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Achte Rune

Auf dem Wege sieht Wäinämöinen die reizend gekleidete Jungfrau des Nordlands und bewirbt sich um sie 1–50. Die Jungfrau will sich endlich seinen Wünschen fügen, wenn er aus den Splittern ihrer Spindel ein Boot zimmert und es ins Wasser bringt, ohne <a name="page 367" title=" MEsswein/adelheidis" id="page 367"> </a> es irgendwie zu berühren 51–132. Wäinämöinen fängt an zu zimmern, schlägt sich aber mit der Axt eine große Wunde ins Knie und kann den Lauf des Blutes nicht stillen 133–204. Er geht, um einen Zauberkundigen zu suchen, der ihm das Blut stillen könnte und findet einen alten Mann, der dem Blutstrom Einhalt zu tun verspricht 205–282.

Nordlands wunderschöne Jungfrau,
Eine Zier von Land und Wasser,
Saß grad' auf der Lüfte Bogen,
Glänzte an des Himmels Wölbung
In dem strahlenden Gewande,
In dem schimmerhellen Kleide;
Webte ein Geweb' von Goldstoff,
Wirkte sorgsam Silber drunter,
Golden war das Weberschiffchen
Und der Weberkamm von Silber. [10]

Lustig saust' das Weberschiffchen,
Flog die Spule durch die Hände,
Knarrend regten sich die Schäfte,
Rauscht' der Silberkamm in Eile
Am Geweb' der schönen Jungfrau,
Die mit Silber sorgsam wirkte.

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Jagte lärmend auf dem Wege
Aus dem nimmerhellen Nordland,
Aus dem düstern Sariola; [20]
War gar wenig noch gefahren,
War sehr weit nicht fortgekommen,
Hört des Weberschiffleins Schwirren
Grade über seinem Haupte.

Hob den Kopf da in die Höhe,
Schaute rasch empor zum Himmel:
Steht ein Bogen schön am Himmel,
Eine Jungfrau auf dem Bogen,
Webet ein Gewand von Goldstoff,
Wirket rauschend mit dem Silber. [30]

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Hält gleich an mit seinem Rosse,
Redet Worte solcher Weise,
Läßt sich selber also hören:
»Komm, o Jungfrau, in den Schlitten,
Setze dich an meine Seite!«

Antwort gibt ihm so die Jungfrau,
Also redet sie und fragt ihn:
»Was wohl soll ich in dem Schlitten,
Was das Mädchen in dem Fahrzeug?« [40]
Wäinämöinen alt und wahrhaft
Gab ihr Antwort solcher Weise:
»Deshalb sollst du in den Schlitten,
Du o Jungfrau hier dich setzen,
Daß du Honigbrot mir backest,
Daß das Bier du mir bereitest,
Auf den Bänken munter singest,
An dem Fenster dich erfreuest
In den Räumen von Wäinölä,
Auf den Höfen Kalewalas.« [50]

Doch die Jungfrau redet also,
Gibt zur Antwort diese Worte:
»Ging zum bunten Blumenfelde,
Schaukelt' auf der gelben Heide
Gestern in der Abendspäte,
Nach dem Sonnenuntergänge,
Hörte dort ein Vöglein singen,
Hörte eine Drossel zwitschern,
Singen von dem Sinn des Mädchens,
Von dem Sinn der Schwiegertochter. [60]

»Fragte da den guten Vogel,
Sprach zu ihm auf diese Weise:
›O du liebe Ackerdrossel,
Singe, daß ich's recht vernehme,
Wie ist's besser wohl zu leben,
Wie zu leben angenehmer:
Als ein Mädchen bei dem Vater
Oder bei dem Mann als Gattin?‹

