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[Vorworte, Einführung]

Vorwort zur Erstausgabe

(Helsingfors 1852)

Im Jahre 1682 gab der gelehrte Polyhistor Daniel Georg Morhof in seinem zu Kiel erschienenen Unterricht von der deutschen Sprache wohl zuerst in Deutschland eine Probe der finnischen Volkspoesie, indem er ein aus Bangs Historia ecclesiastica Sveo-Gothorum entnommenes Bärenlied finnisch nebst einer nicht sehr ansprechenden deutschen Übersetzung mitteilte. Seit dieser Zeit war es also bekannt, daß es eine finnische Volkspoesie gäbe, doch hatte sich dieselbe nur einer zufälligen Beachtung zu erfreuen. Eine solche wurde ihr sogar von dem Meister Goethe zuteil, dem wir die Bearbeitung eines finnischen Liebesliedes verdanken. In Finnland selbst war der mit Recht hochgefeierte Professor Porthan der erste, der der Volkspoesie eine umfassendere Aufmerksamkeit zuwandte. Unter seinem Einfluß arbeiten Ganander und Lencquist, die in ihren mythologischen Leistungen auf den in den Volksliedern enthaltenen Stoff näher eingehen mußten. Doch blieben diese Versuche alle mehr fragmentarisch. Eine größere Sammlung veranstaltete der Doktor Zacharias Topelius und gab sie in fünf Teilen während der Jahre 1822-1836 heraus. Bereits im Jahre 1820 hatte der Professor von Becker in der zu Abo in finnischer Sprache erscheinenden Wochenschrift einen Versuch gemacht, eine Menge Lieder über Wäinämöinen in ein Ganzes zu vereinigen. Diesem Beispiele verdanken wir es wahrscheinlich, daß Dr. Lönnrot den Gedanken faßte, die noch unter dem Volke lebenden Lieder von Wäinämöinen, Ilmarinen und Lemminkäinen usw. zu einem Epos zusammenzufügen. Schon in den Jahren 1828 und 1831 machte er verschiedene Wanderungen in Finnland, um seine Runensammlung zu vervollständigen. Ergiebiger waren jedoch seine Reisen außerhalb des eigentlichen Finnlands von dem Jahre 1832 an, namentlich in den von Finnen bewohnten Strecken der Archangelschen Gouvernements. Während nun in Deutschland im Jahre 1834 G. H. von Schröder die bereits 1819 zu Upsala von seinem Bruder finnisch und deutsch gedruckten »finnischen Runen« für das größere Publikum veröffentlichte, konnte Dr. Lönnrot bereits im nächstfolgenden Jahre (1835) mit seiner Sammlung der epischen Lieder der Finnen hervortreten. Sie erschien in zwei Bänden unter dem Titel Kalewala und umfaßte etwas über 12 000 Verse in 32 Gesängen. Die Wichtigkeit dieser Sammlung für die epische Poesie überhaupt wurde von dem berühmten Begründer germanischer Sprach- und Mythenforschung, Jakob Grimm, in das hellste Licht gestellt in seinem Aufsatz »über das finnische Epos« in Hoefers Zeitschrift für die Wissenschaft der Sprache, Band I., S. 13–55 (1846). Wie Grimm selbst bekennt, ist ihm beim Studium der finnischen Poesie die treffliche schwedische Übersetzung der Kalewala, welche wir dem der Wissenschaft, dem Vaterlande und den Freunden zu früh entrissenen M. Alexander Castrén verdanken (1841), zur Hand gewesen. Ist diese Übersetzung auch eine höchst gelungene, welche bei aller Treue den Eindruck einer selbständigen Schöpfung macht, so ist doch die Zahl derer, denen die schwedische Sprache geläufig ist, unter den deutschen Forschern eine sehr beschränkte. Endlich erschien im Jahre 1845 eine französische Übersetzung von Léouzon Le Duc, die den Wünschen des größeren Publikums entgegenkommen sollte. In Deutschland ward bald dieser, bald jener Name für eine zu erwartende Übersetzung genannt. Unterdessen hatte die finnische Literaturgesellschaft dafür Sorge getragen, daß durch eine umfassendere Sammlung epischer Runen in den verschiedensten Gegenden finnischer Zunge eine neue Ausgabe der Kalewala ebenfalls unter der Redaktion von Dr. Elias Lönnrot ins Leben treten konnte. Sie erschien im Jahre 1849 und umfaßt in 50 Gesängen 22793 Verse. Eine sehr interessante Beurteilung derselben ließ Castrén im Bulletin histor. philol. der Akademie der Wissenschaften, Band VII., Nr. 20, 21 abdrucken. Seinem Einflusse hauptsächlich ist das Entstehen vorliegender Übersetzung zuzuschreiben. Er trug Sorge, daß mir die einzelnen Bogen der neuen Ausgabe während des Druckes von der finnischen Literaturgesellschaft zugesandt wurden, so daß ich die Übersetzung bald nach dem Erscheinen des Originals gegen Ende des Jahrs 1849 beendigen konnte. Im nächstfolgenden Jahre wanderte die Handschrift nach Helsingfors, wo die Literaturgesellschaft auf Betrieb Castréns für eine Revision der Übersetzung sorgte, an welcher Castrén selbst manchen Anteil hatte. Endlich war die Arbeit druckfertig, fand jedoch erst gegen Ende des vorigen Jahrs einen Verleger an der ältesten Buchhandlung Finnlands. Da der Druck in Helsingfors selbst bewerkstelligt werden konnte, ließ Castrén es sich wiederum angelegen sein, die Korrektur zu überwachen, welche er der gewissenhaften Leitung des Herrn Carl Gustav Borg übertrug, der als gewandter Übersetzer und gründlicher Kenner der finnischen Poesie sehr viel dazu beigetragen hat, vorliegende Übersetzung von ihren Mängeln zu reinigen. Und dennoch ist so manches Mangelhafte stehengeblieben. Mein Trost ist der, daß nach mir andere kommen werden, welche das Werk weiter fördern werden. Einstweilen beurteile man meinen Versuch mit Nachsicht und entschuldige namentlich die kleineren Druckversehen, welche sich bei meiner Entfernung vom Druckort nicht ganz verhüten ließen.

