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33

Mr. Henry Fiesel war, wie der Diakon Wheelwright vom Connecticut Inn, ein rudimentäres Überbleibsel der ländlichen Tradition des Hotelwesens. Er war ebenso verschlagen und zugeknöpft wie Wheelwright, aber spekulationslustiger und ganz bedeutend geiziger. Er leitete seit Jahren Hotels in New York, war aber noch immer ein argwöhnischer, jeden Pfennig umdrehender Landgastwirt. Er trug noch immer Galoschen und lange wollene Unterwäsche. Obgleich er in Wirklichkeit glatt rasiert war, stellte man sich ihn, wenn man an ihn dachte, immer mit einem farblosen Backenbart vor. Geistig sozusagen trug er einen farblosen Backenbart. Nur war der nach innen gewachsen.

Er hatte sich von einem Hotel Garni in New York heraufgearbeitet, bis er nun, als Achtundsechzigjähriger, alleiniger Besitzer des Fiesel-Hotels mit neunhundertfünfzig Zimmern war, eines ehrbaren, billigen, aber reichlich vergoldeten Riesenkastens, der einen großen Teil seiner Gewinne aus der Gelegenheitsdrogerie und dem »Schönheitssalon« neben seiner großen Halle zog und aus seinem stets gut besuchten Gotischen Cafe, wo Geschäftsleute Zeit sparten (wofür sie sie sparten, blieb allerdings immer unklar), indem sie zum Lunch gefüllte Eier, Toast Melba und Kaffee verzehrten, und wo ihre Stenotypistinnen behaglicher und eleganter mit einem Specktomatensandwich und einem Eiscreme-Soda herumspielten.

Das Fiesel-Hotel war ein Bahnhof, in dem es allerdings nichts so Romantisches gab wie die Abfahrt von Zügen mit der Bestimmung Key West oder Seattle. Im Herbst 1928, acht Monate nach seinem Abgang vom Black Thread Inn, wurde Myron zum leitenden Direktor dieses überdachten Lagers gemacht.

Er hatte für seine Beteiligung am Black Thread Inn, die theoretisch einen Wert von hundertdreißigtausend Dollar hatte, nur sechzigtausend Dollar bekommen können und war froh gewesen, so viel zu kriegen. Er hatte mit Eifer fünfzehntausend Dollar bei seiner einzigen Börsenspekulation verloren und hatte zu seiner Freude, als er wieder zum wirklichen Arbeiten kam und aus seinem bösen Traum erwachte, noch fünfundvierzigtausend Dollar, die in sicheren Papieren angelegt waren.

In diesen acht Monaten war er, etwas überdrüssig einer Hotelkarriere, die zu Dick Pyes betrunkener Gesellschaft im Gasthof als Abschluß führen konnte, umhergewandert, er hatte mit anderen Möglichkeiten gespielt, so zum Beispiel Kettengaragen einzurichten, und schließlich war er, nicht ganz zufrieden, aber auch nicht mehr mit dem Gefühl völliger Überflüssigkeit und Lächerlichkeit, nicht mehr um fünf Uhr früh aufwachend, um zu grübeln und sich zu quälen, zu seinem Leisten zurückgekehrt und an das Fiesel-Hotel gegangen.

 

Der alte Fiesel redete meckernd und murrend davon, daß er nach Jahren ununterbrochener Arbeit einen Urlaub notwendig hätte, und einen Monat, nachdem Myron die Leitung übernommen hatte, fuhr er mit seiner Frau nach Los Angeles und mietete ein Bungalow für den Winter. Er war gerade lange genug in New York geblieben, um Myron genau erkennen zu lassen, wes Geistes Kind er war.

