
Bis zum Gürtel in die Wogen.

Harkte da nach ihrem Sohne
Durch des Tuoniflusses Länge, [250]
Harkte drauf dem Strom entgegen,
Harkte einmal, dann das zweite,
Fischte auf das Hemd des Sohnes,
Fischt' es auf mit trübem Sinne,
Harkte noch zum zweiten Male,
Fing die Strümpfe samt dem Hute,
Fing die Strümpfe gar bekümmert,
Fing den Hut voll Gram im Herzen.

Immer tiefer schritt darauf sie
In die Tiefen von Manala, [260]
Zog die Harke nach der Länge,
Zog sodann sie in die Quere,
Zog sie drittens schräg durchs Wasser,
Endlich bei dem dritten Male
Haftet eine große Garbe
In der Harke starkem Eisen.

War jedoch nicht eine Garbe,
War der muntre Lemminkäinen,
Selbst der schöne Kaukomieli,
Hängend in der Harke Zacken [270]
Mit dem Finger ohne Namen,
Mit des linken Fußes Zehe.

Es erhob sich Lemminkäinen,
Er, der muntre Sohn Kalewas,
In der starken Kupferharke
Auf des Wassers klarer Fläche;
Doch es fehlten manche Teile,
Eine Hand, des Kopfes Hälfte,
Mindre Glieder auch und kleine,
Und zumal der Lebensodem. [280]

Tief in Sinnen war die Mutter,
Unter Weinen sprach sie also:
»Kann ein Mann aus solchem werden,
Kann der Held wohl neu erstehen?«

Hört ein Rabe diese Worte,
Gibt ihr Antwort solcherweise:
»Ist kein Mann im Hingeschwundnen,
Nicht in dem Verkommnen einer,
Schnäpel fraßen längst die Augen,
Hechte spalteten die Schultern; [290]
Wirf den Mann nur in die Fluten,
In die Strömung von Tuonela,
Daß zur Robbe er dort werde,
Er zum Walfisch dort gedeihe.«

Doch die Mutter Lemminkäinens
Wirft den Sohn nicht in das Wasser,
Ziehet noch mit frischem Mute
Durch das Wasser ihre Harke
Nach der Läng' des Tuoniflusses,
Nach der Länge, nach der Breite, [300]
Fängt die Hand, des Kopfes Hälfte,
Fängt den halben Rückenknochen,
Fängt des Hüftbeins eine Seite,
Viele andre mindre Glieder,
Setzt daraus den Sohn zusammen,
Ihn, den muntern Lemminkäinen.

Füget Fleisch dann zu dem Fleische,
Paßt die Knochen aneinander,
Bindet ein Glied an das andre,
Preßt die Adern fest zusammen. [310]

Selber bindet sie die Adern,
Knüpft die Enden aller Adern,
Zählt die Fäden aller Adern,
Redet dabei solche Worte:
»Schlankgewachsne Adernjungfrau,
Suonetar, der Adern Göttin,
Schöne Spinnerin der Adern,
Mit dem schlanken Spindelholze,
Mit dem kupferreichen Wertel,
Mit dem eisenreichen Rade; [320]
Komm herbei, du bist vonnöten,
Komm herbei, du wirst gerufen,
In dem Arm das Adernbündel,
Auf dem Schoß das Häutebündel,
Um die Adern festzubinden,
Ihre Enden festzuknüpfen
In den aufgeborstnen Wunden,
In den Löchern, die noch klaffen!

»Sollte daran nicht genug sein,
Lebet oben in den Lüften [330]
Eine Maid im Kupfernachen,
In dem Boot mit rotem Steuer;
Komm, o Jungfrau, aus den Lüften,
Mädchen, von des Himmels Nabel,
Stoß den Nachen durch die Adern,
Fahre heftig durch die Glieder,
Rudre durch der Knochen Höhlung,
Durch die Fügung der Gelenke!

»Leg' die Adern an die Stelle,
Bringe sie in ihre Lage, [340]
Schließe du die großen Adern,
Laß die Pulse sich begegnen,
Dann vereinige die Sehnen
Und der kleinen Adern Enden!

»Nimm dir eine weiche Nadel,
Seidnen Faden zieh ins Öhr ein,
Nähe mit der weichen Nadel,
Mit der zinnernen verknüpfe
Aller Adern feine Enden,
Bind' sie mit dem Seidenfaden! [350]

»Sollte daran nicht genug sein,
Jumala, du Offenkund'ger,
Schirre deine raschen Füllen,
Rüste deine starken Renner,
Fahre her im bunten Schlitten
Durch die Knochen, durch die Glieder,
Durch das Fleisch, das sich beweget,
Fahre rauschend durch die Adern,
Füg' das Fleisch fest an die Knochen,
Bind' die Adern an die Adern, [360]
Senke Silber in die Fugen,
Gold du in die Aderspalten!