St. Petersburg,
den 1./13. September 1852.
A. Schiefner.

Vorwort zu dieser Ausgabe

Ich hatte ursprünglich die Absicht, Schiefners Übertragung unverändert – nur unter Berücksichtigung der noch von ihm selbst (im Bulletin der Petersburger Akademie) mitgeteilten Verbesserungen – neu herauszugeben, überzeugte mich aber bald, daß dies sowohl um einer treuen Wiedergabe als um der sprachlichen Gestaltung willen nicht anging. Immerhin war in meiner ersten Ausgabe (1914) nur etwa ein Fünftel der Verse geändert. Diese Zahl hat sich in der vorliegenden Neuausgabe nach erneuter Vergleichung mit dem Original und Bearbeitung auch der einem strengeren Stilgefühl nicht standhaltenden Verse auf etwa ein Drittel erhöht.

Heppenheim an der Bergstraße, Ende 1921.
Martin Buber.

Einführung

 

» ... Um die epische Poesie aber steht es weit anders, in der Vergangenheit geboren, reicht sie aus dieser bis zu uns herüber, ohne ihre eigne Natur fahren zu lassen, wir haben, wenn wir sie genießen wollen, uns in ganz geschwundene Zustände zu versetzen. Ebensowenig als die Geschichte selbst kann sie gemacht werden, sondern wie diese auf wirklichen Ereignissen, beruht sie auf mythischen Stoffen, die im Altertum wacher Stämme obschwebten, leibhafte Gestalt gewannen und lange Zeiten hindurch fortgetragen werden konnten. Sie kommt also schon Völkern zu, deren Aufschwung beginnt, und gelangt zur Blütezeit bei solchen, die jener Stoffe mächtig die ganze junge Kunst der Poesie darüber zu ergießen vermochten; aber ein Grund und Anfang mußte immer, man weiß nicht zu sagen wie, vorhanden sein, und gerade auf ihm beruht der Dichtung unerfindbare Wahrheit.«

Jakob Grimm,
Über das finnische Epos.

 

I.

Kalewala, das finnische Epos, ist die Schöpfung eines Volkes und das Werk eines Einzelnen. Unter seinen Liedern ist nicht eines, das nicht vorher in dem tönenden Gedächtnis des Volkes sein Leben gehabt hätte. Aber keines der Lieder ist so gesungen worden wie es im Epos aufgezeichnet steht: nicht etwa, daß Ungesungenes eingeschoben wäre – nur wenige verbindende Verse sind hinzugekommen – nein, uralt, ist das Lied in seinen Stücken, aber in seiner Ganzheit ist es neu. Denn dem Laulaja, dem finnischen Volkssänger, sind der Vers und die Weise heiliges, unverrückbares Urgesetz: das Wort aber ist sein Bereich, seiner Macht anheimgegeben, Recht und Beruf ist ihm, es zu wandeln, – es zu härten und zu sänftigen, zu erhöhen und zu verdeutlichen. So singt jeder Laulaja das Lied aller und sein eigenes, ja mancher ändert es zu mehreren Malen und sagt zu verschiedenen Zeiten Verschiedenes. Darum hört jener Einzelne, der davon träumt, die Schöpfung des Volkes zum Werke zu formen, Elias Lönnrot, im finnischen Lande umherziehend jedes Lied in vielfacher Gestalt; er sammelt die Gestalten, er wählt für jeden Vers die schönste, für jeden Vorgang die vollständigste, er verbindet das Mannigfaltige, er baut wahrhaft das Lied aller auf. Und aus den so aufgebauten Liedern errichtet er das Epos.

Auch der Laulaja verknüpft Lieder zu Liedergruppen, jeder anders, und auch dies tut mancher zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Weise; aber die Kraft, die mit den Worten zu schalten wußte, wird plump und schwer, wenn sie, statt Wort an Wort, Lied an Lied zu reihen strebt. Wohl trägt der Sänger jenen Zusammenhang des Mythos, der die epische Rune hervorbrachte, dunkel oder dämmerhaft in seinem Sinn; aber er vermag nicht, ihn in einem Zusammenhang der Lieder zu realisieren. Jener Einzelne aber, der gesammelt hat, hat die Kunde der Verschmelzung. Kein Dichter, weil ohne Selbständigkeit, kein Gelehrter, weil ohne Distanz, ein Laulaja seinem Gemüt und seiner Begabung nach, ist er den Sängern des Volkes überlegen an Weite und Einheitlichkeit des Wissens: er kennt den Volksgesang wie keiner vor ihm, und seiner Kenntnis ist die Weihe der synthetischen Funktion verliehen. So verschmilzt er die Lieder zum Epos.

Daß er es konnte, das ist freilich aus seinen Fähigkeiten allein nicht zu verstehen; Fähigkeiten sind unfruchtbar ohne einen Glauben. Lönnrot hatte einen Glauben, dem seine Kräfte dienten und der sie fruchtbar machte: den Glauben an das ursprüngliche Epos, das eine Einheit war wie der Mythos, den es sang, und das dann in all die Lieder zerfiel – die Lieder, die nun selbständig weiter wuchsen, wucherten, sich wandelten, bis sie in seine Hand kamen, der nun versuchen wollte, die alte Dichtung wiederherzustellen, erweitert um all das, um das sie an Wesentlichem, Lebenaussprechendem, Schicksalgestaltendem die singenden Geschlechter erweitert hatten. Ein Trugglaube, von der Forschung unserer Zeit aus gesehen; aber im Reich des Wirkens gilt nur die Kraft des Glaubens, nicht seine Probabilität. Lönnrot glaubte an das alte Epos wie Kolumbus an den Weg nach Indien; so öffneten sich ihm die neuen Länder.