Myrons Systeme rationalisierten Lebensmitteleinkaufs waren nichts, gemessen an Fiesels natürlicher Begabung, Rohmaterialien um einen Siebentel-Cent die Unze billiger zu bekommen. Er liebte es, Pfennige zu sparen, und sollte es ihn auch Taler kosten. Wenn Büchsengemüse billiger war als frisches, redete Fiesel sich ein, Büchsengemüse schmecke ihm besser. Er ließ das Licht in den Zimmern der Dienstboten um halb elf abstellen. Solange ein alter Teppich mühsam zusammengeflickt werden konnte, gab er niemals zu, daß ein neuer gekauft würde. Er verbrachte Stunden damit, voll vergnügter Energie Strafsätze auszuarbeiten für Geschirrwäscher, die etwas zerbrachen, für Zimmermädchen, denen Handtücher fehlten, ganz gleichgültig, ob sie von Gästen gestohlen oder auf andere Weise verlorengegangen waren, für Kassierer, die den Verbleib von ein paar Pfennigen nicht nachweisen konnten, für Pagen, die morgens eine Minute zu spät kamen oder im Korridor Zigaretten rauchten.

Er verkündete begeistert den »Wert der Bruderschaftsorganisationen«, und dieser Wert bestand für ihn darin, daß er Bankette und Kongresse für seine geliebten Bruderschaftsbrüder veranstalten konnte. Er war sehr überrascht, als sich herausstellte, daß Myron Neuling genug im Hotelgewerbe war, um nur Freimaurer und Elch zu sein, und wies darauf hin, daß der Direktor des Konkurrenzhotels Bonnie Claire (es war gleichfalls ein großer und vergoldeter Stall für Menschenvieh) nichts Geringeres war als Monarch der Ramadan-Grotte im Geheimen Bruderorden der Beschwingten Krieger von der Kreter Karawane. Er bestand darauf, Myron müßte Monarch werden oder Dauernder Potentat oder mindestens Fürstprophet.

Myron sagte, er würde die Sache gleich in die Hand nehmen, und tat es nie. Er brummte sich zu, er sei Hotelier und nicht Hausierer, und es machte gar keinen Eindruck auf ihn, als Fiesel ihm eine endlose Geschichte von seinem Vorgänger erzählte, der, als Emeritierter Verehrungswürdiger Meister der Israel-Putnam-Loge, das Kunststück zuwege gebracht hatte, »ein Logenbankett für zwölfhundert Personen, das Gedeck sieben Dollar, hereinzuholen, obwohl ein Konkurrenzhotel nur sechs Dollar neunzig verlangt und sogar Täubchen versprochen hatte, während das Hotel Fiesel den Leuten nur Long-Island-Enten gab, und das zu einer Zeit, in der die Enten zu einem Preis von zwölf bis vierzehn Cent das Pfund einfach betteln gingen.«

Als der alte Fiesel nach Kalifornien abgereist war und Myron mit einiger Unruhe das Hotel übergeben hatte, teilte er ihm täglich schriftlich die Perlen seiner Reisebeobachtungen mit – die nicht das mindeste mit Gebirge und Meer zu tun hatten. (»Und das geschieht mir auch ganz verflucht recht«, gestand sich Myron. »Bin ich nicht auch in Europa gewesen, ohne etwas anderes zu sehen als Hotels, und das alles um eine Privatkneipe für Dick Pye einzurichten? Wenn ich das nächstemal rüberfahre, seh ich mir nichts anderes an als Gemäldegalerien und die verfluchte Landschaft, ganz bestimmt!«) Fiesel schrieb Myron auf einer ausgeblichenen Ansichtskarte, er solle heißes Tamale, ein mit Pfeffer und Fleisch gewürztes Gericht aus zerstoßenem Mais, auf die Karte setzen, weil es fast nichts koste und als mexikanische Delikatesse frisiert werden könne. Ein andermal schrieb er, daß man im Osten noch keinen Sinn für die Cafeteria habe. Und Myron verabscheute Fiesels geschäftige Schmutzigkeit noch mehr als das vergnügte Schurkentum Jimmy Shanks'.