»Wo die Haut entzweigegangen,
Dort laß neue Haut entstehen,
Wo die Adern durchgerissen,
Binde du sie fest zusammen,
Wo das Blut davongeflossen,
Laß sich neues Blut ergießen,
Wo die alten Knochen brachen,
Dort laß neue Knochen wachsen, [370]
Wo das Fleisch sich abgelöset,
Binde fest das Fleisch zusammen,
Banne es an seine Stelle,
Setze es in seine Lage,
Bein an Bein und Fleisch zum Fleische,
Füge Glieder an die Glieder!«

Lemminkäinens alte Mutter
Schuf den Mann, den starken Helden,
Wieder so zum frühern Leben,
Zur Gestalt, die einst er hatte. [380]

Festgeschlossen war'n die Adern,
Festgeknüpfet ihre Enden,
Doch der Mann konnt' noch nicht sprechen,
Noch gebrach's am Wort dem Sohne.

Da bedachte sich die Mutter,
Ließ sich also dann vernehmen:
»Woher Salbe nun erhalten,
Woher Honigtropfen holen,
Damit ich den Schwachen schmiere,
Ihn, den Schlechtgefahrnen, heile, [390]
Daß der Mann zum Sprechen komme,
Seinen Mund zu Liedern öffne?

»Bienchen, du, o Honigvöglein,
König du der Waldesblumen,
Gehe nun und hole Honig,
Schaff' den süßen Seim zur Stelle
Aus dem lieblichen Metsola,
Aus dem wachen Tapiola,
Von dem Reiche mancher Blume,
Aus der Faser manches Grases, [400]
Daß ich ihm die Schmerzen stille,
Seine Übel völlig heile!«

Bienchen, dieses flinke Vöglein,
Flieget rasch und flattert weiter
Nach dem lieblichen Metsola,
Nach dem wachen Tapiola;
Pflücket Blumen von der Wiese,
Kocht den Honig mit der Zunge,
Kocht ihn aus sechs Blumenspitzen,
Aus der Blüt' von hundert Gräsern, [410]
Kommt dann rasch herangesummet,
Kommt geschwind herbeigeflogen,
Alle Flügel voll von Honig,
Voll von süßem Seim die Federn.

Selber Lemminkäinens Mutter
Nahm behende diese Salben,
Salbte damit den Geschwächten,
Will den Schlechtgefahrnen heilen;
Ohne Wirkung blieb die Salbe,
Nicht gewann der Mann die Sprache. [420]

Redet darauf diese Worte:
»Bienchen, du mein liebes Vöglein,
Fliege du nach andern Seiten,
Fliege über neun der Meere,
Zu der Insel in den Fluten,
Zu den honigreichen Fluren,
Zu den neuen Stuben Tuuris,
Zu Palwoinens unbedeckten,
Dort ist wonniglicher Honig,
Dort sind wundergute Salben, [430]
Welche jeder Ader dienen,
Den Gelenken Nutzen schaffen;
Bringe mir von diesen Salben,
Bring' von diesen Zaubermitteln,
Daß den Schaden ich bedecke,
Ich die Wunden wohl bestreiche!«

Bienchen, dieses flinke Männlein,
Flattert nun empor nach hinten,
Flieget über neun der Meere,
Fliegt zur Hälft' des zehnten Meeres, [440]
Flieget einen Tag, den zweiten,
Flieget auch am dritten Tage
(Läßt sich nicht im Schilfe nieder,
Ruhet nicht auf einem Blättchen)
Zu der Insel auf dem Meere,
Zu den honigreichen Fluren,
Zu des Wasserfalles Brausen,
Zu des heil'gen Stromes Wirbeln.

Dorten ward gekocht der Honig,
Ward die Salbe angefertigt [450]
In den kleinen Tongefäßen,
In den hübschen Kupferkesseln
Von der Größe eines Daumens,
Von der Fingerspitze Breite.

Bienchen, dieses flinke Männlein,
Sammelt fleißig diese Salben;
Wenig Zeit war hingegangen,
Kaum ein Augenblick verflossen,
Kommt es schon herbeigesummet,
Eifrig kommt's herbeigeeilet, [460]
Sechs der Schalen in den Armen,
Ihrer sieben auf dem Rücken,
Randgefüllt mit guter Salbe,
Voll von starkem Zaubermittel.

