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Siebzehnte Rune

Wäinämöinen geht die Worte von Antero Wipunen holen und weckt diesen aus seinem tiefen Schlafe unter der Erde 1–98. Wipunen verschlingt Wäinämöinen und dieser beginnt ihn in seinem Leibe auf das heftigste zu quälen 99–146. Wipunen sucht durch alle nur mögliche Beschwörungen den Unhold los zu werden, Wäinämöinen droht aber, daß er nicht früher von dannen ziehen werde, als bis er von ihm die ihm zur Beendigung des Bootes fehlenden drei Worte erhalten hätte 147–526. Wipunen singt nun dem Wäinämöinen seine ganze Weisheit vor, dieser zieht endlich fort aus dem Leibe, kehrt zu seiner Arbeit zurück und beendigt das Boot 527–628.

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Hatt' die Worte nicht erlanget
Aus den Häusern von Tuonela,
Aus Manalas ew'gen Höfen,
Dachte stets in seinem Sinne
Und erwog's in seinem Kopfe,
Wo er wohl die Worte fände,
Wo die günst'gen Sprüch' erlangte.

Kommt ein Hirte ihm entgegen,
Redet Worte solcher Weise: [10]
»Hundert Worte kannst du finden,
Tausend Lieder du erkunden
Aus dem Munde des Wipunen,
Aus dem Bauch des Krafterfüllten;
Führet wohl ein Weg zur Stelle,
Führt ein Fußsteig zu dem Orte,
Nicht gehört er zu den besten,
Auch nicht zu den allerschlimmsten;
Eine Strecke mußt du laufen
Auf der Weibernadeln Spitzen, [20]
Mußt dann eine Strecke gehen
Auf der Männerschwerter Schneiden,
Endlich mußt du vorwärtsschreiten
Auf der Heldenbeile Schärfen.«

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Überlegt nun diese Wandrung,
Schreitet zu des Schmiedes Esse,
Redet Worte solcher Weise:
»Ilmarinen, lieber Schmieder,
Schmiede du mir Schuh' aus Eisen, [30]
Mache Handschuh' mir aus Eisen,
Schmiede mir ein Hemd aus Eisen,
Einen Hebebaum aus Eisen,
Gegen Lohn aus Stahl den Kolben,
Lege Stahl genug nach innen,
Überziehe ihn mit Eisen;
Worte geh' ich jetzt mir holen,
Sprüche will ich mir verschaffen
Aus dem Bauch des Krafterfüllten,
Antero Wipunens Munde.« [40]

Ilmarinen selbst, der Schmieder,
Redet Worte solcher Weise:
»Längst gestorben ist Wipunen,
Längst Antero hingeschwunden,
Nicht mehr legt er seine Fallen,
Stellet nicht mehr seine Schlingen,
Kannst von ihm nicht Worte holen,
Nicht einmal des Wortes Hälfte.«

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Gehet dennoch nichts beachtend, [50]
Läuft den ersten Tag behende
Auf der Weibernadeln Spitzen,
Schwingt sich an dem zweiten Tage
Auf der Männerschwerter Schneiden,
Schreitet sicher dann am dritten
Auf der Heldenbeile Schärfen.

Wipunen, der Liederreiche,
Er, der Alte, stark an Kräften,
Lag mit seinen Liedern dorten,
Mit den Sprüchen ausgestrecket, [60]
Auf den Schultern wuchs die Espe,
Auf den Schläfen eine Birke,
Eine Erle auf dem Kinne,
Auf dem Barte wuchsen Weiden,
Auf der Stirn die Eichhorntanne,
Eine Fichte aus den Zähnen.

Schon erscheinet Wäinämöinen,
Zieht das Schwert, entblößt das Eisen
Aus der Scheide starken Leders,
Aus dem Gurt von Rückenleder, [70]
Fällt die Espe von den Schultern,
Fällt die Birke von den Schläfen,
Von dem Kinn die breiten Erlen,
Von dem Bart die Weidenbüsche,
Von der Stirn die Eichhorntanne,
Fällt die Fichte an den Zähnen.