 

Er war noch etwas verwirrt und sagte sich – was nicht ganz stimmte – daß er bald so weit sein werde, Mißfallen an allem zu finden, was mit der Hotelbranche zu tun habe. Unvernünftige und Beschwerde führende Gäste. Unehrliche und diebische Gäste. Schleimige Gäste, die Begünstigungen wünschten. Das unaufhörliche, Kopfschmerzen bereitende Bemühen, Zehntelpfennige am Essen zu sparen. Die tüchtige jüdische Stenotypistin für die Hotelgäste mit dem Schreibtisch auf dem Balkon im Zwischenstock, die versicherte: »Mit mir ist nicht gut Kirschen essen – ich weiß genau, wie man mit den frechen Kerls umgehen muß«, und die, wenn sie »Guten Morgen, Mr. Weagle« sagte, sang und trällerte und ihn einladend aus zusammengekniffenen Augen ansah. Es flößte ihm nicht mehr Sympathie für sie ein, daß er wußte, sie sei der Privatspitzel des Besitzers und schicke Fiesel täglich Berichte über ihn und das Personal.

Ganz besonders verabscheute er jetzt das ganze Kosmetik – Schönheitssalon – Manicure – Frisier-Parfumgestank-Pudergeschmiergeschäft, dessen Bedeutung für das großstädtische Hotelgewerbe immer mehr zunahm. Er war froh darüber, daß Effie May nichts damit zu tun hatte – sie war in Mount Vernon mit Luke, der dort großen Eindruck auf seine Schulkameraden machte, indem er ihnen überaus phantasievolle Geschichten erzählte von Jagden auf Bären, Wölfe und Elche in den gewaltigen Urwäldern Connecticuts. Widerlich war ihm auch die neue Frauenmode, sich die Fingernägel wie Haremsweiber rot zu färben. »Das werden die Hotels auch bald sein – Harems!«

Dennoch träumte er schuldbewußt wieder vom Vollkommenen Gasthof …

 

Er sah ihn jetzt als kleines und einfaches Lokal für kleine und einfache Leute, aber mit freundlichen Zimmern und einer Verpflegung, die ein Ereignis sein müßte – die wahre Nachfolge der guten alten Gasthöfe ohne schändende Kompromisse mit der Riviera. Er begann darüber nachzudenken, ob der Black Thread Inn nicht doch zu anspruchsvoll gewesen wäre, und, noch wichtiger, allzusehr angewiesen auf die Wankelmütigkeit dieser hartherzigen Sippe, der Reichen – er begann darüber nachzudenken, ob es in seinem ersten Epos nicht zu viele bombastische Stellen gegeben hätte.

Und vor allem wünschte er sich einen Gasthof, den er wirklich allein besitzen und leiten würde, so daß er, wenn es zu einem Mißerfolg käme, allein die Verantwortung dafür tragen würde und nicht das Opfer etwaiger Mitarbeiter und ihres allzu üppigen Stils wäre.

 

Sein Leben im Jahre 1929 wurde erschwert dadurch, daß Ora gewaltigen Erfolg zu haben anfing – wenn man es so nennen will.

Eine Woche lang Tag und Nacht mit einem bekannten Hollywooder Schauspieler zusammenarbeitend, der klug war, aber nicht mehr in der Gunst des Publikums stand, hatte Ora ein Stück geschrieben, das Stück der Stunde mit allen Zutaten des Augenblicks: ein Schuß Gangstertum und Mord, ein Teelöffel Sarkasmus über Washingtoner Politiker, eine zarte Andeutung von Lesbiertum, unter alledem jedoch handfeste Romantik und ein wunderbares Ende, in dem ein leidenschaftlicher Kuß mit einem komischen Hieb auf alles leidenschaftliche Küssen kombiniert war.

Augenblicklich wurde es angenommen. Es wurde in Zusammenarbeit mit einem Dramatiker von Namen umgeschrieben. Nachdem man es in einem Sommertheater ausprobiert hatte, brachte man es im September nach New York; es wurde zur Sensation des Herbstes und war bald für achtzigtausend Dollar an den Film verkauft. Allerdings mußte Ora seine beiden Mitarbeiter fallen lassen, weil sie, wie er Myron erklärte, Gauner waren und ihre Versprechen nicht hielten, aber er fand einen neuen und schrieb im Spätherbst bereits an einem zweiten Stück, auf das er tausend Dollar Vorschuß bekommen hatte. Alle Zeitungen brachten Bilder von Ora mit Berichten über seine einsame Knabenzeit, über die Kämpfe und Mühen, mit denen er sich das Geld zum Studium in Yale erarbeitet hatte, über die drei Jahre, die er einsam in einem Sumpf in Florida verbracht hatte, um sechzehn Stücke zu schreiben, die er dann zerriß.