Selber Lemminkäinens Mutter
Schmierte dann mit diesen Salben,
Ihn mit neun verschiednen Salben
Und mit acht der Zaubermittel;
Ohne Wirkung blieben alle,
Hilfe konnten sie nicht bringen. [470]

Sprach nun Worte solcher Weise,
Ließ auf diese Art sich hören:
»Bienchen, du, der Lüfte Vöglein,
Fliege nun zum dritten Male
In die Höhe auf zum Himmel,
Fliege über neun der Himmel,
Honig gibt es dort in Fülle,
Süßen Seim soviel man wünschet,
Den der Schöpfer hat gesegnet,
Jumala behaucht, der Reine, [480]
Als er seine Kinder salbte
Bei dem Leid durch böse Mächte;
Tauch' die Flügel in den Honig,
Deine Federn in die Süße,
Bringe Honig auf den Flügeln,
Süßen Seim auf deiner Hülle,
Um die Schmerzen hier zu stillen,
Um die Wunden auszuheilen.«

Bienchen nun, das liebe Vöglein,
Redet Worte solcher Weise: [490]
»Wie soll ich dahingeraten,
Ich, ein Männlein ohne Kräfte?«

»Wirst gar gut von hinnen fliegen,
Wirst gar schön nach oben rauschen,
Über Mond und unter Sonne,
Durch des Himmels schöne Sterne;
Fliegend wirst am ersten Tage
Du Orions Schläf' umfächeln,
An dem zweiten kommst du nahe
An des Bären Schulterblätter, [500]
Hebst sodann dich an dem dritten
Auf der sieben Sterne Rücken;
Kurz ist dann der Weg von dorther,
Gar gering nur ist die Strecke
Zu dem Sitz des heil'gen Gottes,
Zu des Sel'gen Aufenthalte.«

Bienchen hebt sich von der Erde,
Mit den Flügeln von dem Rasen,
Flattert auf mit sanftem Fächeln,
Flieget mit den kleinen Flügeln, [510]
Streift des Mondes Hof im Fluge,
Wandert an dem Saum der Sonne,
An des großen Bären Schultern,
Auf der sieben Sterne Rücken,
Schwebet zu des Schöpfers Keller,
In des Machterfüllten Kammern;
Dort bereitet man das Mittel,
Dort zerreibet man die Salbe
In den silberreichen Töpfen,
In den Kesseln lautern Goldes; [520]
In der Mitte kocht der Honig,
An den Seiten sanfter Balsam,
Nektar auf der Mittagseite
Und gen Mitternacht die Salben.

Bienchen nun, der Lüfte Vöglein,
Sammelt Honig dort in Fülle,
Süßen Seim nach Wunsch des Herzens;
Wenig Zeit war hingegangen,
Kommt es schon herbeigesummet,
Kommt es schon herangesäuselt, [530]
Hundert Hörnchen in den Armen,
Tausend andre Traggefäße,
Voll von Honig, voll von Wasser,
Voll der allerbesten Salben.

Lemminkäinens Mutter selber
Nahm sie in den Mund behende,
Kostete mit ihrer Zunge,
Prüfte streng in ihrem Sinne:
»Dieses ist die rechte Salbe,
Ist des Mächt'gen Zaubermittel, [540]
Womit Gott der Höchste salbet,
Selbst den Schmerz der Schöpfer stillet.«

Darauf salbte sie den Schwachen,
Heilte sie den Schlechtgefahrnen,
Salbt die Knochen längs den Fugen,
Streicht die Spalten der Gelenke,
Salbet oben, salbet unten,
Streicht sodann des Leibes Mitte,
Redet Worte solcher Weise,
Läßt sich solcherart vernehmen: [550]
»Stehe auf von deinem Schlafe,
Hebe dich aus deinem Schlummer
Von der Stätte des Verderbens,
Von dem unheilvollen Lager!«

Es erwacht der Mann vom Schlafe,
Er erhebt sich aus dem Schlummer,
Ist jetzt schon der Worte mächtig,
Redet selber mit der Zunge:
»Freilich hab' ich fest geschlafen,
Hab' ich, Fauler, lang geschlummert, [560]
Habe wundersüß geschlafen,
War in tiefen Schlaf versunken.«

Sprach die Mutter Lemminkäinens,
Redet selber diese Worte:
»Länger hättest du geschlafen,
Hätt'st noch länger so gelegen
Ohne deine arme Mutter,
Ohne mich, die dich getragen.

»Sage nun, mein armes Söhnchen,
Sage mir, damit ich's höre: [570]
Wer denn bracht' dich nach Manala,
Sandte dich zum Flusse Tuonis?«

Sprach der muntre Lemminkäinen,
Gab zur Antwort seiner Mutter:
»Naßhut, er, der Herdenhüter,
Aus dem Schlummerland ein Blinder
Hat gebracht mich nach Manala,
Mich gesandt zum Flusse Tuonis,
Schickt' die Schlange aus dem Wasser,
Schickt' die Natter aus den Fluten [580]
Gegen mich, den Schwergeplagten,
Konnte mich vor ihr nicht schützen,
Kannte nicht die Pein der Schlange,
Nicht die Qual der Wassernatter.«