Stößt die lange Eisenstange
In den großen Mund Wipunens,
In die klaffend offnen Kiefer,
Durch das Kinn, das ewig klappert, [80]
Redet Worte solcher Weise:
»Stehe auf, o Knecht des Menschen,
Aus dem unterird'schen Schlafe,
Aus dem ewiglangen Schlummer!«

Wipunen, der Liederreiche,
Ist alsbald vom Schlaf erwachet,
Fühlt gar heftig sich getroffen
Und von scharfem Schmerz gepeinigt,
Beißet in die Eisenstange,
Beißt die weiche Oberfläche, [90]
Kann den Stahl nicht gleichfalls beißen,
Nicht des Eisens Herz verzehren.

Wäinämöinen, er, der Alte,
Stolpert an dem Munde stehend
Mit dem einen Fuß ins Innre,
Gleitet mit dem linken Fuße
In den großen Mund Wipunens,
Mitten durch die Backenknochen.

Wipunen, der Liederreiche,
Öffnet gleich den Mund noch breiter, [100]
Weitet aus der Kiefer Winkel,
Schlingt den Mann mit seinem Schwerte,
Schluckt ihn rauschend durch die Kehle,
Ihn, den alten Wäinämöinen.

Wipunen, der Liederreiche,
Redet Worte solcher Weise:
»Habe manches schon gegessen,
Eine Zieg', ein Schaf gespeiset,
Eine güste Kuh verschlucket,
Einen Eber wohl verschlungen, [110]
Nie doch hab' ich solche Speise,
Solchen Bissen nie gekostet.«

Selbst der alte Wäinämöinen
Redet Worte solcher Weise:
»Seh' schon mein Verderben nahen,
Seh' den Tag des Unheils kommen,
Hier in dieser Hürde Hiisis,
Hier in diesem Pferche Kalmas.«

Er besinnt und überlegt es,
Wie zu sein und wie zu leben; [120]
In dem Gurt steckt ihm ein Messer
Mit dem Schaft von Masernholze,
Zimmert aus dem Schaft ein Fahrzeug,
Baut ein Boot sich zauberkundig,
Rudert fleißig mit dem Schifflein
Durch den Darm nach beiden Enden,
Rudert fort durch alle Gänge,
Schlängelt sich durch alle Winkel.

Wipunen, der Liederreiche,
Fühlt sich dadurch nicht belästigt; [130]
Darum macht nun Wäinämöinen
Selber sich zu einem Schmiede,
Fängt das Eisen an zu hämmern,
Macht sein Hemd geschwind zur Werkstatt,
Aus den Ärmeln macht er Bälge,
Aus dem Pelz den Blasebalg dann,
Aus dem Hosenpaar die Röhren,
Aus den Strümpfen dann die Mündung,
Brauchet seine Knie als Amboß,
Seinen Arm braucht er als Hammer. [140]

Schmiedet so mit großem Lärmen,
Hämmert zu mit lautem Klopfen,
Schmiedet ohne Rast die Nächte,
Schmiedet auch am Tage emsig
In des Krafterfüllten Bauche,
In des Großgewalt'gen Busen.

Wipunen, der Liederreiche,
Redet Worte solcher Weise:
»Wer wohl bist du von den Männern,
Wer wohl aus der Zahl der Helden? [150]
Hab' verzehret hundert Helden,
Tausend Männer wohl verschlungen,
Nie gegessen deinesgleichen:
Kohlen steigen auf zum Munde,
Brände kommen an die Zunge,
Eisenschlacken in die Kehle.

»Gehe, Scheusal, auf die Wandrung,
Fliehe fort, du Landesplage,
Eh' ich deine Mutter suche,
An die Mächtige mich wende! [160]
Sage ich es deiner Mutter,
Offenbare ich's der Alten,
Hat die Mutter mehr zu leiden,
Große Schmerzen dann die Alte,
Wenn der Sohn so schlecht gehandelt,
Wenn das Kind so schlimm geraten.

»Kann es auch nicht recht begreifen,
Kann es wahrhaft nicht ergründen,
Wie du, Hiisi, hergewandert,
Wie du, Scheusal, eingedrungen, [170]
Mich zu beißen, mich zu plagen,
Mich zu fressen, zu verzehren;
Bist du Krankheit, die der Schöpfer,
Siechtum, das Jumala sandte,
Oder bist du Menschenmachwerk,
Bist von anderen geschaffen,
Bist du etwa angeworben,
Gegen Geld hieher gedungen?

»Bist du Krankheit, die der Schöpfer,
Siechtum, das Jumala sandte, [180]
So vertraue ich dem Schöpfer,
Übergebe mich Jumala,
Nicht verläßt der Herr die Guten,
Nicht verdirbt er je den Braven.