In keinem dieser Berichte wurde der Direktor des Fiesel-Hotels erwähnt.

Ora hatte ein Appartement im Victor Hugo, in dem er oft seinen Freund Dick Pye empfing; er besaß einen Lincoln, eine Ausgabe der Werke S. S. Van Dines mit Widmung des Autors und sechzehn Anzüge. Er machte sich ziemlich oft ein wenig Bewegung, indem er vom Victor Hugo zum Fiesel hinüberging, um Myron zu erzählen, warum er mit dem Black Thread Inn Schiffbruch erlitten hätte. Er erklärte, Myron habe ja auf seine Art ganz recht, aber er sollte es eben lieber nicht versuchen, sich mit den geschickten Freunden Dick Pyes einzulassen.

Er zahlte sogar alles, was er sich im Laufe der Zeit von Myron geborgt hatte, mit fünf Prozent Zinsen zurück.

Allerdings deckten sich seine Zahlen nicht mit denen, die Myron aufgezeichnet hatte. Myron war immer bereit gewesen, »dem Jungen« Geld zu geben, wenn er in Not war, aber er hatte es nie unterlassen können, die Summe in seinem Privatbuch genau zu notieren – zusammen mit jedem Fünfcentstück, das er für einen Apfel ausgegeben hatte. Aber das wußte Ora nicht, und Myron sagte es ihm auch nicht, selbst als Ora ihm (in Anwesenheit von Myrons Sekretärin) lachend sagte: »Der Witz daran ist, daß du immer gemeint hast, ich bin zu sehr ungezähmter, verträumter Dichter, um genau zu sein, und daß du mir das immer vorgehalten hast, während es in Wirklichkeit, wie du jetzt sehen kannst, so ist, daß ich viel überlegter und genauer bin als du.«

Ora war wirklich, wie er sagte, überlegt. Denn er wartete, bis die Sekretärin gegangen war, und fügte erst dann hinzu: »Du bist ein interessanter Fall, Myron. Denk zum Beispiel daran, wie du im Gasthof Bruch gemacht hast und dann eine Wut auf andere gekriegt hast, weil es dir schief gegangen war! Du hast dein halbes Leben damit verbracht, aus schwacher Gutmütigkeit alles mögliche für Menschen zu tun, und jetzt bist du anscheinend dabei, die andere Hälfte damit zu verbringen, daß du aus schwachem Ressentiment dich darüber aufregst, daß sie dir das Fell über die Ohren ziehen!«

Myron gab keine Antwort. Er schüttelte Ora nicht, wie er Dick Pye geschüttelt hatte, und verspürte auch gar kein Verlangen danach. Er war des Streites müde.

»Verlier ich denn ganz meinen Verstand?« flüsterte er sich zu. »Ich bin gereizt gegen Gäste. Ich kann mich nicht dazu kriegen, mir was draus zu machen, wenn irgendein blödsinniges Frauenzimmer sich darüber beschwert, daß ihr Zimmermädchen ungezogen gewesen ist. Ich bin mißtrauisch gegen Fiesel, der doch schließlich ein ganz anständiger alter Geizkragen ist. Es wird wohl so sein, daß ich faul werde.«

Seine täglichen Pflichten verhinderten ihn daran, sich allzusehr den Kopf zu zerbrechen – und er war wirklich »gereizt« gegen Gäste. Die Erfüllung der täglichen Pflichten war aber auch so ziemlich alles, womit er sich beschäftigen konnte, so erstarrt war das ganze Hotel in der kalten Atmosphäre Fiesels. Nur zwei größere Änderungen konnte er durchführen. Er holte sich seine alten Adjutanten Gritzmeier und Clark Cleaver.