»Auskunft gab der liebe Vogel,
Also zwitscherte die Drossel: [70]
›Sonnenhell sind Sommertage,
Heller noch die Mädchenfreiheit,
Kalt wohl ist im Frost das Eisen,
Kälter lebt die Schwiegertochter,
Gleicht das Mädchen, das zu Hause,
Einer Beer' auf gutem Boden,
Ach, so ist die Frau beim Manne
Wie ein Hund nur an der Kette,
Selten wird dem Knechte Gnade,
Nimmermehr der Frau gewähret.‹« [80]

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Redet selber diese Worte:
»Albern ist des Vogels Singen,
Dummes Zeug der Drossel Zwitschern;
Kind stets bleibt zu Haus' das Mädchen,
Wird als Frau erst recht geehret;
Komm, o Jungfrau, in den Schlitten,
Setze dich an meine Seite;
Bin als Mann nicht zu verachten,
Schlechter nicht als andre Helden.« [90]

Klüglich antwortet das Mädchen,
Redet Worte solcher Weise:
»Möchte dann für einen Helden,
Dann für einen Mann dich achten,
Wenn du mir ein Haar gespalten
Mit dem Messer ohne Spitze,
Wenn ein Ei du eingeknotet,
Ohne daß die Schling' zu merken.«

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Spaltete das Haar behende [100]
Mit dem Messer ohne Spitze,
Das der Schärfe sehr entbehrte,
Bracht' das Ei dann in den Knoten,
Ohne daß die Schling' zu merken;
Bat das Mädchen in den Schlitten,
Bat sie auf den Sitz zu kommen.

Klüglich antwortet das Mädchen:
»Nimmer komm' ich in den Schlitten,
Wenn den Stein du mir nicht schälest,
Einen Stock aus Eis mir hauest, [110]
Ohne daß die Splitter springen,
Ohne daß ein Spänchen sprühet.«

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Ist doch keineswegs verlegen,
Schälet rasch des Steines Rinde,
Haut den Stock ihr aus dem Eise,
Ohne daß die Splitter springen,
Ohne daß ein Spänchen sprühet;
Ruft die Jungfrau in den Schlitten,
Ruft auf seinen Sitz das Mädchen. [120]

Klüglich antwortet das Mädchen,
Redet Worte solcher Weise:
»Möchte dem mich nur gesellen,
Der ein Boot mir zimmern könnte
Aus den Splittern meiner Spindel,
Aus den Stücken meiner Spule,
In das Wasser dann es führte,
In die Flut das neue Schifflein,
Ohne mit dem Knie zu stoßen,
Ohn' es mit der Hand zu fassen, [130]
Mit dem Arme es zu wenden,
Mit der Schulter es zu leiten.«

Spricht der alte Wäinämöinen
Selber Worte dieser Weise:
»Niemand lebt wohl auf der Erde,
Niemand unterm Himmelsdache,
Der gleich mir ein Fahrzeug bauet,
Niemand, der gleich mir es zimmert.«

Nimmt darauf der Spindel Splitter,
Nimmt der Spule krummes Ende, [140]
Eilet fort das Boot zu bauen,
Hundert Bretter drein zu zimmern,
Zu dem stahlgefüllten Berge,
Zu dem eisenreichen Felsen.

Zimmert' um die Wett' am Boote,
Baute prahlerisch den Nachen,
Zimmert' einen Tag, den zweiten,
Zimmerte am dritten Tage;
Nicht geriet die Axt an Steine,
Nicht die Schneide an den Felsen. [150]

Endlich an dem dritten Tage
Lenkte Hiisi rasch den Beilschaft,
Lempo faßte an der Schneide,
Gab dem Schafte kräft'ge Stöße,
Daß die Axt zum Steine schnellte
Und die Schneide hin zum Felsen;
Ab vom Steine prallt' das Eisen,
In das Fleisch fuhr da die Schneide,
In das Knie des armen Mannes,
In die Zehe Wäinämöinens, [160]
Lempo trieb ins Fleisch das Eisen,
Hiisi fügt' es in die Adern,
Heftig flutete der Blutstrom,
Schoß hervor mit starkem Strahle.

