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Sechste Rune

Joukahainen trägt Haß gegen Wäinämöinen und lauert ihm auf, als er nach dem Nordland zieht 1–78. Er sieht ihn durch den Fluß reiten und schießt auf ihn, trifft jedoch nur sein Pferd 78–182. Wäinämöinen stürzt ins Wasser; ein heftiger Sturmwind trägt ihn hinaus auf den Meeresrücken, Joukahainen aber meldet die Tat seiner Mutter 183–234.

Wäinämöinen all und wahrhaft
Rüstete sich aufzubrechen
Nach der grausig kalten Gegend,
Nach dem nimmerhellen Nordland.

Nahm sein Roß, das strohhalmleichte,
Nahm das erbsenrankengleiche,
Legte an den Zaum dem goldnen,
Tat die Halfter an dem schmucken,
Setzte ihm sich auf den Rücken,
Sprengte rittlings drauf von dannen, [10]
Ritt gemächlich seines Weges
Und durchmaß im Trab die Strecke
Mit dem Roß, dem strohhalmleichten,
Mit dem erbsenrankengleichen.

Trabte durch Wäinöläs Fluren,
Durch die Flächen Kalewalas,
Immer näher rückt das Ziel ihm,
Weiter schwindet ihm die Heimat,
Sprengte längs der Meeresküste,
An der weiten Wasserfläche, [20]
Trocken blieb der Huf des Rosses,
Unbefeuchtet seine Füße.

Doch der junge Joukahainen,
Dieser magre Lappenjüngling,
Hegte Groll seit langer Zeit her,
War seit vielen Tagen neidisch
Auf den alten Wäinämöinen,
Auf den ew'gen Zaubersprecher.

Schafft sich einen Feuerbogen,
Bildet wohl die edle Wölbung, [30]
Fertigt sie aus feinem Eisen,
Gießt das Rückenstück aus Kupfer,
Legt es aus mit gutem Golde,
Spart auch nicht an Silberzierat.

Woher nimmt er wohl die Sehne,
Woraus mag den Strang er machen?
Aus des Hiisi-Elens Sehnen,
Aus des Lempo-Flachses Fäden.

Fertig war des Bogens Fügung,
Ganz vollendet war die Armbrust, [40]
Schön von Anblick war der Bogen,
Kostbar war die gute Armbrust;
Auf dem Rücken stand ein Rößlein,
Längs des Schaftes lief ein Füllen,
Auf dem Bug schlief eine Jungfrau,
Und ein Häslein an der Kerbe.

Schnitzt' sich dann ein Häuflein Pfeile,
Dreifach waren sie befiedert,
Drechselte den Schaft aus Eichen,
Macht' die Spitz' aus harz'gem Holze; [50]
War er mit dem Schnitzen fertig,
So befiedert' er die Pfeile
Mit der Schwalbe schmalen Federn,
Mit des Sperlings Schwanzgefieder.

Danach schärfte er die Pfeile,
Härtete die Bolzenspitzen
In dem schwarzen Saft der Schlange,
In dem Blute gift'ger Nattern.

Fertig hatte er die Pfeile,
Wohl bespannet seinen Bogen, [60]
Wartete auf Wäinämöinen,
Daß den Wogenfreund er fasse,
Spähte morgens, spähte abends,
Spähte auch zur Mittagstunde.

Harrte lang auf Wäinämöinen,
Harrte lange, ward nicht müde,
Lauernd saß er an dem Fenster,
Wachte an des Zaunes Ecke,
Horchte an des Weges Ende,
Spähte an dem Ackersaume; [70]
Auf dem Rücken hing der Köcher,
In dem Arm der gute Bogen.

Spähte dann noch weiter draußen,
Drüben an dem andern Hause,
An der Feuerspitze Ende,
An der Bucht der schmalen Zunge,
An dem Gischt des Wasserfalles,
An des heil'gen Stromes Strudel.

