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Vierunddreißigste Rune

Kullerwo geht fort von Ilmarinen, wandert kummervoll durch den Wald und erfährt endlich von einer Alten, daß seine Eltern und Geschwister noch am Leben seien 1–128. Er findet sie nach der Anleitung der Alten an den Grenzen der Lappen auf 129–188. Die Mutter erzählt, wie sie ihn bereits längst tot geglaubt habe, und ferner, wie ihre ältere Tochter in den Wald nach Beeren gegangen und dort verschwunden sei 189–246.

Kullerwo, der Sohn Kalerwos,
Er, der Knab' mit blauen Strümpfen,
Mit den schönen, goldnen Locken,
Mit den Schuhn aus feinem Leder,
Macht sich selber auf zu wandern
Von dem Schmieder Ilmarinen,
Eh' die Kunde von dem Tode
Seines Weibes er erhielte,
Eh' in wilden Zorn er fiele
Und die Schlägerei entfachte. [10]

Pfeifend eilt' er von dem Schmiede,
Freudig von dem Boden Ilmas,
Blies gar munter auf der Heide,
Lärmte auf den weiten Fluren,
Sümpfe dröhnten, Länder bebten,
Antwort gab der Heideboden
Auf das Spielen Kullerwoinens,
Auf sein schändlich Jubelrufen.

Hörbar ward es in der Schmiede;
Stand der Schmied auf in der Werkstatt, [20]
Ging zum Weg um zuzuhören,
Zu dem Hof um nachzuschauen,
Was da spielet in dem Walde,
Was da bläset auf der Heide.

Sah nunmehr die ganze Wahrheit,
Ohne Trug er das Geschehnis,
Sah sein Weib am Boden liegen,
Sah die Schöne umgesunken,
Umgesunken auf dem Hofe,
Hingestürzet auf dem Rasen. [30]

Unbeweglich stand der Schmieder,
Tiefe Düsterkeit im Herzen,
Saß die ganze Nacht lang weinend,
Ließ die Tränen lange fließen,
War sein Sinn wie Teer, nicht heller,
Und sein Herz so weiß wie Kohlen.

Kullerwoinen schreitet vorwärts,
Irrt dahin und dorthin weiter,
Einen Tag durch dichte Wälder,
Durch des Hiisi Bauholzheide; [40]
An dem Abend, als es dunkelt,
Legt er sich am Boden nieder.

Dorten saß der Vaterlose,
Dachte also der Verlaßne:
»Wer mag mich geschaffen haben,
Mich, den Elenden, gebildet,
Daß ich Tage, Monde irre,
Immer in dem Raum der Lüfte!

»Andre gehen nach der Heimat,
Andre wandern nach dem Wohnsitz, [50]
Meine Heimat ist die Waldung,
Auf der Heide ist mein Wohnsitz,
In dem Wind die Feuerstelle,
In dem Regen meine Badstub'.

»Nimmer, Jumala, du Guter,
Magst du mehr im Gang der Zeiten
Solch ein Leidgebornes schaffen,
Nie ein Kind, das so verwaist ist,
Ohne Vater unterm Himmel,
Ohne Mutter hier verweilend, [60]
Wie du, Jumala, mich schufest,
Bildetest den Unglücksel'gen,
Gleich der Möwe auf dem Meere,
Dem Seevogel auf der Klippe!
Wohl der Schwalbe scheint die Sonne,
Leuchtet hell dem Sperling selber,
Freudevoll der Lüfte Vögeln,
Mir nur scheint sie keinesweges,
Nimmer mir die Sonn' im Leben,
Freude nicht im Gang der Zeiten. [70]

»Kenn' den nicht, der mich gezeuget,
Weiß nicht, wer mich hat geboren,
Ob das Wasserhuhn zum Weg mich,
In den Sumpf die wilde Ente,
Die Krickente an den Strand warf,
In das Steinloch mich der Säger.

