Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

12

Das große Grundstück der Tippecanoe Lodge lag an einem von der Pontevedra-Bucht ausgehenden Wasserarm, der vom offenen Meer nur durch eine lange Sandbank, die Pontevedra-Insel mit ihrem harten Badestrand, getrennt war. Während sie an der Bucht entlang fuhren, wurde Myron von den dicht beieinander stehenden, unbedeutenden, graugrünen Gebüschen enttäuscht. War das Florida mit seinen Tropenfarben? Es sah aus wie armseliges Strauchwerk auf abgeholztem Waldboden. Als sie jedoch durch das ein wenig schiefe Holzportal auf das Grundstück kamen, erstarrte er vor Bewunderung. Es sah etwas verwildert aus, aber da wuchsen und dufteten Orangen- und Zitronenbäume, Kokospalmen, Zwergpalmen mit behaarten Stämmen, immergrüne Eichen, auf denen spanisches Moos wucherte, und Zypressen, zwischen deren Stämmen ein von vielen Vögeln bewohntes Moor hindurchschimmerte. Er hatte noch nie in seinem Leben Palmen wild wachsen sehen. Und die Geranie, die bei ihm daheim in Connecticut ein bescheidenes Hauskätzchen von Pflanze gewesen war, wucherte hier üppig und hoch als purpurroter Busch empor.

»Tropen!« flüsterte der Mensch aus dem Norden.

Von der fernen Küste, auf der anderen Seite der Pontevedra-Insel, konnte er die langen Roller hören.

Als sie aber durch die Gärten und Wiesen fuhren, die in unmittelbarer Nähe des Hotels lagen, war er entsetzt. Auf der einen Seite stand eine Reihe von Teerhütten, die anscheinend dem farbigen Personal des Hauses gehörten, und vor den Hütten, direkt auf dem Fahrweg, der angeblich für die vornehmen Augen und Nasen der Gäste sauber gehalten wurde, rollten splitterfasernackte Negerkinder im Unkraut herum, jagten verwilderte Hähne Hennen mit zerrupften Schweifen, auf Zwergpalmenstämmen standen verschmierte Waschzuber, und auf schiefen und wackelnden Schaukelstühlen saßen alte Männer und rauchten Maiskolbenpfeifen.

Myron, der zwanzig Jahre hindurch zur Sauberkeit erzogen worden war, fand aus so unmittelbarer Nähe keinen Gefallen an diesem malerischen Bild. Er sah so etwas lieber in China oder in Büchern.

In der näheren Umgebung des Hauptgebäudes war das Grundstück etwas besser gehalten, aber die Luft roch geradezu nach Vernachlässigung und Verfall. Auf den beiden Tennisplätzen wuchs Gras, eine Magnolie mit schimmernden Blättern reckte eine Menge toter und abgebrochener Zweige von sich, die Rosenbeete hatten es bitter nötig, gejätet zu werden, und auf den Bänken, von deren Anstrich kaum noch etwas zu sehen war, lagen überall vom Regen des Vortages feuchte alte Zeitungen herum.

Das Hotel selbst bot einen überraschenden Anblick. Es war aus Zypressenklötzen erbaut, hatte eine riesige Vorderveranda und darüber Balkons im ersten und im zweiten Stockwerk; all dies wurde von hochragenden Säulen aus geschälten Zypressenstämmen getragen, die von der Veranda bis zu dem Gesims aus geschnitztem Holz hinaufreichten.

Auf der Veranda lagen Sweater, Tennisschläger, Bücher mit Eselsohren und Zigarettenstummel herum. Ein Negermädchen, das allem Anschein nach die Aufgabe hatte, hier auszufegen, stand, die beiden Hände auf den Besen gestützt, am Geländer und blickte verträumt auf die immergrünen Eichen.

Myron war nicht wie in St. Louis am Bahnhof vom Direktor abgeholt worden. Er trat zaudernd in die große Halle mit den unbekleideten Sparren aus Zypressenholz und den Bauernstühlen aus ungeschälter Carolina-Fichte. Das Pult war eine aus einem einzigen Kiefernklotz geschnittene, gebeizte und polierte große Platte. Das große Verandendach nahm der Halle ziemlich viel Licht weg, und zuerst hatte Myron den Eindruck, es sei niemand da. Jedenfalls war niemand hinter dem Pult, um ihn zu empfangen – unmittelbar nach der Ankunft eines Zuges ein schweres Verbrechen in einem Landhotel. Endlich gewahrte er zwei alte, geschminkte Frauen, die am anderen Ende der Halle strickten und Gummi kauten – vielleicht war es auch Tabak, was sie im Munde hatten. Das ganze Leben aber schien sich in einem Zimmer links von ihnen zu konzentrieren. Von dort konnte er ernsthaftes, aber nicht sehr nüchtern klingendes Singen und Stimmengewirr hören.