Wäinämöinen alt und wahrhaft,
Dieser ew'ge Zaubersprecher,
Redet Worte solcher Weise,
Läßt auf diese Art sich hören:
»O du Beil mit scharfem Schnabel,
O du Axt mit ebner Schneide, [170]
Dachtest einen Baum zu beißen,
Eine Fichte zu verwunden,
Eine Föhre zu befehden,
Eine Birke anzufallen,
Hast die Zehnen mir versehret,
Hast die Adern mir durchschnitten!«

Hebt dann an mit Zaubersprüchen,
Selbst beginnt er da zu sprechen
Ursprungsworte heilgewaltig,
Jedes Grundwort recht vollkommen; [180]
Nicht besinnt er sich auf ein'ge
Große Worte von dem Eisen,
Daß er einen Riegel schaffe
Und ein festes Schloß bereite
Jenen Wunden durch das Eisen,
Die der blaue Mund gerissen.

Schon in Bächen floß der Blutstrahl,
Brauste wie ein Strom im Sturze,
Überzog die Beerensträucher
Und die Kräuter auf den Fluren; [190]
Gab gewiß dort keinen Rasen,
Der nicht überschwemmet worden
Von dem ungeheuren Blutstrom,
Der gar rauschend vorwärts jagte
Aus dem Knie des braven Helden,
Aus der Zehe Wäinämöinens.

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Pflückte Flechten von den Steinen,
Holte Moos sich aus dem Sumpfe,
Rupfte Rasen von dem Boden, [200]
Um das große Loch zu stopfen,
Um die Wunde zu verschließen,
Hatte aber kein Gelingen,
Konnt' das Blut durchaus nicht stillen.

Wurde von dem Schmerz gepeinigt,
Schon empfand er große Mühsal;
Wäinämöinen alt und wahrhaft
Fing gar heftig an zu weinen,
Schirrte dann sein Roß behende,
Spannt' das braune vor den Schlitten, [210]
Setzte sich alsdann mit Mühe
Und erhob sich in dem Schlitten.

Schlug das Roß mit seiner Gerte,
Klatschte mit der prächt'gen Peitsche;
Munter lief das Roß von dannen,
Daß die Bahn gar bald zurückblieb,
Bis sie einem Dorfe nahten,
Wo der Weg sich dreifach teilte.

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Fuhr den untersten der Pfade [220]
Hin zum untersten der Höfe,
Fragte an der Schwelle stehend:
»Ist wohl in dem Hause jemand,
Der des Eisens Taten schauen,
Der des Helden Schmerz erkennen,
Der die Wunde heilen könnte?«

Saß ein Knabe auf dem Boden,
An dem Ofen dort ein Kindlein;
Gab zur Antwort diese Worte:
»Niemand ist in diesem Hause, [230]
Der des Eisens Taten schauen,
Der des Helden Schmerz erkennen,
Der dem Leid ein Ende setzen,
Der die Wunde heilen könnte;
Wohnt vielleicht in anderm Hause,
Fahre du zu anderm Hause.«

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Schlug das Roß mit seiner Gerte,
Rauschte hurtig fort des Weges,
War ein wenig nur gefahren [240]
Auf dem mittelsten der Pfade
Zu dem mittelsten der Höfe,
Fragte an der Schwelle stehend,
Forschte also an dem Fenster:
»Ist wohl in dem Hause jemand,
Der des Eisens Taten schauen,
Der den Blutfluß hemmen könnte,
Der der Adern Strömung stillte?«

Lag ein altes Weib bedecket,
Vor dem Ofen das gespräch'ge, [250]
Gab sofort zur Antwort dieses,
Klappert mit der Zähne Dreizahl:
»Niemand ist in diesem Hause,
Der des Eisens Taten schauet,
Der des Blutes Ursprung wüßte,
Der die Schmerzen stillen könnte;
Wohnt vielleicht in anderm Hause,
Fahre du zu anderm Hause.«