»Bist du aber Menschenmachwerk,
Bist hervorgebracht als Übel,
Werd' ich dein Geschlecht erfahren,
Deinen Ursprung wohl erkunden.

»Früher kam von dort das Übel,
Ward von dort gesandt das Unheil, [190]
Aus dem Umkreis mächt'ger Zaubrer,
Von der Trift der Sangeskund'gen,
Von dem Sitze böser Geister,
Von der Zeichendeuter Fluren,
Von des Totengottes Heide,
Aus dem Inneren der Erde,
Aus des Abgeschiednen Hofe,
Aus dem Haus des Hingeschwundnen,
Aus dem aufgeworfnen Boden,
Aus der oft durchwühlten Erde, [200]
Aus des Kiessands Wirbelkreisen,
Aus des Sandes ew'gem Klirren,
Aus den vielgekrümmten Tälern,
Aus den moosberaubten Sümpfen,
Aus den schwankenden Morasten,
Aus dem wilden Schoß der Quellen,
Aus des Hiisi-Waldes Hürden,
Aus den Schluchten von fünf Bergen,
Von des Kupferberges Seiten,
Von des erzgefüllten Gipfel, [210]
Von der Tanne vollem Brausen,
Von der Fichte stetem Schnauben,
Von der hohlen Föhre Wipfel,
Aus dem morschen Kiefernstamme,
Aus dem Jammerloch des Fuchses,
Von der Flur der Elentiere,
Aus des Bären Felsenhöhlen,
Aus des Breitbeins Steingemächern,
Von den weiten Nordlandsgrenzen,
Aus des Lappenlandes Öde, [220]
Aus den schößlingsarmen Hainen,
Von den ungepflügten Feldern,
Von den großen Schlachtgefilden,
Von der Männer Kampfesstätte,
Von dem Plan der welken Kräuter,
Von dem Blute, das da dampfet,
Von des weiten Meeres Rücken,
Von der öden Wasserfläche,
Von dem schwarzen Schlamm des Meeres,
Aus der Tausendklaftertiefe, [230]
Aus den Tausend starken Strömen,
Aus den wildbewegten Wirbeln,
Aus dem heft'gen Rutjafalle,
Aus des Wassers kräft'ger Wendung,
Von des Himmels hintrer Hälfte,
Von dem Rand der dürren Wolken,
Von dem Pfad der Frühlingsstürme,
Von des Windes Ruhestätten.

»Bist von dort du hergeraten,
Bist du, Übel, hergeeilet [240]
In das Herz, das nichts verschuldet,
In den Bauch, der nichts verbrochen,
Ihn zu fressen, zu verzehren,
Ihn zu beißen, ihn zu spalten?

»Weich von hinnen, Hund des Hiisi,
Stürze nieder, Welp Manalas,
Geh mir, Scheusal, aus dem Leibe,
Aus der Leber mir, du Untier,
Laß das Herzblatt unverzehret,
Laß die Milz mir ungestöret, [250]
Meinen Magen ungewalket,
Meine Lunge ungewendet,
Meinen Nabel undurchbohret,
Meine Seiten ungefährdet,
Quäle nicht den Rückenknochen,
Hau nicht los auf meine Hüften!

»Sollt' ich selbst nicht Manns genug sein,
Werd' ich einen bessern stellen,
Um das Unheil wegzuschaffen,
Um das Scheusal zu vernichten. [260]

»Ruf von unten Erdenmütter,
Ruf der Felder alte Wirte,
Aus der Erde Schwertesmänner,
Aus dem Sand berittne Helden
Mir zur Hilfe, mir als Mächte,
Mir zur Stütze, mir zum Schutze
Bei den mühereichen Qualen,
Bei den überharten Schmerzen.

»Wenn du dieses nicht beachtest,
Dies dich nicht zum Weichen bringet, [270]
Komm, o Wald, mit deinen Männern,
Mit dem Volk, Wacholderheide,
Föhrenhain, mit deiner Sippe,
Binnensee, mit deinen Kindern,
Hundert Mannen mit den Schwertern,
Tausend Helden, stahlgewandet,
Diesen Hiisi heimzusuchen,
Ihn, den Unhold, zu zerdrücken!