II.

Mehr als von irgendeinem Volk gilt es vom finnischen, daß das Singen älter ist als das Reden. Eine andere, heiligere Sprache hat der finnische Dichter Zacharis Topelius den Gesang genannt; aber er ist mehr als das: er ist die Ursprache. Im Singen äußert der Mensch von je sein Verhältnis zu den Gewalten, den Ganzheiten des Lebens, im Reden äußert er sein Verhältnis zu den Dingen, das später, mittelbarer ist als jenes. Der Gesang ist die elementare Gemeinschaft, die urzeitliche feindlich-friedliche Vertraulichkeit mit der Natur, deren Herzschlag seinen Rhythmus erzogen hat; die Rede ist die erworbene Sonderung, das große Unterscheiden, die Weisheit der Orientierung, die Kunst der Distanz. Der Gesang ist Magie, die Rede Kausalität. Singen ist die Ausübung einer eingeborenen Freiheit, Reden die Erfüllung eines unentbehrlichen Vertrags. So ruht in der Seele des finnischen Bauern, der noch den Elementen nahe ist, der Gesang auf dem Grunde, aber quellend und ewig bereit, die Rede liegt dicht unter der Fläche, aber stockend und unlustig. Dem Wortkargen erwachen die Lippen im Liede, der Schwerfällige wird leicht und überlegen, sobald er zu singen beginnt.

Und die finnische Sprache selber: sie scheint nicht für die Rede, scheint zuerst für den Gesang geschaffen; ihre Worte enden meist auf Vokale, und selten stoßen mehrere Konsonanten zu einem spröden Laut zusammen; eine der wohllautendsten und gefügsten des Erdbodens hat sie Jakob Grimm genannt, und der große finnische Forscher Porthan (1739-1804) sagt von ihr Dissertatio de Poësi Fennica (1766-1778). Opera selecta III. Helsingfors 1867., ihr Geist sei dem Streben der Volkssänger sonderlich günstig.

Zu Porthans Zeiten war der tiefe Quell noch unverschüttet. Alle Vorgänge des persönlichen und öffentlichen Lebens, Tätigkeit und Muße, Festfreude und einsames Leid riefen die tausendfältige Rune. Der Freund, der um den toten Vertrauten trauert, und der Feind, der über den Verhaßten spottet, der Hirt, der seinem knappen Leben nachsinnt, und der Jäger, der von der Beute träumt, die Frau, der die Ehe grausam war, und das Mädchen, dessen Liebster in der Ferne weilt, sie alle singen, althergebrachten, vom Erlebnis umgeschmolzenen Gesang. Des Festmahls höchste Freude ist das Lied; es gibt dem Zechen seine Weihe; nach den Gesängen ist die Hochzeitsfeier gegliedert. Wenn eine Reisegesellschaft, wie es vornehmlich im Winter Brauch und Bedürfnis ist, zu Kauf und Verkauf aus den oberen Bezirken in die Städte und auf die Märkte zieht, bei der Ausfahrt schon verbunden oder auf dem Wege zusammengeströmt, singt sie in allen Herbergen und macht die berühmten Runen der Heimat im weiten Lande bekannt. Und die Frauen singen, wie einst die Frauen von Lesbos, beim Mahlen des Korns: ihre »Mühlenlieder« – von der Liebe und von der Not des Frauenlebens. Bekanntes wird gesungen, aber auch Neues, und beides ist eins; denn der Sänger selbst scheidet nicht, was ihm sein Sinn befiehlt, von dem, was er als Kind übernommen hat. Auch der Berufene, der Laulaja, nicht, der sich aus der singenden Menge erhebt als der Sendbote der dauernden, von Geschlecht zu Geschlecht gehenden Dichtung und über der flüchtigen Welle den großen feierlichen Zusammenhang trägt. Ein Bauer wie die andern, nicht durch Stand, sondern durch Wissen vor ihnen ausgezeichnet; seiner Sprache kundig, daß er über all ihre Köstlichkeit gebieten kann und um frei zu sein nicht aus dem Bann des Gesetzes zu schreiten braucht; im schriftlosen Gedächtnis die Fülle überlieferten Gesanges fassend, den er in der Jugend dem Vater und den alten Meistern ablauschte; ehrfürchtig gegen die Tradition und doch auch, fast ohne es zu merken, unabhängig von ihr; des guten Verses sicherer Kenner und Verwalter, ohne um Regeln zu wissen: so erhält der Laulaja das Erbe der Vorzeit, vor allem die epische Rune lebendig. Er trägt sie, zumeist beim Festgelage, nach uralter Sitte vor: er wählt sich einen Helfer, der in der Mitte des Verses einfällt, ihn mitsingt und sodann allein wiederholt, oft mit Einfügung eines bekräftigenden Wörtchens, dieweil der Laulaja sich auf den nächsten Vers besinnt. So sitzen sie einander gegenüber, Knie an Knie und Hände in Händen, die Köpfe sacht einander zubewegend, und singen, nach einer einfachen, gleichmäßigen Melodie, deren Einfalt und Liebreiz so groß sind, daß sie ewig nur vertraut, nicht gewohnt wirkt, zum Spiel der Kantele, der fünfsaitigen Harfe, von der erzählt wird, der mythische Ursänger Wäinämöinen, der Heros der epischen Rune, habe sie aus dem Holz der Maserbirke und den Haaren einer Jungfrau geschaffen: die Lieder von den Taten der Urzeit.