Ein wenig verärgert ging er dorthin und kam durch eine gewölbte Türöffnung in einen prächtigen Barraum mit polierter Kieferntäfelung. Vier farbige Barmänner in hübschen weißen Jacken arbeiteten eifrig, und vor der Bar hielten sich, Pfefferminz-Cocktails und unvermischten Bourbon-Whisky trinkend, mindestens dreißig Herren aus dem Süden auf. (Viele von ihnen waren allerdings in New York oder in Polen auf die Welt gekommen und waren geborene Südländer geworden, indem sie »Dixie Land« singen lernten und Teile von zwei Wintern in Florida verbrachten.) Acht von den Herren sangen, die Köpfe weit zurückgelegt, in den zitternden Händen Gläser haltend, »Im Dämmerlicht«. Sieben waren um einen Herrn versammelt, der Geschichten erzählte und seine Umgebung zu wieherndem Lachen brachte. Drei diskutierten heftig über den Russisch-Japanischen Krieg, wobei die Phrasen »tapfere kleine Kämpfer« und »faule verdammte Muschiks« ziemlich oft fielen. Die anderen vor der Bar konzentrierten ihre ganze Aufmerksamkeit auf das Trinken. In einer der Nischen an der Seitenwand des Barraums spielten fünf Männer, die weniger alkoholisiert waren, mit verbissenem Eifer Karten.

Myron stand mit finsterem Gesicht da. Aus der Gruppe um den Dorfboccaccio löste sich ein rundlicher, rötlicher Mann; er war rund und rot wie ein Kinderball, und man hatte das Gefühl, daß er wabblig anzufassen sein müßte.

»Kann ich irgendwas für Sie tun, Bruder?« fragte er.

»Ich würde gern den ersten Tagesportier sprechen. Können Sie mir sagen, wo er ist?«

»Ja, wenn ich Ihnen die Wahrheit sagen soll, der ist eigentlich hinüber. Wir haben so 'ne kleine Feier gehabt heute. Jerry Lietrich – Sie wissen doch, der Börsenmakler aus New York – der, der die Geschichten erzählt – der ist eben heute aus dem Großen Nest hier angekommen, und wir feiern eben immer – jedes Jahr, wenn Jerry herkommt – blendender Bursche – kommt jedes Jahr.« Der Gummiball von Mensch schluckste halblaut. »Aber vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein. Fred Barrow ist mein Name, ich bin der Direktor.«

»Oh. Oh! Ja – – Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Barrow. Ich heiße Weagle. Ich glaube, ich soll in diesem Jahr zweiter Direktor hier sein. Mr. Elphinstone – –«

Mr. Barrow brüllte mit einem für diesen weichlichen, kleinen Mann unglaubhaft tiefen Baß: »Meine Herren! Meine Herren! Leihen Sie mir Ihr Ohr! Hier ist der neue zweite Direktor, von dem ich Ihnen erzählt habe! Wir wollen alle mal auf sein Wohl trinken! Ein richtiger, scharfer New-Yorker Hoteltiger! Gestatten Sie, daß ich Sie alle mit Bruder Weagle bekannt mache. Tim! Alle Gläser hier füllen – das hier für Dr. Weagle! Los, Junge! Los doch! Wasser ist was Wunderbares – aber nicht zum Trinken!«

 

Als Myron Fred Barrow und dem allzu liebenswürdigen Bargeschmeiß entronnen war und in seinem kleinen Appartement (sein erstes Appartement in einem Hotel!) auszupacken begonnen hatte, war er wütend. »Ist ja wunderschön für Barrow, hier alles auf den Kopf zu stellen. Er hat seine Position als Direktor. Ich muß mir meine erst schaffen. Und alle werden meinen, an dem Irrenhausbetrieb bin ich schuld. Und dann, komische Situation, wenn ein Untergebener wie ich seinem Boss gut zureden muß, damit er nüchtern bleiben und an die Arbeit gehen darf«, überlegte er bekümmert. »Na, vielleicht ist es nur heute so.«

Aber an jedem lieben Tag, der da kam, gab es eine andere »Feier« – es mußte gefeiert werden, wenn irgendein anderer Stammgast der Tippecanoe vom Schlage Jerry Lietrichs ankam oder abreiste oder einfach dablieb, und das Essen wurde schlecht, die Pagen verschwanden für halbe Tage, der Fahrstuhl blieb zwischen zwei Stockwerken stecken – im Barraum wurde sehr viel darüber gelacht, ganz besonders, wenn man davon redete, wie der dicke Boylston Leclay mit einer Trittleiter aus dem Fahrstuhl herausgeholt worden war.