Selbst im Jahre 1929, dem Höhepunkt der Prosperität (der jedoch offenbar erst der Anfang einer neuen und noch nie dagewesenen Prosperität war, da sich doch Amerika die finanzielle Führung in der Welt gesichert hatte) ging es Gritzmeier und Cleaver ziemlich schlecht, und sie waren froh, daß sie mit keineswegs großen Gehältern beim Fiesel ankommen konnten. Ihr Ruf war etwas zweifelhaft, denn Mr. Richard Pye hatte verbreitet, daß sie ihn im Black Thread Inn »enttäuscht« hätten. Myron fühlte sich für sie verantwortlich und brachte Fiesel nach endlosem brieflichem Gezänk dazu, ihnen wirklich einen Bruchteil dessen zu bezahlen, was sie wert waren.

Und Tag um Tag setzte sich Myron weiter mit den Einzelheiten der Leitung eines Hotels für den Mittelstand auseinander, die er für immer aufgeben zu können gemeint hatte. Aber wenn Fiesel auf Grund irgendeines Wunders zum Entschluß kommen sollte, ständig in Kalifornien zu bleiben, konnte er vielleicht etwas ein wenig anderes und Interessantes aus dem Hotel machen.

Er war gerade dabei, seinen Tag mit Plänen für ein Kinderspielzimmer zu beginnen, mit dem vielleicht Eltern, die nach New York kamen, um Einkäufe zu machen, anzulocken wären, als er das Gefühl hatte, es stände jemand wartend an seinem Schreibtisch, und aufblickend das bockartige Lächeln Henry Fiesels sah.

»Nanu, ich dachte, Sie wären – –«

Weiter kam Myron nicht. Fiesel meckerte: »Ja, ich bin seit sechs Uhr früh hier. Ich bin durch den Lieferanteneingang hereingekommen. Es sind ein paar neue Aschenbecher gekauft worden, obwohl die alten noch zu reparieren waren. Ein Zimmermädchen hab ich dabei erwischt, wie sie in einer Wäschekammer Pralines gefressen hat. Der neue Empfangschef, der Cleaver, ist um zwei Minuten zu spät gekommen. Ich hab ein paar von den Vorräten im Lagerraum überprüft. Es sind zwei Kartons Maisflocken weniger da, als verbucht sind. In der Besenkammer im zwölften Stock sind zu viele Fußbodenbürsten. Sechs Gäste sind da – ich weiß, wie sie finanziell gestellt sind – die zahlen vier Dollar für Zimmer, für die Sie fünf Dollar von den Leuten kriegen könnten, und ich sage immer, Hotels sind keine Wohltätigkeitsanstalten.«

Er kicherte, legte seinen Schirm auf Myrons Schreibtisch, setzte sich, zog sorgfältig seine fadenscheinigen alten blauen Kammgarnhosen hoch, streichelte zärtlich eine kleine Warze auf seinem Kinn und keifte weiter: »Ihr vornehmer neuer deutscher Küchenchef, der Gritzmeier, taugt nicht besonders viel. Er hat innerhalb von zehn Tagen nur zweimal Fleischhaschee auf der Frühstückskarte, und ich sage meinen Leuten immer, das Haschee bringt die Steuern ein. Sie haben nicht gerade viel in Wohltätigkeitsveranstaltungsprogrammen inseriert. Der Hoteldetektiv raucht Havanna-Zigarren – wo hat er das Geld dazu her? – das möcht ich nur wissen. Im Badezimmer von Nummer 676 ist eine Seifenschüssel gesprungen. Im Fahrstuhl Nummer 7 ist eine Spinnwebe. Ihr deutscher Küchenchef verbraucht zu viel Champignons auf Champignonomelettes. Auf dem Kärtchen ›Nicht stören‹ von Nummer 892 sind Fliegenschisse. Ihre Krawatte sitzt nicht ganz gerade. Meiner Meinung nach kommt es bei guter Hotelführung auf die Kleinigkeiten an. Ihr großartigen jungen Leute wollt es ja nicht wahrhaben, aber womit's geschafft wird, das ist Beachtung der Kleinigkeiten, und das bedeutet Arbeit und Zeiteinhalten, und nicht jeden Abend tanzen oder ins Theater gehen. Guten Morgen. Wir sprechen uns noch.«

Er war fort, und Myron dachte fast ausschließlich daran, daß er keinen Ärger über diesen schleichenden Faselhans gezeigt hatte, was er in den Tagen, da er seiner sicherer war, gewiß getan hätte.