Aber es gibt noch eine andere Rune, die nicht unstet ist wie die lyrische, sondern als eine heilige Überlieferung gehütet wird, die aber auch nicht öffentlich und allgemeinsam ist wie die epische, sondern in großem Geheimnis von dem Wissenden dem Jünger, vorzugsweise dem Sohne, kundgegeben wird. Es ist dies die Zauberrune. Wie kaum in einem anderen Volk wurzelte im finnischen der Glaube an die Wundermacht des Wortes: des heimlichen urgegebenen Wortes; es ist der aller Magie zugrunde liegende Glaube an die Macht des Gebundenen über das Ungebundene, des strengen Wissens über die wimmelnde Gefahr. Das Wort ist der Herr der Elemente; wer es besitzt, kann schaffen und vernichten, kann alles Übel bannen und den Göttern selber seinen Willen auferlegen. Er singt seine Feinde zu Stein und wilde Tiere in Ketten; er tötet den Frost und zieht ihm seine Kleider aus; Kalma, der Tod, ist sein Waffengefährte. Er kennt den Ursprung aller Dinge und so werden alle Dinge ihm untertan; denn jedes schweifende Wesen wird zuschanden an dem Wissenden, der ihm seinen Ursprung entgegenspricht. Wenn er zu singen beginnt, »zerfließen die Berge wie Butter, die Felsen wie Fleisch der Schweine, die blauen Wälder wie Honig, vom Biere schwellen die Seen, die Tiefen werden erhaben, die Höhen sinken zu Tale.« In der Ekstase spricht er sein Wort, unter gewaltsamen Bewegungen, mit einer neuen Stimme; da wird er zum Haltia, zum Dämon, und sein Tun ist dämonisch, bändigend, überwältigend. Darum ruft er, wenn er ans Werk geht, seine »Natur« an, sie möge unter dem Steine erwachen, die selber hart wie Stein sei, und fährt fort: »Natur des Ahnen, der Ahnin, Natur der Mutter, des Vaters, Natur meiner Voreltern aller, geselle dich zu der meinen, umhüll' mich mit feurigem Hemde, bekleid' mich mit flammendem Pelze, daß ich die Übel verwirre, die Erdunholde beschäme.« Die Zauberrunen, denen die Zitate entnommen sind, sind in Lönnrots Sammlung Suomen Kansan muinasia Loitsirunoja (Des finnischen Volkes alte Zauberrunen), Heisingfors 1880, veröffentlicht; eine englische Übersetzung in Abercrombys The Pre- and Protohistoric Finns, London 1898. War der Zusammenhang mit den Ahnen in der lyrischen Rune unbewußt und musikalisch, in der epischen betrachtend und dichterisch, so ist er in der magischen handelnd und dämonisch. Sie ist der leidenschaftlichste Ausdruck der Tradition. Darum wird sie auch nie einem Fremden ungekürzt mitgeteilt; sie möchte sonst ihre Kraft verlieren; wenn ein Tietäjä, ein Zauberer, nach langem Widerstreben sich bereit erklärt, einem Sammler seine Runen mitzuteilen, so läßt er eine Stelle weg oder verändert sie; wenn dem Spruch drei Worte fehlen, kann er dem Fremden nicht nützen, seine Kraft bleibt bei seinem Eigner.

Die neuere Forschung hat die Frage erörtert, ob die Zauberrune älter sei als die epische Als aus der Zauberrune entstanden, behandelt die epische Comparetti (Der Kalewala oder die traditionelle Poesie der Finnen, deutsche Ausgabe, Halle 1892), als parallele, von einander unabhängige Erscheinungen betrachtet die beiden Runenarten Kaarle Krohn (Wo und wann entstanden die finnischen Zauberlieder? Finnisch-ugrische Forschungen I. II. Helsingfors 1901 f.). Wie immer sich das Historische entscheiden mag: in beiden, in der, die nur erzählen, und in der, die umgestalten will, ja in dem ganzen finnischen Volksgesang äußert sich ein Volk mit der ungeteilten Kraft seiner Instinkte, aus der letzten Ursprünglichkeit seines natürlichen Daseins und aus der gefühlgewordenen Verbundenheit seiner Geschlechtsfolge. Der Laulaja umschließt in seiner Rune das mythische Gedächtnis der Ahnen, der Tietäjä in seiner der Ahnen magische Gewalt. So lebt das mythische, unhistorische Gedächtnis mitten im geschichtlichen Bewußtsein, so lebt die magische, unangepaßte Gewalt mitten in der naturkundigen Zweckweisheit einer neuen Zeit fort. Auch über das Alter der Runendichtung überhaupt sind sehr verschiedene Ansichten geltend gemacht worden: die einen ließen sie in der Zeit der Völkerwanderung, andere in der Zeit der Wikinger, andere in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters entstehen. Gleichviel: im entscheidenden Sinn ist sie so alt wie das Volk, das sie geboren hat, mochte es sie auch, wie Wäinämöinens Mutter ihr Kind, siebenhundert Jahre im Schoße tragen.

III.