»Wenn du dieses nicht beachtest,
Dies dich nicht zum Weichen bringet, [280]
Steig empor, o Wassermutter,
Blaubemützet aus den Wogen,
Weichen Saumes aus der Quelle,
Aus dem Schlamme reingestaltet
Zu dem Schutz des schwachen Helden,
Zu des kleinen Mannes Beistand,
Daß ich schuldlos nicht gefressen,
Krankheitlos getötet werde!

»Wenn du dieses nicht beachtest,
Dies dich nicht zum Weichen bringet, [290]
Urgeschaffne Schöpfungstochter,
Urgeschaffne, Goldne, Schöne,
Du, die älteste der Frauen,
Du, die früheste der Mütter,
Komm, die Schmerzen zu erkennen,
Komm, das Unheil abzuwenden,
Diese Qualen zu entfernen,
Diese Plage fortzuschaffen.

»Willst du dieses nicht beachten,
Willst du nicht von hinnen weichen, [300]
Ukko an des Himmels Nabel,
An dem Rand der Donnerwolke,
Komm herbei, du bist vonnöten,
Komm geschwind, du wirst gerufen,
Schlechte Werke wegzuschaffen,
Die Bezaubrung fortzutreiben
Mit dem feuerschneid'gen Schwerte,
Mit der funkenreichen Klinge.«

»Scheusal, gehe auf die Wandrung,
Fliehe fort, du Landesplage, [310]
Nimmer ist dir hier ein Lager,
Wenn du seiner auch benötigst;
Anderswo setz' deine Stätte,
Weiter fort du die Behausung,
Bei dem Wohnsitz deines Wirtes,
Auf den Wegen deiner Wirtin!

»Bist du dann dorthin gekommen,
An der Fahrten Ziel gelanget,
In die Nähe deiner Schöpfer,
Zu den Triften der Erzeuger, [320]
Gib ein Zeichen, daß du da bist,
Heimlich künde mir die Ankunft,
Tose wie des Donners Krachen,
Blitze wie des Feuers Schimmer,
Stoße an die Tür vom Hofe,
Zieh ein Brett herab vom Fenster,
Schlüpfe darauf in das Innre,
Fliege flatternd in die Stube,
Fasse an des Fußes Sehne,
An der Ferse schmalste Stelle, [330]
Pack' den Wirt im fernsten Winkel,
An der Türe du die Wirtin,
Grabe aus des Wirtes Auge,
Und zerbrich den Kopf der Wirtin,
Bieg die Finger du zu Haken,
Krumm dreh' ihnen du die Köpfe!

»Sollte dieses wenig frommen,
Flieg als Hahn du auf die Gasse,
Als ein Küchlein zu dem Hofe,
Mit der Brust zum Kehrichthaufen, [340]
Scheuch' die Rosse von der Krippe,
Von dem Freßtrog du das Hornvieh,
Drücke du in Mist die Hörner,
Auf den Boden hin die Schwänze,
Dreh' die Augen aus den Höhlen
Und zerbrich mit Kraft die Nacken.

»Bist du Krankheit, die vom Winde
Her zu mir gesandt, geblasen,
Von der Frühlingsluft geführet,
Von dem Froste hergeleitet, [350]
Gehe auf dem Weg des Windes,
Auf der Bahn der Frühlingslüfte,
Ohne auf dem Baum zu sitzen,
Auf der Erle auszuruhen,
Grade zu dem Kupferberge,
Zu dem kupferreichen Gipfel,
Daß der Wind dich dorten wiege,
Dort die Lüfte dich behüten!

»Bist vom Himmel du gekommen,
Von den regenlosen Wolken, [360]
Steige dann zurück zum Himmel
Und erheb' dich in die Lüfte,
Ins Gewölk, das ausgestreute,
Zu den flimmerhellen Sternen,
Daß du feuergleich dort brennest,
Daß du flammengleich dort glühest
Auf der Sonne langer Laufbahn,
An des Mondes rundem Hofe!

»Bist du von der Flut geführet,
Von dem Wasser hergetrieben, [370]
Mögst du zu dem Wasser kehren,
In die Fluten wieder jagen,
Zu dem Rand des schlamm'gen Schlosses,
Zu des Wasserberges Rücken,
Daß dich dort die Fluten wiegen,
Dort die Wogen fleißig schaukeln!