»Klein verlor ich meinen Vater,
Winzig meine liebe Mutter,
Tot sind Vater nun und Mutter,
Tot ist unser Stamm, der große; [80]
Schuhe blieben mir von Eise,
Strümpfe ließ man mir aus Schneeschlamm,
Ließ mich auf dem glatten Reife,
Auf den schwindelreichen Stegen,
Daß ich in die Sümpfe stürze,
In den weichen Moder falle.

»Doch nicht mag in diesem Leben,
Nimmermehr dazu ich kommen,
In dem Sumpf ein schwankes Steglein,
Eine Brück' im Moor zu werden; [90]
Werde in den Sumpf nicht stürzen,
Wenn ich zwei der Hände habe,
Fünf der Finger munter schwinge,
Zehn der Nägel hoch erhebe.«

Da kommt seinem Sinn der Einfall,
Haftet der Gedank' im Hirne,
Nach Untamos Dorf zu gehen,
Will des Vaters Wunden rächen,
Vaters Wunden, Mutters Tränen
Und die eignen schlimmen Tage. [100]

Redet Worte solcher Weise:
»Warte, warte, Untamoinen,
Du Verderben meines Stammes!
Komme ich zu dir zum Kampfe,
Werde ich die Stub' zerstören,
Werd' ich deinen Hof verbrennen.«

Kam des Weges eine Alte,
Blaugeschürzt die Waldesmutter;
Redet Worte dieser Weise,
Läßt sich selber also hören: [110]
»Wohin gehst du, Kullerwoinen,
Wohin eilst du, Sohn Kalerwos?«

Kullerwo, der Sohn Kalerwos,
Redet Worte solcher Weise:
»Kam mir in den Sinn der Einfall,
Haftet der Gedank' im Hirne,
In die Fremde fortzuziehen,
Nach Untamos Dorf zu gehen,
Um des Stammes Tod zu rächen,
Vaters Wunden, Mutters Tränen, [120]
Um die Stuben zu zerstören,
Sie zu Asche zu verbrennen.«

Sprach die Alte diese Worte,
Ließ sich selber also hören:
»Nicht ist dein Geschlecht getötet,
Nicht gestorben schon Kalerwo,
Noch am Leben ist dein Vater,
Wohlbehalten deine Mutter.«

»O geliebte teure Alte!
Sage mir, geliebte Alte, [130]
Wo denn finde ich den Vater,
Wo denn meine holde Mutter?«

»Dorten findest du den Vater,
Dort auch deine holde Mutter,
An der Lappen weiten Grenzen,
An dem langen Strand des Fischsees.«

»O geliebte teure Alte!
Sage mir, geliebte Alte,
Wie wohl kann ich hingelangen,
Wie den Weg ich dorthin finden?« [140]

Gut wirst du dahin gelangen,
Wirst den Weg, ob fremd auch, finden,
Wenn du durch die Waldung wanderst,
An des Flusses Ufer eilest;
Schreitest einen Tag, den zweiten,
Schreitest auch am dritten Tage,
Wanderst grade dann nach Nordwest,
Kommt ein Berg dir dort entgegen,
Schreite an dem Fuß des Berges,
Gehe links du von dem Berge; [150]
Kommt ein Fluß drauf deines Weges,
Dir zur rechten Hand gelegen,
Gehe an des Flusses Kante
Hin an dreien Wasserfällen;
Kommst zur Spitze einer Landzung',
An des Vorgebirges Ende,
Auf der Spitze steht ein Hüttlein,
Steht ein Fischerhaus am Ende,
Dorten lebt dir noch dein Vater,
Dort lebt dir die holde Mutter, [160]
Leben deine beiden Schwestern,
Die zwei schönen jungen Töchter.«

Kullerwo, der Sohn Kalerwos,
Macht sich auf um fortzugehen;
Schreitet einen Tag, den zweiten,
Schreitet noch am dritten Tage,
Wandert dann gerad nach Nordwest,
Kommt ein Berg ihm dort entgegen,
Doch er geht am Fuß des Berges,
Wendet links sich von dem Berge; [170]
Eilet darauf hin zum Flusse,
Schreitet an des Flusses Kante,
An des Flusses linkem Ufer,
An den dreien Wasserfällen;
Kommt zur Spitze einer Landzung',
An des Vorgebirges Ende,
Auf der Spitze war ein Hüttlein,
An dem End' ein Fischerhäuschen.