Der bedeutendste unter den Laulajat, die für Lönnrot auf seinen Sammelfahrten die Lieder sangen, aus denen er das finnische Epos aufbaute, der achtzigjährige Arhippa Perttunen von Latwajärwi in Russisch-Karelien, führte all sein Wissen auf seinen Vater zurück, »den großen Jiwana«, der ein weit größerer Sänger gewesen sei als er. Er erzählte Lönnrot, wie er als Kind den Vater zum abendlichen Fischfang begleitete und wie da Jiwana Hand in Hand mit einem Gefährten beim Reisigfeuer Nächte durchsang, ohne eine Rune zu wiederholen: »Ich war damals ein kleiner Knabe und lauschte, so erlernte ich die wichtigsten Lieder. Aber viele davon habe ich schon vergessen. Keiner meiner Söhne wird nach meinem Tode in solcher Art ein Sänger bleiben, wie ich nach meinem Vater. Man kümmert sich nicht mehr so sehr um den alten Gesang wie in meiner Kindheit, als er das Größte war sowohl bei der Arbeit, wie auch wenn man sich zur Mußezeit im Dorfe versammelte. Wohl hört man noch den und jenen bei Zusammenkünften singen, sonderlich wenn sie etwas zu trinken bekommen haben, aber selten ein Lied, das einigen Wert hätte. Statt dessen singen die Jungen nur ihre eigenen unanständigen Weisen, mit denen ich meine Lippen nicht beflecken möchte. Ach, wenn jemand in jener Zeit, so wie Ihr nun, Lieder gesucht hätte, er wäre nicht in zwei Wochen damit fertig worden, die allein niederzuschreiben, die mein Vater wußte.«

Das schwermütige Gefühl der schwindenden Rune, das in diesen Worten des alten Laulaja spricht, hängt in einer bedeutsamen Weise mit dem Grundgefühl der Sammlergeneration zusammen, aus der Lönnrot hervorging. Dies ist ja aller nationalen Romantik eigen, daß sie die Schöpfung der Gewalten, deren natürliche Existenz im Leben des Volkes abzusterben beginnt, zu retten strebt, nicht unmittelbar, denn eine Einwirkung auf das triebhafte Volksleben ist ihr versagt, sondern durch Überführung in das Reich des ordnenden und erhaltenden Bewußtseins. Aber wie das Bewußtsein in der Welt gemeiniglich auf Kosten der Vitalität zustandekommt, so ist auch, was in die Sammlung eingeht, an Kraft und Wahrheit des Daseins nicht mehr das Gleiche wie damals, als es wild wuchs, den Kennern unbekannt oder verächtlich, Trost und Wonne den stillen Bauernherzen. Eine blauweiße Madonna des Luca über einer Haustür ist vom Atem all der Kindergeschlechter, die auf der Schwelle spielten, heilig angehaucht und man fühlt sich ihr seltsam ergeben, wie sie so herunterschaut und alles weiß ohne zu wissen; aber die Robbiawände des Bargello sind ein toter Schatz. Sammlungen des Volksgesangs sind Herbarien. Es sei denn, daß das ordnende und erhaltende Bewußtsein von jener einzigen Art ist, die nicht auf Kosten der Vitalität, sondern mit ihr wird und wächst: daß es ein schöpferisches Bewußtsein ist. Der Romantiker, der die volkstümliche Gewalt nur liebt, wird manches Schöne dem allgemeinen Gedächtnis bewahren, aber keine lebendige Ganzheit stiften, die die Ganzheit des gesungenen Sanges zu vertreten vermöchte; der Romantiker, der selbst ein Teil jener Gewalt ist, wird sie in ein neues Leben einsetzen. Solcherart ist Elias Lönnrots Werk gewesen. Die Kraft der finnischen Rune schlug in ihm noch einmal in breiterer Flamme als je zuvor auf; in einer Flamme, die die ganze riesenhafte tausendfach geformte Materie ergriff und zu einem großen Erzbild verschmolz.

Auch vor Lönnrot sind Runen gesammelt, geordnet, ja auch schon nach dem Inhalt aneinandergereiht worden. Ohne ihn gäbe es sicherlich würdige Sammlungen finnischer Volkslieder; aber nicht den Organismus des Kalewala. In ihm vereinigen sich die Kombinationsversuche der Forscher und die der Volkssänger selber. Er hatte die Klarheit des Forschers und die Kühnheit des Laulaja; und er hatte den Glauben eines schöpferischen Menschen. Was er wagte, kann man unwissenschaftlich nennen, weil er Lieder verschiedener Herkunft, verschiedenen Zusammenhangs, verschiedener Gattung durcheinander mischte, man kann es unkünstlerisch nennen, weil er Motive verflocht, die einander widersprachen, Gestalten zusammengoß, die einander unähnlich waren, Verse verlötete, die widereinander schrien; und alle die Verschiedenartigkeit, all der Widerspruch, sie sind noch im Epos drin, aufdringlich, unversöhnbar. Und dennoch: es ist lebende Substanz, es ist wirkende Einheit, es ist werkgewordene Schöpfung.

IV.