»Bist du von den Fluren Kalmas,
Aus der Hingeschiednen Wohnung,
Kehre in die Heimat wieder,
Kehre zu den Höfen Kalmas, [380]
In den aufgeworfnen Boden,
In die oft durchwühlte Erde,
Wo das Volk hineingesunken,
Wo die starke Schar gefallen!

»Bist du, Tor, von dort gekommen,
Aus des Hiisiwaldes Hürden,
Aus des Föhrendickichts Winkel,
Aus des Fichtenhaines Hütte,
Banne ich dich nun von hinnen
Zu des Hiisiwaldes Hürden, [390]
Zu des Fichtenhaines Hütte,
In des Föhrendickichts Winkel,
Daß du dort verbleiben mögest,
Bis des Bodens Bretter faulen,
Schwamm sich an die Wände setzet
Und herab die Decke stürzet.

»Werde dich, o Schlechter, bannen,
Werd', o Unhold, dich vertreiben
Zu des alten Bären Wohnung,
In das Haus der alten Bärin, [400]
In die sumpfdurchzognen Täler,
In die Moore, die nicht auftaun,
In die schaukelnden Moraste,
In den heft'gen Schoß der Quellen,
In die Seen ohne Fische,
In die barschberaubten Wasser.

»Findst du dort auch keine Stätte,
Werde ich dich weiter bannen,
Nach des Nordlands fernen Grenzen,
Zu dem breiten Land der Lappen, [410]
Zu den schößlingsarmen Fluren,
Zu dem ungepflügten Boden,
Ohne Mond und ohne Sonne,
Ohne alle Tageshelle;
Dort ist's wonnig dir zu leben,
Dort vergnüglich dir zu flattern,
An den Bäumen hängen Elen,
Edelhirsche im Gehölze,
Daß der Mann den Hunger stille,
Daß er seine Gier befried'ge. [420]

»Weiter bann' ich dich, den Schlechten,
Banne ich und treib' von hinnen
Dich zum heft'gen Rutjafalle,
Zu dem wildbewegten Wirbel,
Wo die Bäume niedersinken,
Wo die Föhren niederstürzen,
Mit dem Stamm die großen Fichten,
Mit der Krone breite Föhren;
Schwimme da, du böser Heide,
In dem Schaum des Wasserfalles, [430]
Wirble durch die weiten Fluten,
Weile in den engen Wogen!

»Findst du dort auch keine Stelle,
Werd' ich dich von hinnen bannen
In den schwarzen Fluß Tuonis,
In den ew'gen Strom Manalas,
Daß du nie in deinem Leben
Von der Stelle dort entkommest,
Wenn ich selbst dich nicht befreie,
Dich zu lösen mich bereite, [440]
Fahrend mit neun fetten Hammeln,
Die ein einzig Schaf getragen,
Fahrend mit neun starken Stieren,
Die dieselbe Kuh geworfen,
Fahrend mit neun hübschen Hengsten,
Die da Füllen einer Stute.

»Fragest du nach Reisepferden,
Wünschest Rosse du zum Zuge,
Werde Rosse ich dir leihen,
Werd' ein Reisepferd dir geben: [450]
Hiisi hat ein Pferd voll Schönheit,
Auf dem Berg ein rotgemähntes,
Feuer sprühet aus dem Maule,
Flammenhell sind seine Nüstern,
Hufe hat es ganz von Eisen,
Stählern sind des Rosses Beine,
Kann bergaufwärts sich erheben,
In dem Tale sich bewegen,
Wenn der Reiter selber tüchtig,
Wenn er krafterfüllt einherjagt. [460]

»Sollte dieses nicht genügen,
Mögest du des Hiisi Schneeschuh',
Lempos Erlenschuh' erhalten,
Einen Stab des bösen Mannes,
Daß du in das Land des Hiisi,
Nach dem Walde Lempos schreitest,
Hiisis ganzes Land durchschneidest,
Dieses Bösen Land durchgleitest;
Liegen Steine auf dem Wege,
Spreng' sie krachend auseinander, [470]
Liegen Zweige in die Länge,
Brich entzwei sie ohne Zögern,
Steht ein Held quer auf dem Wege,
Schiebe eilend ihn zur Seite!

»Rühre dich, du Überläst'ger,
Fliehe, schlechter Mann, von hinnen,
Ehe noch der Tag beginnet,
Eh' der Morgenschimmer dämmert,
Eh' die Sonne sich erhebet,
Eh' den Hahn man krähen höret, [480]
Zeit ist's, Arger, nun zu gehen,
Zeit, o Schlechter, zu entfliehen,
Bei dem Mondschein zu entschwinden,
In dem Lichte fortzuwandern!