 

Von diesem Morgen an fühlte er sich niemals mehr ganz als Direktor des Fiesel. Der alte Mann – er wohnte jetzt in einer Wohnung in Jackson Heights – tauchte von einmal in der Woche bis zu dreimal im Tag irgendwo auf, zu jeder Stunde von vier Uhr nachmittags bis ein Uhr morgens, und brachte es immer zuwege, Fehler zu entdecken, was wirklich keine schwere Aufgabe in einem Hotel von neunhundertfünfzig Zimmern war, in dem er absichtlich immer etwas zu wenig Personal hatte. Er benutzte seine kritischen Bemerkungen als Wassertropfenfolter, um Myron nervös und geschäftig zu erhalten – nur sah er, der sich immer und in höchst aufreizender Weise rühmte, »so was wie eine Gabe, direkt durch die Menschen durchzusehen«, zu besitzen, bloß nicht, daß dies nicht die beste Methode war, gerade aus einem Lohnsklaven von der besonderen Art Myrons die meiste Arbeit herauszuholen.

Myron wollte nicht wieder seine Stellung aufgeben, nicht so bald. Aber er dachte oft genug drüber nach.

Dann kam die Katastrophe.

Fiesel stürzte in Myrons Büro und kreischte: »Sie haben diesen Gritzmeier eingestellt!«

»Ja. Warum?«

»Ja! Warum! Das möcht ich ja gerade wissen – warum! Max Sussmann von den Brüdern Sussmann, den Großschlächtern, hat mich aufgesucht. Herrgott! Ich kenne Max seit Jahren. Er ist ein ehrlicher Mann. Wenn er einem Ökonomen oder einem Küchenchef Provision gibt, ist es nur das Übliche. Und Ihr Gritzmeier hat versucht, ihm fünf Prozent mehr abzunehmen, als bei dem Geschäft recht und billig ist! Heute morgen hab ich das gehört, und ich hab mich gleich umgesehen. Gritzmeier und Ihr anderer Mann, der Cleaver, haben mich bestohlen, sie haben das Nahrungsmittelkonto frisiert. Cleaver hat die Bons im Büro bearbeitet. Und zusammen haben die beiden die Küchenlohnliste gefälscht und sich Geld für Personal auszahlen lassen, das gar nicht existiert! Also, oberkluger Herr Direktor, Sie mit Ihren Lieblingen, was wollen Sie nun machen?«

Myron wußte, daß Fiesel nicht ein Dummkopf war, der ohne Unterlagen Anklagen erhob.

»Wieviel haben sie denn gestohlen?« fragte er bedrückt.

»Bis jetzt müssen es meiner Rechnung nach ungefähr dreitausendsiebenhundert Dollar sein.«

»Ich werd sie natürlich rausschmeißen. Und ich werde dafür sorgen, daß das Geld zurückgezahlt wird.«

»Ach, das ist aber reizend von Ihnen! Aber das genügt nicht, Herr Direktor! Ich werde nicht ruhen und rasten, bis ich diese beiden dreckigen Gauner hinter Schloß und Riegel sehe! Mich bestehlen!«

»Dann werden Sie das Geld nie zurückkriegen. Ich hab nicht gewußt, daß sie gestohlen haben. Ich weiß nicht, was sie mit dem geklauten Geld gemacht haben können. Aber eines weiß ich: beide haben keinen Pfennig. So viel Geld ist es Ihnen nicht wert, die beiden im Kittchen zu sehen. Dreitausend – sieben – hundert – Dollar!«

»Na ja, vielleicht ist was an dem, was Sie sagen. Aber Henry Fiesel ist noch von keinem Menschen übers Ohr gehauen worden! Nein, mein Lieber, ich – –«

»Ich versteh sehr gut, wie Ihnen zumute ist, aber dreitausendundsiebenhundert Dollar!«

»Hm. Also schön. Ich will barmherzig sein. Ich will barmherzig sein, wenn Sie persönlich für die Rückerstattung des Geldes garantieren.«

»Das mach ich.«

»Gut. Lassen Sie sie kommen, und dann werd ich den Leuten was erzählen, daß – –«. Fiesel rieb sich die trockenen Hände, daß sie knackten.