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Schlug das Roß mit seiner Gerte, [260]
Rauschte rasch dahin des Weges,
War gar wenig noch gefahren
Auf dem obersten der Pfade
Zu dem obersten der Höfe,
Fragte an der Schwelle stehend,
An des Schirmdachs starker Stütze:
»Ist wohl in dem Hause jemand,
Der des Eisens Taten schauen,
Der die Blutflut bannen könnte
Und dem Strom ein Ende setzen?« [270]

Auf dem Ofen saß ein Alter,
An dem Ofenfirst ein Graubart,
Von dem Ofen kreischt der Alte,
Ruft der Greis mit grauem Barte:
»Größeres ward schon gedämmet,
Stärkeres ward schon bezwungen
Durch drei Worte nur des Schöpfers,
Durch Erzählung von dem Ursprung,
Bäch' und Seen selbst bezähmet,
Ströme selbst mit jähem Sturze, [280]
Buchten an des Landes Spitzen,
Baien an den schmälsten Zungen.«


Anmerkungen

Vers 1 ff. Die Identifizierung der »Jungfrau auf dem Regenbogen« mit Louhis Tochter stammt von Lönnrot.

179. Ursprungsworte: Der finnischen Magie – wie der mancher andern Völker (vgl. z. B. die Beschwörung »Wir kennen, o Schlaf, deinen Ursprung« im Atharva-Veda) – nach ist es zur Beherrschung oder Bewältigung eines Dinges notwendig, das Geheimnis seines Ursprungs ( synty zu kennen. Dadurch, daß »der tiefe Ursprung« ausgesprochen wird, wird das Übel gebannt; das Böse ist machtlos gegen den, der sein Wesen erkannt hat. Nach Castréns Meinung (Vorlesungen von 1841, Kleinere Schriften S. 293) hat die Ursprungsrune zum Teil den Zweck, das widerstrebende Element durch Darlegung seiner fragwürdigen Vorgeschichte ins Unrecht zu setzen, zum Teil den, durch Untersuchung der Herkunft eines Übels das Mittel zu dessen Beseitigung zu bestimmen. Einige der schönsten Ursprungslieder sind in das Kalewala aufgenommen; eine große Anzahl anderer hat Lönnrot in seiner Zauberrunen-Sammlung ( Suomen Kansan muinasia Loitsurunoja, Helsingfors 1880) vereinigt. (Vgl. Abercrombys Übertragung, The Pre- and Protohistoric Finns II, 304-389 und dessen Aufsatz, An Analysis of certain Finnish Myths of Origin, in Folklore 1892, sowie den von Beauvais, La magie chez les Finnois, in der Revue de l'histoire des religions 1882. – Die magische Heilkunde hat Lönnrot in seiner Abhandlung Om Finnarnes magiska medicin, Helsingfors 1841, behandelt.)

187 ff. So braust im Liede vom Tode des Schöpfers (d. h. Christi) das heilige Blut wie ein Wasserfall über die Berge, und in einem Zauberlied zum Blutstillen strömt Jesu Blut unablässig fort, bis seine Mutter ihre Hand in die Wunde legt.

218. Finnische Dörfer sind häufig derart auf Hügelabhängen erbaut, daß je drei Häuser übereinander liegen, zu denen drei Wege führen.

271. »Der Finne liebt die Wärme des Ofens auch noch heute außerordentlich. Daher baut er ihn, sobald es der Raum im Hause zuläßt, so groß, daß er oben auf ihm liegen kann. Und so wird man denn auch beim Eintritt in die finnischen Bauernhäuser oft von dem eigentümlichen Anblick überrascht, wie oben vom Plateau des Ofens ein paar Köpfe heruntergucken. Da liegen, wenn das Dach des Ofens, wie häufig, groß und geräumig ist, Alt und Jung durcheinander und pflegen sich in der heißen Luft – und im Rauch!« (Retzius, Finnland, S. 75.)


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