Als der arme Dorfschneider Lönnrot an einem Apriltag des Jahres 1802 sein viertes Kind mit der Nachbarsfrau zur Taufe sandte, geriet die auf dem weiten Weg in ein Schneegestöber und hatte, als sie das Ziel erreichte, den mitgegebenen Namen vergessen; so mußte der Pastor im Kalender nachschlagen und taufte den Knaben Elias. In diesem Zeichen stand Elias Lönnrots Kindheit; sie war preisgegeben. In der armseligen Hütte wurde das Mehl mit Flechten und Fichtenrinde gemischt; und wenn auch dieses Brot ausging, hungerte man. Als vollends der Krieg über das Land kam, mußten die Kinder betteln gehen; das tat der sechsjährige Elias so, daß er stumm an den Türen stand und wartete. Auf einer solchen Wanderschaft kam er einigen russischen Soldaten in die Quere; denen war der scheue Junge gerade recht für ihren gröhlenden Spaß: sie packten ihn und warfen ihn in einen Brunnen. All das brachte dem Knaben weder Schaden noch Bitterkeit; wenn er lief oder schwamm, vergaß er den Hunger; und gelang's ihm einmal nicht, dann las er, in den drei Büchern, die im Hause waren, Bibel, Gesangbuch, Katechismus, und da gelang es doch. Für eine Zeit kam der Zehnjährige in die Schule, um das geheimnisvolle Schwedisch zu erlernen; bald mußte er nach Haus zurück und dem Vater bei der Arbeit helfen; wieder erwirkte er es, daß er zur Schule kam, diesmal in die Hauptstadt; da er keine Bücher hatte, saß er, während ein Kamerad zu Mittag aß, mit dessen Buch auf der Treppe und spürte den Winterfrost nicht; drei Jahre lang half er sich durch, indem er dem Universitätsdiener für etliche Pfennige allerlei Arbeit leistete; dann trieb ihn die Not zum zweiten Male nach Hause zurück. Endlich nahm sich ein Pfarrgehilfe des jungen Elias an; auf seinen Rat zog der Siebzehnjährige nach altem Brauch wie einst Luther von Haus zu Haus, seine tiefe Schüchternheit gewaltsam überwindend, sang Psalmen und sammelte Korn ein, woraus zu Hause Brot gebacken wurde; damit versehen, wurde er in ein Gymnasium gebracht. Als der Brotvorrat zu schwinden begann, bekam Elias eine Stelle in einer Apotheke; tagsüber hatte er keinen freien Augenblick, aber in den Nächten lernte er so eifrig, daß er mit zwanzig Jahren die Hochschule beziehen konnte. Die studentische Korporation, in die er einzutreten wünschte – sie feiert jetzt ihr Jahresfest an Lönnrots Geburtstag –, wollte ihn erst nicht aufnehmen, weil er während seiner Schulzeit niedrige Arbeit getan hatte.

Sechs Jahre später, im Sommer 1828, tritt der Magister Lönnrot, der die Medizin zu seinem Fachstudium gemacht hat, seine erste Sammlerfahrt an, zu Fuß, seine Ersparnisse im Betrag von hundert Papierrubeln in der Tasche, als Bauer gemeldet, einen derben Stock in der Hand, die Tabakspfeife im Mundwinkel, den Ranzen auf dem Rücken, die Flinte über der Schulter, im Knopfloch ein Band, daran eine Flöte hängt. Er gibt sich für einen Bauernsohn aus, der seine Verwandten in Karelen besuchen will; doch widerfährt es ihm zuweilen, daß er für einen Landstreicher, ja sogar für einen Räuber angesehen wird. Zumeist wird er sehr gastfrei aufgenommen. Wenn er in einem Dorfe ankommt und mehrere Leute sich um ihn versammeln, spielt er auf seiner Flöte, und lockt noch andere herbei; dann fühlt er sich, wie er in seinem Tagebuch niederschreibt, »wie ein zweiter Orpheus oder, um es vaterländischer zu sagen, wie ein neuer Wäinämöinen«. Ist das Spiel zu Ende, erfragt er von den Zuhörern die Namen der sangeskundigen Bauern des Dorfes und sucht sie auf. Da zieht er nun ein Heft von den unlängst erschienenen Volksliedersammlungen aus der Tasche und liest daraus vor; die Bauern kennen bereits, was er liest, wenn auch oft in anderer Fassung, sie horchen erstaunt und angeregt und kommen bald selbst ins Singen. Nicht immer gerät es; vornehmlich die Zauberer bringen es fertig, sogar dem Branntwein zu widerstehen. Aber allmählich kommt ein reicher Ertrag zusammen, mit dessen Veröffentlichung bald darauf begonnen wird: »Kantele« heißt die Sammlung.

Eine zweite Fahrt wird durch die Nachricht unterbrochen, daß in Helsingfors die Cholera herrscht; Lönnrot kehrt zurück, pflegt die Kranken, wird selbst angesteckt, überwindet die Krankheit und besteht sein Doktorexamen. Auf einer darauffolgenden Sammlerreise haben ihn die Bauern im Verdacht, er sei einer der Brunnenvergifter, die die Cholera ins Land gebracht haben. Kurze Zeit danach läßt er sich als Arzt nieder, in einem entlegenen und wirtschaftlich unergiebigen Distrikt, den er gewählt hat, um dem Gesanggebiet nahe zu sein. Bei seiner Ankunft ist in der Gegend eine Hungerseuche ausgebrochen, die er einen Winter lang bekämpft, wieder mit einer Unterbrechung, da er selbst fast dem Tode verfällt. Eine neue Fahrt folgt, die nicht nur vielfältiges Material bringt, sondern auch den ersten großen, zugleich keimhaften und entscheidenden Versuch zeitigt, die Lieder zu einer epischen Einheit zusammenzuschließen: Ende 1833 schreibt Lönnrot die »Liedersammlung von Wäinämöinen« nieder, etwa fünftausend Verse in sechzehn Runen. Zwei Jahre später, 1835, ist daraus das Kalewala in seiner ersten gedruckten Fassung geworden, das »alte Kalewala«, mehr als 12 000 Verse in 32 Runen. Die Fahrten mehren sich; Mitarbeiter erstehen, die das Land durchziehen und dem Schöpfer des Volksepos ihre Ernte zubringen; aus all dem Stoff gestaltet er das endgültige Werk, das 1849 erscheint, nahezu 23 000 Verse in 50 Runen. Hier erst sind durch Aufnahme neuen lyrischen und magischen Materials die drei Stimmen des Volksgesangs, das epische Gedicht, das Lied und der Zauberspruch in Wahrheit zu einem Chor verbunden und aus der in unübersehbarer Fülle spielenden Flut der Rune ist eine Gestalt, eine Einheit emporgestiegen.