So an einem Tage endlich
Warf er um die Morgenstunde [80]
Gegen Nordwest seine Blicke,
Wandte seinen Kopf zur Sonne,
Sah ein Dunkles auf dem Meere,
Aus den Fluten etwas Blaues:
»Steigt Gewölk wohl auf im Osten,
Oder ist's die Morgendämmrung?«

Nicht war es Gewölk im Osten,
Keineswegs die Morgendämmrung,
Wäinämöinen war's der alte,
Dieser ew'ge Zaubersprecher, [90]
Zog dort seinen Weg zum Nordland,
Ritt drauf los zum Düsterlande,
Auf dem Roß, dem strohhalmleichten,
Auf dem erbsenrankengleichen.

Hastig faßte Joukahainen,
Dieser magre Lappenjüngling,
Seinen flammenschnellen Bogen,
Wendete den schöngeformten
Nach dem Haupte Wäinämöinens,
Um den Wogenfreund zu töten. [100]

Doch da fragte ihn die Mutter,
Forscht' ihn aus die greise Alte:
»Wohin wendest du den Bogen,
Den mit Eisen wohlbeschlagnen?«

Joukahainen gab zur Antwort,
Redet Worte solcher Weise:
»Dahin wende ich den Bogen,
Den mit Eisen wohlbeschlagnen:
Nach dem Haupte Wäinämöinens,
Um den Wogenfreund zu töten, [110]
Wäinämöinen will ich treffen,
Ihn, den ew'gen Zaubersprecher,
Durch das Herz und durch die Leber,
Durch das Fleisch des Schulterblattes.«

Sie verwehrte ihm zu schießen,
Nicht erlaubte es die Mutter:
»Schieße nicht auf Wäinämöinen,
Töte nicht den Sohn Kalewas,
Wäinö ist von großem Stamme,
Ist ein Schwestersohn des Schwagers. [120]

»Schießest du auf Wäinämöinen,
Tötest du den Sohn Kalewas,
Dann entfliehet alle Freude,
Schwindet der Gesang von hinnen;
Besser ist die Freud' auf Erden,
Schöner der Gesang hier oben.
Als in Unterweltsgefilden,
In des Totenreiches Höfen.«

Doch der junge Joukahainen
Übersann nur kurze Zeit es, [130]
Hielt zurück sich nur ein Weilchen;
Trieb die eine Hand zum Schießen,
Wollte es die andre hindern,
Auf die Sehne drückt der Finger.

Endlich sprach er diese Worte,
Ließ sich solcherweise hören:
»Möge immerhin entfliehen
Alle Freude von der Erde,
Mögen alle Lieder schwinden,
Schießen werd' ich, unbekümmert.« [140]

Spannt dann seinen Feuerbogen,
Stützt die kupferreiche Waffe
Auf das linke seiner Knie,
Stemmt den rechten seiner Füße,
Zieht den Pfeil dann aus dem Köcher,
Holt hervor den federreichen,
Wählt den allergradsten Bolzen,
Mit dem allerbesten Schafte,
Diesen setzt er auf den Bogen,
Fügt ihn an die Flachsessehne. [150]

Richtet dann den Feuerbogen
An der rechten seiner Schultern,
Stellt sich hin um loszuschießen
Auf den alten Wäinämöinen,
Redet selber diese Worte:

»Geh nun los, du Birkenspitze,
Strecke dich, du Fichtenrücken,
Gleite ab, du Flachsessehne;
Wenn die Hand zu niedrig zielet,
Mag der Pfeil sich höher richten, [160]
Zielt die Hand zu sehr nach oben,
Mag der Pfeil nach unten gehen!«

Rasch bewegte er den Drücker,
Schoß den ersten Pfeil behende,
Viel zu hoch enteilte dieser,
Über seinen Kopf zum Himmel,
Daß die Wolken schier zerbersten,
Daß die Lämmerwolken wirbeln.

Schoß dann weiter unbekümmert,
Schoß den zweiten seiner Pfeile, [170]
Viel zu niedrig eilte dieser,
In des Mutterbodens Tiefe,
Der zur Unterwelt schier einsinkt,
Seine Kruste jäh zerspaltend.