»Nein, ich muß allein mit ihnen sprechen. Sonst kann ich keine Verantwortung übernehmen. Wer hat die genauen Zahlen, wenn ich sie brauche?«

»Der Hoteldetektiv und die Stenotypistin im Zwischenstock.«

»Gut. Lassen Sie mich mit ihnen reden.« Zum erstenmal gab sein Ton Fiesel deutlich zu verstehen: »Jetzt scheren Sie sich raus.«

Myron seufzte, während er auf die Verräter wartete. Er dachte nichts. Es gab nichts zu denken.

Otto Gritzmeier schaukelte herein und versuchte fidel auszusehen. Es war eine Miene ganz entsetzlicher Fidelität – wie das Gesicht eines Nikolaus, mit dickem Mehl überzogen. Clark Cleaver zitterte.

Myron blieb sitzen und winkte ihnen, sie sollten sich setzen.

»Also, was ist damit?« fragte er.

Gritzmeiers große rote Hände flatterten an seinem Kinn herum. »Was soll mit was sein?« fragte er zänkisch.

Myron sah einfach unglücklich aus. »Ich dachte, ihr beide haltet zu mir! Gerade ihr.«

Gritzmeiers Augen waren feucht, in ihnen stand der triefende, würdelose Kummer des Alters.

»Was ist passiert?« fragte Myron in schärferem Ton.

Unter endlosen gewundenen Entschuldigungen, vor Bewegung fast unverständlich, erzählte Gritzmeier, wie es dazu gekommen war. Als er nach seiner Entlassung vom Black Thread Inn arbeitslos war und für seine verwitwete Schwiegertochter und drei geliebte Enkel sorgen mußte, war er in Schulden geraten, bevor Myron ihn an das Fiesel holte. Dann erkrankte sein Enkel an Kinderlähmung. Er hatte Tausende für den Knaben ausgegeben – und er besaß diese Tausende nicht. Er haßte Fiesel, haßte die Schleicherei und das Getue dieses alten Teufels. »Er ist ganz einfach wie ein alt gewordener Pfannkuchen in einem Lunchraum, der Kerl!« schimpfte Gritzmeier. Es erboste ihn, wenn er daran dachte, daß er arbeitete, um für diese Sparkasse in Menschengestalt Geld zu machen; es erboste ihn um so mehr, als Fiesel von seinen schönen Kochkünsten nichts wissen wollte, sondern nur aufgemachten Fraß wünschte. Und der kleine Junge war so elend. Er hatte die Empfindung gehabt, es Fiesel wegzunehmen. Er hatte nie daran gedacht, Myron zu schaden.

Er konnte seine schönen Diebespläne nicht ausführen, wenn er nicht jemand im Büro hatte, der die Konten fälschte, und diesen jemand fand er in seinem Kollegen vom Inn, in Clark Cleaver.

»Ja. Ich versteh einigermaßen«, unterbrach ihn Myron nicht unfreundlich. Dann schrie er Cleaver an: »Aber Sie, Sie heiliges Knäblein! Sie Barrenturner! Was für eine verdammte Ausrede haben Sie

»Ja, ich dachte bloß – – Ich meinte, ich könnt es auf der Börse wieder verdienen und zurückgeben. Und Otto hat mir zugeredet – –«

»Ach, ihr Bibelcharaktere seid alle gleich! ›Es versuchte mich jemand, und da aß ich!‹ Zum Kotzen seid ihr alle. Hat einer von euch noch Geld?«

»Nein«, ächzte Gritzmeier.