»Fliehst du, Böser, nicht von hinnen,
Gehst, o Hund, du nicht geschwinde,
Nehme ich des Adlers Fänge,
Nehme ich des Vampyrs Krallen,
Nehm' des Vogels Fleischeszangen,
Nehm' des Habichts spitze Zacken, [490]
Daß den Schlechten ich zerdrücke,
Daß das Scheusal ich bezwinge,
Daß der Kopf nicht mehr erzittre,
Nicht der Atem überwalle.

»Einstmals floh der grause Lempo,
Floh das liebe Muttersöhnchen,
Als mir Beistand Gott verliehen,
Seine Hilf' der Schöpfer brachte;
Fliehe du, o Mutterloser,
Scheide, schöpfungsfremder Unhold, [500]
Ziehe, herrenloser Kläffer,
Weiche, mutterloser Welp du,
Während diese Zeit entschwindet,
Dieser Mond zu Ende gehet!«

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Redet selber diese Worte:
»Herrlich ist mir's hier zu bleiben,
Angenehm hier zu verweilen,
Statt des Brotes dient die Leber
Und das Fett ist mir die Zukost, [510]
Gut zu kochen sind die Lungen,
Gute Kost gewährt der Speck mir.

»Werde meine Schmiedestätte
Tiefer in das Herzfleisch setzen,
Werd' den Hammer kräft'ger schlagen
In die allerweichsten Stellen,
Daß du nie in deinem Leben,
Nie von mir befreiet werdest,
Wenn ich nicht die Worte höre,
Nicht die Zaubersprüche lerne, [520]
Nicht sie allesamt vernehme,
Tausend gute Zauberweisen;
Nimmer darf das Wort verborgen,
Nicht versteckt die Sprüche bleiben,
In die Erde nicht versinken,
Wenn die Kund'gen auch vergehen.«

Wipunen, der Liederreiche,
Er, der krafterfüllte Alte,
Hat im Munde großen Zauber,
Unbegrenzte Kunst im Busen, [530]
Öffnete der Worte Kiste,
Machte auf der Lieder Lade,
Um gar guten Sang zu singen,
Um den besten vorzutragen:
Sprüche von dem tiefen Ursprung,
Urgewalt'ge Anfangsworte,
Welche Kinder nimmer kennen,
Nicht ein jeder Held verstehet,
Jetzt in diesen schlimmen Zeiten,
Bei dem sinkenden Geschlechte. [540]

Sang den Ursprung bis zum Grunde,
Fug und Ordnung nach den Zauber,
Wie sich nach des Schöpfers Willen,
Auf des Machterfüllten Fordrung
Von ihm selbst die Luft geschieden,
Aus der Luft sich Wasser trennte,
Aus dem Wasser dann die Erde,
Aus der Erde die Gewächse.

Sang, wie einst der Mond geschaffen
Und die Sonne eingesetzt ward, [550]
Wie des Luftraums Pfeiler wurden,
Wie die Sterne an dem Himmel.

Wipunen, der Liederreiche,
Sang in Fülle, sang voll Kunde,
Nimmer ward gehört, gesehen,
Nie solang die Zeiten dauern,
Der ein bessrer Sänger wäre,
Ein erfahrenerer Meister;
Worte trieb der Mund in Menge,
Schickt' die Zunge gar geschwinde [560]
Gleich des Füllens raschen Beinen,
Gleich des Reitpferds schnellen Hufen.

Singt so tagelang die Lieder,
Singt die Nächte nacheinander,
Seinem Sange lauscht die Sonne,
Stehen bleibt der Mond im Laufe,
Auf dem Meere stehn die Wellen,
In der Bucht die großen Wogen,
Inne hält des Flusses Strömung,
Mit dem Schäumen selbst der Rutja, [570]
Stille hält im Bett der Wuoksen,
Stille steht sogar der Jordan.