Sprach die Mutter Lemminkäinens:
»O du Mann geringer Einsicht,
Wähntest Zaubrer zu bezaubern,
Lappensöhne fest zu bannen,
Kennest nicht die Pein der Schlange,
Nicht die Qual der Wassernatter: [590]
In dem Wasser ist ihr Ursprung,
In der Flut entstand die Schlange,
Aus dem guten Hirn der Ente,
Aus dem Mark der Meeresschwalbe;
Syöjätär spie in das Wasser,
Warf den Speichel auf die Wogen,
Wasser trieb ihn in die Länge,
Weich beschien ihn dann die Sonne,
Wurde von dem Wind gewieget,
Von der Wasserluft geschaukelt, [600]
Von der Flut zum Strand getrieben,
Von der Brandung ausgeworfen.«

Lemminkäinens Mutter wiegte
Nun im Schoße ihren Liebling
Wiederum zum frühern Leben,
Wiegt' ihn ins gewohnte Dasein,
Daß er noch ein wenig besser,
Schöner noch als einstens wurde;
Fragt den Sohn dann, ob es ihm wohl
Noch an irgend etwas mangle. [610]

Sprach der muntre Lemminkäinen:
»Mangelt mir an vielen Dingen,
Dort ist meines Herzens Ruhstatt,
Dort verweilen meine Sinne:
Immer bei des Nordlands Jungfraun,
Bei den schöngelockten Mädchen;
Nordlands schimmelohr'ge Alte
Gibt mir nimmer ihre Tochter,
Wenn den Vogel ich nicht schieße,
Nicht den Schwan gefangen nehme [620]
Aus dem Flusse von Tuoni,
Aus des heil'gen Stromes Wirbeln.«

Sprach die Mutter Lemminkäinens
Selber Worte solcher Weise:
»Laß die Schwäne du in Frieden,
Laß die Enten ruhig schwimmen
In dem schwarzen Flusse Tuonis,
In den wilden Wasserwirbeln,
Gehe nach der Heimat Grenzen
Mit der schmerzgeprüften Mutter; [630]
Sollst dein Glück vor allem preisen,
Gott, den Offenkund'gen, loben,
Daß er rechte Hilf' gewähret,
Dich zum Leben hat erwecket
Von Tuonis sichern Pfaden,
Aus den Gründen von Manala;
Selber hätt' ich nichts vollführet,
Nicht das Kleinste ausgerichtet
Ohne Jumalas Erbarmen,
Ohne Hilf' des wahren Schöpfers!« [640]

Lemminkäinen leichtgemutet
Ging gerades Wegs nach Hause
Mit der vielgeliebten Mutter,
Mit der übermächt'gen Alten.

Dort nun lasse ich den Kauko,
Ihn, den muntern Lemminkäinen,
Lass' ihn aus dem Liede lange,
Wende meinen Sang geschwinde,
Lenke ihn zu andern Dingen,
Sende ihn auf neue Bahnen. [650]


Anmerkungen

Vers 315 f. Suonetar (von suoni, Ader): eine der Gesundheitsgöttinnen; ihr Amt ist es, die Adern zu spinnen und die verletzten wiederherzustellen.

397. Metsola (von metsä, Wald) bezeichnet neben Tapiola den Wohnsitz des Waldgottes Tapio.

426 f. Über Tuuri oder Palwonen (Palwoinen) ist nichts Sicheres bekannt. Aus Vers 448 scheint hervorzugehen, daß sein Haus der Unterwelt benachbart war; wogegen XLVII 178 ff. erzählt wird, der Feuerfunke, den Ukko mit seinem Schwert entzündete und einer Luftgöttin zu verwahren gab, sei aus deren Fingern durch den Himmel, durch die Lüfte in die neue Stube Tuuris, in Palwonens unbedeckte geflogen. Julius Krohn stellt Palwonen mir dem lappischen Worte palo, dem finnischen piloi, das Wolke bedeutet, zusammen; Aspelin erklärt ihn als den Glühenden, Dörrenden: die Sonne – was dem Text nicht entspricht.

477 ff. Den Himmelshonig hat J. G. v. Hahn (Sagwissenschaftliche Studien, Jena 1876, S. 119 Anm.) mit dem indischen Soma zusammengestellt, zu dem er den Naturkern in dem »den Überhimmel erfüllenden Lichtwasser« vermutet.

502. Die »sieben Sterne« sind die Plejaden.

591 ff. Nach einer anderen Ursprungsformel ist die Schlange aus Hiisis Speichel entstanden. Nach der Version in Rune XXVI, Vers 695 ff. gab er dem Speichel die Seele.

595. Syöjätär: »eine Hexe und Menschenfresserin« (Ganander), die im Meere lebt; der Name kommt auch im Plural vor.


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