Hunderttausend Varianten der Kalewalalieder ruhen in den Sammlungen der Finnischen Literaturgesellschaft. Welch eine Welt! Und doch steht das einige Epos ihnen gegenüber wie die schmale und auserwählte Wirklichkeit dem überreichen Chaos der Potentialität. Daß der finnische Volksgesang sich so zu einem – nicht minder als er lebendigen – Werke verengerte und objektivierte, ist Elias Lönnrots Tat, aus seiner Abstammung, aus seinem Lebensgang, aus seiner Seelenart geboren: aus dem in ihm sich vollendenden Mythos der Finnen. Denn der große Laulaja singt nicht bloß das mythische Dasein, er ist ein Stück von ihm; und Elias Lönnrot war der letzte der großen Laulajat.

Lönnrot hat sowohl zwischen den beiden Kalewalafassungen als später Sammlungen von Volksliedern, von Sprichwörtern, von Rätseln, von Zauberrunen (diese, bereits erwähnte, erschien 1880, vier Jahre vor seinem Tode) veröffentlicht, die für die finnische Volkskunde grundlegende Bedeutung haben; aber groß und eines Werkes Meister war er nur das eine Mal, als er nach seiner Laulajanatur schaffen durfte.

V.

Daß er die Seele eines Laulaja hatte und daß er ein Nachgeborener war, in dem der Sinn des Volkssängers, der Glaube an die Ureinheit des nationalen Mythos, Bewußtsein und Wille wurde, daraus ist Lönnrots Methode in der Gestaltung des Kalewala zu verstehen; eine Methode, die wir als den einzigen uns nach Material und nach Mitteilungen des Bearbeiters bekannten Weg der Entstehung eines Volksepos lückenlos überschauen können Eine gute, auf Ergebnissen der neueren finnischen Forschung, insbesondere der Arbeiten von Julius und Kaarle Krohn beruhende Darstellung der Entwicklung der einzelnen Motive enthält F. Ohrts Buch Kalevala som Folkedigtning og National-epos, Kopenhagen 1908, das auch über die vorlönnrotschen Versuche zusammenfassend berichtet..

Mag Lönnrot auch die erste Anregung zu seiner epischen Konzeption von Äußerungen und Versuchen einiger für Ossian begeisterten, von Herder bestimmten, durch die Homerfrage tiefbewegten Männer empfangen haben, mögen ihm sodann die von den Laulajat selbst herrührenden Liederverknüpfungen, die er auf seinen Fahrten kennenlernte, einen unmittelbaren Antrieb gegeben haben: was ihn zuinnerst lenkte und lehrte, war der Glaube an die ursprüngliche Einheit.

Schon Porthan hatte durch Zusammenschiebung der Varianten den fiktiven »Urtext« eines Liedes wiederherzustellen gesucht, aber er tat es als Philologe, ohne zureichendes Verständnis für das flutende Leben des Gesanges, dem der Gott in jeder Stunde nahe ist und von dessen Wandlungen jede ihr eigenes Recht hat. Dieses Verständnis hatte Lönnrot. Darum vermeinte er nicht, einen ursprünglichen Text wiederherstellen zu können, sondern er wollte eine Einheit bilden, die der Einheit des alten Epos, an das er glaubte, nicht gliche, sondern entspräche; die das alte Epos gleichsam als Kristallisationskern, von dem vielfältigen Lied der Jahrhunderte umschlossen, in sich trüge; und die solchermaßen das ganze Leben des finnischen Volkes darstellte.

Lönnrot wußte, daß dies nur durch einen Akt der Willkür, der Usurpation vollbracht werden konnte; aber dieser Akt war eben von je dem Laulaja eigen gewesen, und indem Lönnrot usurpierte, ordnete er sich ein. Das sprach er in der Einleitung zum neuen Kalewala dadurch aus, daß er die Worte des wagefrohen Leminkäinen im Epos:

Ich erhob mich selbst zum Sänger,
Schuf mich selbst zum Zaubersprecher

auf sich anwandte.

Diese scheinbare Willkür ist in Wahrheit Vollstreckung und Vollendung. Die neue finnische Forschung hat gezeigt, daß die epische und die magische Rune in verschiedenen Gegenden entstanden sind und auf ihren Wanderungen mannigfache Verbindungen eingingen; in Finnisch-Karelen verschmelzen diese Verbindungen zu neuen Gesängen, die eine neue Art episch-magischer Dichtung konstituieren; in Russisch-Karelen endlich reihen sich die Gesänge um einzelne herrschende Personen und Motive, verknüpfen sich zu Zyklen; Russisch-Karelen ist das Sammelgebiet Elias Lönnrots, der das zyklische Material zum Epos verschmolz. »Es gab nur eine Zeit und nur eine Gegend, deren Gesangsart einem Manne die Möglichkeit darbot, das Kalewalaepos zusammenzustellen.« Kaarle Krohn, Zur Kalewalafrage (Anzeiger der Finnisch-ugrischen Forschungen I). Womit nun freilich die spezifische Genialität dieses Mannes als das unmittelbare und entscheidende Agens ausgesprochen ist, da ja mit ihm nicht nur die Tätigkeit des letzten Kombinierens, sondern auch die nicht minder bedeutsame des Wählens hinzutritt, die recht eigentlich ein Privilegium des Genies ist. Die Laulajat verknüpften Motive und Lieder zu zykischen Gebilden; sie flochten zur Schmückung eines Gesangs Stücke aus andern ein; ja sie ersannen auch selbst wohl, wo es not tat, verbindende Verse. Aber Lönnrot war der erste und einzige, der das Mannigfaltige besaß und das Eine aus ihm bestimmte.