Als der alte Wäinämöinen
So die Worte hat vernommen,
Sie genugsam angehöret,
Gute Sprüche sich verschaffet,
Bricht er auf, davonzugehen
Aus dem Munde von Wipunen,
Aus dem Bauch des Krafterfüllten,
Aus des Großgewalt'gen Busen. [580]

Sprach der alte Wäinämöinen:
»O du Antero Wipunen,
Öffne deinen Mund nun weiter,
Tue auf der Kiefer Winkel,
Möchte aus dem Bauch zur Erde,
Nach der Heimat wieder wandern!«

Wipunen, der Liederreiche,
Redet Worte solcher Weise:
»Manches habe ich verzehret,
Tausende bereits verschlungen, [590]
Nie doch einen Mann dergleichen,
Wie den alten Wäinämöinen,
Bist geschickt hereingekommen,
Tuest gut, daß du nun gehest.«

Antero Wipunen öffnet
Die gewalt'gen Backenknochen,
Gibt dem Munde größre Weite,
Sperret auf der Kiefer Winkel,
Selbst der alte Wäinämöinen
Schreitet aus dem Mund des Kund'gen, [600]
Aus dem Bauch des Krafterfüllten,
Aus des Großgewalt'gen Busen,
Gleitet eilends aus dem Munde,
Schlüpft behende auf die Fluren,
Wie ein muntres, goldnes Eichhorn,
Wie der Marder mit der Goldbrust.

Ging nun weiter fort des Weges,
Kam bald zu des Schmiedes Esse,
Sprach der Schmieder Ilmarinen:
»Hast die Worte du vernommen, [610]
Hast die Sprüche du erhalten,
Um des Bootes Rand zu zimmern,
Um den Hinterstamm zu binden,
Um den Vorderstamm zu fügen?«

Wäinämöinen alt und wahrhaft
Redet selber diese Worte:
»Wohl erhielt ich hundert Worte,
Hörte tausend Zaubersprüche,
Das Verborgene empfing ich,
Offenbar ward das Geheime.« [620]

Ging dann hin zu seinem Boote,
Zu der Stätte weiser Arbeit,
Bringt das Boot gar bald zustande,
Bindet fest des Randes Leisten,
Macht den Hintersteven fertig,
Fügt den Vorderstamm zusammen,
Ungezimmert wurde also,
Ohne Spän' das Boot vollendet.


Anmerkungen

Vers 13 ff. Über die Bedeutung des Antero Wipunen, der in dem alten Kalewala mit dem Urriesen Kalewa identifiziert wird, herrschen verschiedene Meinungen. So wird er von Donner als Jagdgott, von Aspelin als Gewitter- oder Sonnengott aufgefaßt, von Beauvois als »die Personifikation des Gebirges, dessen Seiten man durchbohrt, um das Erz daraus zu gewinnen«. Julius Krohn lehnt alle Erklärungsversuche ab und meint, Wipunen sei »vermutlich ein Überbleibsel, das sich aus einem alten vergessenen Mythos in neue Zusammenhänge verirrt habe«. Dieser Auffassung har sich seither die Forschung angeschlossen. Sie sieht (vgl. Ohrt, Kalevala II, 141 f.) in der Erzählung des Epos die Vermischung zweier Motive; des Motivs von Ilmarinen, der, von »Hiisis Weib« geschluckt, sich in ihrem Bauch ein Messer schmiedet und sich damit einen Weg in die Welt schneidet (womit auch das Prosamärchen zu vergleichen ist, wo Ilmarinen in Untamos Magen hinabsteigt und sich dort eine Schmiede errichtet; deutsch bei Schreck, Finnische Märchen S. 3 ff.), und des Motivs von dem toten Seher Wipunen, zu dessen Grab Wäinämöinen kommt, um die drei zaubergewaltigen Urworte zu erfragen, und ihn durch Niederhauen eines Baumes weckt; wie in einem Liede Lemminkäinens Frau, die (statt wie im Kalewala die Mutter) über die Erde geht und ihren Mann sucht, zu Ankerwo Wipunens Grab geht um ihn nach Lemminkäinens Schicksal zu befragen (vgl. K. Krohn: Lemminkäinens Tod, Finnisch-ugrische Forschungen V); die Verbindung zwischen beiden Motiven gaben vermutlich, worauf schon J. Krohn hinwies, die Worte des Liedes:

Hat im Munde großen Zauber,
Unbegrenzte Kunst im Busen,
Reiche Wortgewalt im Bauche.

Der dritte dieser Verse, der im alten Kalewala steht, fehlt im neuen. – Die Verse 59 ff. enthalten ein der Urform ebenfalls fremdes Motiv. Die Beschwörungsformel V. 149-504 hat Lönnrot eingefügt.


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