»Dann werd ich es bezahlen, Gott verdammt noch einmal – ich werd es meiner Familie für eure verdammten Familien wegnehmen. Was mich aber am meisten ankotzt, das seid nicht ihr beide mit euren dreckigen kleinen Kinderdiebereien – das ist die Tatsache, daß ich ein leitender Angestellter sein soll und dieses offenbare Stehlen hab durchgehen lassen – daß ihr beide anscheinend nicht genug Respekt vor mir gehabt habt, um euch anständig zu benehmen!«

»O nein, Chef, wir – –«

»Chef! Chef! Geht weg, ich will euch nicht sehen! Ich mach euch keine Vorwürfe. Bloß, ich bin kein Übermensch. Ich kann ganz einfach euren Anblick nicht ertragen. Und meinen übrigens auch nicht. Raus!«

Und er sah einen großen Teil seiner Gewerbeehrsamkeit dahinschwinden, er saß da in seinem sauberen, zweckmäßigen Büro, einsamer, als er je in seinem Leben gewesen war.

 

Er ersetzte Fiesel die unterschlagene Summe – es waren etwas über dreitausendfünfhundert Dollar, als die Bücher überprüft waren.

Er wußte, daß Fiesel ihn im Verdacht hatte, mit Gritzmeier und Cleaver unter einer Decke gesteckt zu haben. Warum sonst, dachte das brave Wiesel, sollte ein Mensch bereitwillig Geld auszahlen? Fiesel hatte ohnedies keine Sympathien für ihn gehabt; er hatte mit Recht den Eindruck, daß Myron ein seichter Bursche wäre, der nicht wie er Ehrfurcht vor Pfennigen empfände. Von nun an piesackte er Myron auf jede mögliche Art. Fiesel wäre mit seiner Beobachtungsgabe ein ausgezeichneter Journalist geworden. Wenn er früher ein zerrissenes Handtuch oder eine lose Treppenstange gefunden hatte, entdeckte er jetzt zehn oder zwölf und redete über jede einzelne mit Myron.

Und diesmal hatte Myron keinen Kontrakt! Er war anfangs damit einverstanden gewesen, auf einen Kontrakt zu warten, »bis man sieht, wie man miteinander auskommt.« Aber jetzt hielt er sich nicht zurück und verbarg seinen Ärger nicht. Der Verlust Gritzmeiers und Cleavers hatte ihn gleichgültig gemacht. Er brummte Fiesel manchmal zu: »Erledigen Sie das gefälligst mit der Haushälterin. Ich hab zu tun.«

Er wunderte sich ein wenig über das gezwungene Lächeln des alten Mannes. Er wußte, daß dahinter etwas Häßliches steckte.

Im Spätsommer konnte er zu seiner Freude eine dreiwöchige Automobilreise mit Effie May und Luke machen. Den Lambkins sowie allen Hotels ging er in großem Bogen aus dem Weg. Sie übernachteten in Farmhäusern, und zehn Tage lang kampierten sie in einem Häuschen an einem Seeufer.

Er kam bedeutend ruhiger zurück und begriff nicht recht, daß er sich von Fiesel jemals hatte nervös machen lassen. Er würde die Sache mit dem alten Teufel eben austragen; wirklich offen reden. Schließlich war Fiesel ja ein guter Hotelier. Wenigstens was seinen Sinn für Kleinigkeiten betraf. Ja. Sie würden die Sache austragen.

Als Myron am ersten Morgen wieder in seinem Büro war, kam Henry Fiesel hereingeschlichen und brachte einen ziemlich jungen Mann mit viereckigem Gesicht mit, der eine ernsthaft aussehende Brille trug.

»Weagle«, piepste der alte Mann, »ich möchte Ihnen Mr. John Eggthorne vorstellen, der früher bei den Blakeslee Hotels war.«

»Freut mich – –«

»Tja, er wird Sie interessieren, Weagle. Er ist nämlich Ihr Nachfolger! Von heute an, Weagle!«

Mr. Eggthorne lächelte.

Fiesel beobachtete Myron mit der ganzen Zärtlichkeit einer Mokassinschlange.

Da aber ging es Myron so wie damals, als er Dick Pye inmitten der Spinnweben in einem Wandschrank sah: er lachte. Sein bekümmertes Gesicht hellte sich auf. »Willkommen, Bruder Eggthorne! Meine persönlichen Sachen werd ich in fünfzehn Minuten aus dem Schreibtisch ausgeräumt haben. Vergessen Sie nicht, in Zimmer 504 nachzusehen. Dort ist eine ausgebrannte Birne!«


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