Haim Steinthal sprach einmal Das Epos (Zeitschrift für Völkerpsychologie V 1868). von der immanenten Einheit, die das Epos, ehe Lönnrot es heraushob, in den Liedern selbst hatte, ohne daß jemand von ihr wußte. Aber das war nur eine dynamische Einheit, die Einheit gemeinsamen Werdens. Und wohl mag eine Ureinheit sich in ihr kundgegeben haben, aber diese war eine Einheit vor dem Liede: die elementare Einheit des mythenbildenden Volkstriebs und seines Bilderspiels.

VI.

Wenn irgendeiner Dichtung, kommt dem Kalewala der Name eines Volksepos zu: von des Volkes Urträumen geboren, im breiten Leben der Volkszeiten erwachsen, empfing es die Bildung und den Zusammenhang von einem, der aus Blut und Schicksal der tragenden, wesenerhaltenden Volksschichten gekommen war. Aber noch durch etwas Anderes, Besonderes ist das Kalewala das finnische Volksepos: daß es die beiden Elemente des volkstümlichen Mythos, das imaginative und das aktive, die im alten Volksgesang sich gesondert als die epische und die magische Rune äußerten und allmählich erst unbeständige Verbindungen eingingen, endgültig in der gleichsam urkundlichen Form des Werkes vereinigte und so der Einheit des lebendigen Mythos einen einheitlichen Ausdruck schuf.

Der finnische Mythos ist seiner ganzen Art nach ein magischer: nicht des Gottes sondern des Menschen Macht ist sein eigentümlicher Erhalt. Die finnischen Götter sind vage Gebilde, ohne Eigenwillen, ohne Gemeinschaft, ohne eine Geschichte; alles, was von ihnen ausgesagt wird, fließt aus dem Wesen der magischen Handlung, die sie regiert, die sind nicht Verweser des Zornes und der Gnade, denen der Mensch als Bittsteller naht, sondern Bündel von Kräften, die der Magier in Bewegung setzt; sie sind Sendlinge und Werkzeuge dessen, der sie anruft; Zauber und Segenzauber schleudern widereinander den Gott, den Wahllosen, wie ein Wurfgeschoß hinüber und herüber.

Freilich sollen ja auch die Heroen des Epos, Wäinämöinen, der Weltsänger, Ilmarinen, der Weltschmied, ursprünglich Götter sein, jener ein Gott des Wassers, dieser der Luft; und ihnen ist ja all dies eigen: Wille, Gemeinschaft, Geschichte. Aber was von ihnen erzählt wird, das wird von ihnen eben nicht als Göttern, sondern als zaubermächtigen Menschen erzählt. Von der einstigen göttlichen Natur Wäinämöinens reden nur versprengte Spuren, von der Ilmarinens kaum mehr als sein Name. Erst durch die Vermenschlichung haben sie eine Geschichte gewonnen, mit der sie jetzt all den Götterschemen gegenüberstehen wie das Gezeugte dem Gedachten.

Und diese Geschichte des Heros ist auch wieder nichts anderes, als eine Kette magischen Geschehens. Die Macht der Dinge und die Übermacht des Zauberers – das ist der Gegenstand der epischen Rune. Darum hat sie auch keine rechte Kontinuität, sie verläuft episodisch, explosiv: das Leben des Zauberers sind seine Machtäußerungen, die nicht eigentlich aufeinander folgen, von denen jede für sich steht als ein Ring, jede den Weltprozeß neu beginnend und beschließend. Denn das Reich der Magie ist keine Welt der Abfolge und des ursächlichen Zusammenhanges aller Vorgänge; das Wirkende und das Bewirkte sind seine Pole, zwischen ihnen die zuckende Tat, um sie das brandende Nichts.

Die wesentliche Tat aber in der finnischen Magie ist das Wort. Der finnische Zauberer ist der Runensprecher, der Runensänger. Durch das Wort werden im Epos Tierscharen, Wälder, Sterne erzeugt, Gewalten aus dem Wasser, aus der Wolke, aus der Erdtiefe berufen, Wunden geschlagen und geheilt, Menschen getötet und ins Leben zurückgebracht, der Frost ausgesandt und bezwungen, der Boden fruchtbar gemacht und dem Samenkorn göttliche Kraft verliehen. Wäinämöinen fehlen drei Worte, um ein Boot zu vollenden; er sucht sie vergebens in der Unterwelt und zwingt endlich den Urriesen Wipunen, in dessen Bauche zu ruhen, sie ihm auszuliefern, so waltet in allem Sein das schöpferische Wort. Wie der ägyptische Gott die Dinge als innere Worte in seinem Leibe trägt und sie schafft, indem er sie als Laute zum Munde hinauswirft, so schafft der finnische Zauberer die Dinge, die er singt.

Aus dem Glauben an die schöpferische Macht der Rune ist der finnische Volksgesang zu erfassen. Das Zauberlied ist das Dokument dieser Macht, das epische Lied der Bericht von ihr und ihre Verherrlichung. In ihm feiert der Gesang sich selber, indem er seine Macht erzählt. Aber erst durch die Aufnahme der Zauberrune wird der Akt vollkommen. Die Laulajat pflegen die Zauberrunen nur anzudeuten; Lönnrot erst hat sie wirklich in die epische Rune eingeführt.

Durch die Vereinigung der beiden Arten stellt das Kalewala den finnischen Mythos des Zauberers dar, vollendet es den finnischen Volksgesang, wird es zum Epos des schöpferischen Wortes.

Ich, sagt der Laulaja zuweilen, statt den Namen des Helden zu nennen, und erzählt die Tat, als habe er sie getan. In dieser naiven Kundgebung lebt der tiefe Sinn des Kalewala wie die Magie des Kindes in seinem Lächeln.


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