Gehet ein dann in die Stube,
Nicht gekannt ist er im Raume: [180]
»Woher ist vom Meer der Fremde,
Wo der Wanderer zu Hause?«

»Kennet ihr den Sohn nicht wieder,
Kennt ihr nicht das Kind, das eigne,
Welches Untamoinens Helden
Mit sich fort nach Hause führten,
Als sein Wuchs des Vaters Spanne,
Seiner Mutter Spindel gleichkam?«

Eilig redete die Mutter,
Sprach die alte Frau die Worte: [190]
»O mein armer Sohn, Geliebter,
O du armes Silberschnällchen!
Hast du mit lebend'gen Augen
Diese Länder hier durchwandert,
Da ich dich als tot beweinte,
Als schon lange umgekommen.

»Hatte vormals zwei der Söhne
Und zwei schöne junge Töchter,
Sind von ihnen mir ganz spurlos
Die zwei älteren verschwunden, [200]
In dem großen Krieg mein Söhnlein,
Unausforschlich meine Tochter;
Ist mein Sohn auch nun zurücke,
Will die Tochter nicht erscheinen.«

Kullerwo, der Sohn Kalerwos,
Fragte also nun die Mutter:
»Wohin ist sie denn geraten,
Wo die Schwester hingekommen?«

Sprach die Mutter solche Worte,
Ließ sich selber also hören: [210]
»Dahin ist sie hingeraten,
Dort die Schwester fortgekommen:
Ging nach Beeren in die Waldung,
An des Berges Fuß nach Himbeern,
Dorten ging das Huhn verloren,
Starb das Vöglein jähen Todes,
Eines Todes ohne Kunde,
Dessen Name nicht bekannt ist.

»Wer wohl sehnt sich nach der Tochter?
Keiner also wie die Mutter, [220]
Vor den andern sucht die Mutter,
Sucht und grämet sich die Mutter;
Also ging auch ich, die Arme,
Meine Tochter aufzusuchen,
Lief dem Bären gleich durch Wälder,
Eilt' dem Otter gleich durch Haine;
Suchte einen Tag, den zweiten,
Suchte an dem dritten Tage,
An des dritten Tages Abend
Stieg ich endlich ganz zuletzt noch [230]
Auf des hohen Berges Gipfel,
Auf die allerhöchsten Hügel,
Rief von dort nach meiner Tochter,
Forschte nach der Fortgekommnen:
›Wo denn bist du, liebe Tochter,
Komme, Tochter, doch nach Hause!‹

»Also rief ich nach der Tochter,
Klagte ich nach der Verschwundnen;
Antwort gaben mir die Berge,
Brauste mir die Heide wider: [240]
›Rufe nicht nach deiner Tochter,
Rufe nicht und laß das Schreien!
Niemals wird sie je im Leben,
Niemals in dem Gang der Zeiten
Zu der Mutter Wohnung kehren,
Zu des alten Vaters Bootsplatz.‹«


Anmerkungen

Vers 125 ff. Die Mitteilung der Waldfrau steht im Widerspruch zu dem XXXI 65-70 Erzählten. Ob, wie Léouzon le Duc vermutet, an eine magische Wiedererweckung der toten Eltern durch die Göttin zu denken ist, bleibe dahingestellt. Viel eher ist darauf hinzuweisen, daß die Kullerwo-Erzählung des Epos aus einigen von einander völlig unabhängigen Liedern zusammengestellt ist. Das in der XXXIV. Rune verwertete hatte, wie aus Vers 183-188 und 197-203 zur Genüge hervorgeht, die Version, daß Kullerwo als Kind durch Untamos Krieger geraubt wird und in der unzutreffenden Meinung aufwächst, seine Eltern seien damals getötet worden.


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