Alsbald schoß er ab den dritten,
Grade ging der Pfeile dritter
In die Milz des blauen Elens,
Traf des alten Wäinämöinens
Roß mit strohhalmleichtem Körper,
Traf das erbsenrankengleiche [180]
Durch das Fleisch am Kummetknochen,
Durch die linke seiner Schultern.

Wäinämöinen so der alte
Griff die Flut mit seinen Fingern,
Teilte mit der Hand die Wogen,
Schlug mit seiner Faust die Brandung,
Von des blauen Elens Rücken,
Von dem Roß, dem leichten, stürzend.

Es entstand ein großer Sturmwind,
In dem Meere mächt'ge Wallung, [190]
Trug den alten Wäinämöinen,
Schwemmt' ihn weiter fort vom Lande
Auf den weiten Wasserstrecken,
Auf der freien Meeresfläche.

Darauf prahlte Joukahainen
Selber laut auf diese Weise:
»Wirst, o alter Wäinämöinen,
Nimmermehr mit wachen Augen,
Nimmermehr in deinem Leben,
Nie solang das Mondlicht leuchtet, [200]
Durch Wäinöläs Fluren wandeln,
Durch die Flächen Kalewalas!

»Schwimm dahin nun sechs der Jahre,
Lieben Sommer treib einher nun,
Rauschend fahr dahin acht Jahre
In den weiten Wasserstrecken,
In den schrankenlosen Fluten,
Wie die Tanne sechs der Jahre,
Wie die Fichte sieben Jahre,
Acht der Jahre wie ein Baumstumpf!« [210]

Ging dann wieder in die Stube,
Wo die Mutter also fragte:
»Hast auf Wäinö du geschossen,
Hast du Kalews Sohn getroffen?«

Gab der junge Joukahainen
Ihr zur Antwort diese Worte:
»Hab' auf Wäinö wohl geschossen,
Habe Kalews Sohn getroffen,
Daß er nun das Meer durchfege,
Er die Fluten munter kehre; [220]
In des Meeres Wellenwirbel,
In des Wassers Wogentiefe
Fiel der Alte mit den Fingern,
Stürzt' er mit dem Handgelenke,
Krümmte sich auf eine Seite,
Blieb dann auf dem Rücken liegen,
Um so durch die Flut zu treiben,
Durch die Wellen hinzusteuern.«

Doch die Mutter sprach die Worte:
»Schlecht hast du getan, du Ärmster, [230]
Daß auf Wäinö du geschossen,
Daß du Kalews Sohn getroffen,
Ihn, den Helden Suwantolas,
Ihn, die Zierde Kalewalas.«


Anmerkungen

Vers 1 ff. Im alten Kalewala folgt die Erzählung von Wäinämöinens Ritt und dem Schuß des Lappen (der dort noch nicht mit Joukahainen identisch ist) unmittelbar auf die von der Geburt des Helden. Wäinämöinen stürzt ins Wasser und irrt jahrelang darin umher, wie im neuen Kalewala Ilmatar; der Adler legt ein Ei auf seine Knie usw.

37. Hiisi: eine arglistige und verderbenbringende Gottheit. Ursprünglich ein Walddämon, hat Hiisi auch später, als er das böse Prinzip selbst darstellte, einen besonderen Zusammenhang mit dem Wald und den Waldtieren behalten. Sein Elentier hat ein hundertröhriges Geweih. Ein Zauberlied erzählt, in einer Wolke sei ein Wassertropfen, in dem Tropfen ein Boot, in dem Boot sitzen drei Männer: Sankt Andreas rudert, Sankt Petrus steuert, Jesus sitzt in des Bootes Mitte. Was tun sie da? Sie striegeln Hiisis Elentiere.

48. Die Pfeile wurden, um gerade zu fliegen, am hinteren Ende mit Federn versehen, gewöhnlich mit drei Adlerfedern.

177. Das »blaue Elen« ist natürlich das Pferd; der Parallelismus der finnischen Dichtung äußert sich häufig in so wunderlichen Formen.

233. Suwantola, nach Wäinämöinens Beinamen Suwantolainen (vgl. Anm. zu I 107), ist Kalewala.


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