Die Socken, Taschentücher und andere kleine Wäschestücke der Gäste verschwanden, die Fußböden verschmutzten, und die Angestellten, außer dem Büropersonal lauter Farbige, wurden täglich unverschämter, fauler und vergnügter, was ihnen Myron nicht zum Vorwurf machte. Fred Barrow und Jerry Lietrich waren die Zeremonienmeister bei diesen täglichen Trinkgelagen, und der gutmütige Barrow machte sich anscheinend gar nichts daraus, daß die beiden Tagesportiers, der Nachtportier und der liederliche alte Stenotypist ihn nachahmten. Er hatte nur eine Klage: daß Myron so zurückhaltend war und immer schon nach zwei Whiskysodas ging.

So kam es, daß Myron noch mehr verschiedene Beschäftigungen hatte als im Pierre Ronsard; er war abwechselnd Direktor, zweiter Direktor, Nachtportier, sämtliche Tagesportiers in einer Person, Buchhalter, Kassierer, Buchprüfer und manchmal Page; er tippte mit zwei Fingern Antworten auf Anfragen wegen Zimmerbestellungen; er ging nach hinten in die Küche, um sich beim Chef über ein Menu zu beschweren, das in der Hauptsache aus Bratkartoffeln und Maisbrot bestand – was ihm herzlich wenig nützte, denn der Küchenchef und alle anderen bildeten eine Clique, die den freundlichen Mr. Barrow anbetete, weil er mit ihnen lachte, mit ihnen trank und von ihnen nicht erwartete, daß sie sich mit Arbeit abplagten. Sie haßten Myron vom ersten Augenblick an als Duckmäuser, Spielverderber, Querkopf und heuchlerischen Puritaner.

Er war so allein! Nicht ein einziger Mensch war da, weder unter den Angestellten noch unter den Gästen, dem er sich anvertrauen, mit dem er sich darüber beraten konnte, was er tun sollte.

Zuerst konnte er es nicht für möglich halten, daß ein Hotel, das weder besonders billig noch besonders luxuriös war, mit solchem Schmutz, so miserablem Essen und so schlechter Bedienung überhaupt in Betrieb bleiben konnte, aber als die Saison fortschritt und es Mitte Dezember wurde, war jedes einzelne der hundertzehn Zimmer besetzt, und die Tür zur Terrasse vor dem Barraum stand Tag und Nacht offen, damit die von außerhalb kommenden Trinker untergebracht werden konnten, während die unbenutzten Tennisplätze immer mehr zuwuchsen, die Reitpferde ungestriegelt im Stall standen und das Boot, das angeblich dazu da war, Badelustige nach der Pontevedra-Insel und dem Sandstrand hinüberzubringen, zur Hälfte mit schlammigem Wasser angefüllt am Pier lag, auf dem der farbige Bootsführer pennte. An der Tippecanoe gemessen, war der Fandango Inn, in dem Myron Page gewesen war, ein Lager der Y. M. C. A., in dem Baseball gespielt und fröhliche Hymnen gesungen wurden.

Bald fand Myron die doppelte Erklärung. Die Gäste, sowohl Frauen wie Männer, kamen nicht nur zu diesem abgelegenen und stillen Plätzchen, um sich, fern von den vorwurfsvollen Blicken ihrer Frauen und Geschäftspartner, beziehungsweise ihrer Männer und Kinder, tüchtig und ordentlich zu besaufen, sie hatten außerdem das Vergnügen, nur selten zu bezahlen. Fred Barrow betrachtete sie als seine lieben Freunde. Er ließ ihre Rechnungen Woche um Woche weiter anstehen, und da mochte Myron noch so entsetzt sein und Opposition dagegen machen, wenn er in der stillen Halle vor dem von Geschrei erfüllten Barraum saß und über den schlecht geführten Büchern brütete … der Dichter, dazu verurteilt, Knüppelverse zu lesen, in denen »Stein« auf »Leim« gereimt ist.

Aber er fügte sich nicht voll Demut. In den vergnügten Tagen des Pierre Ronsard hatte er gelacht, wenn er um drei Uhr morgens Toiletten reparieren oder die Stelle des Chefkellners einnehmen mußte. Jetzt lachte er nicht. Er dachte daran zu gehen, er wurde immer unfreundlicher gegen Fred Barrow und verbrachte viele Stunden – müde auf seiner Bettkante sitzend, wenn er, um halb eins zu Bett gegangen, um fünf Uhr früh wach wurde, eine Dämmerungszigarette rauchte und sich verraten und verkauft vorkam – mit einem glühenden Haß gegen den napoleonischen Mr. Mark Elphinstone, der ihn in dieses Tollhaus gelockt hatte.

Er wäre vielleicht auch wirklich gegangen, wäre nicht der Gast gewesen, den er am gründlichsten verabscheute, der anekdotenreiche Mr. Jared Lietrich. Mr. Lietrich kam seit Jahren in die Tippecanoe Lodge. Er stand in irgendeiner unklaren Beziehung zu Aktien und Obligationen in New York; er trug sehr viele verschiedene Anzüge, trank Sekt und bezahlte tatsächlich seine Rechnungen. Dafür hätte Myron ihn lieben können. Aber an jedem Morgen war Mr. Lietrich der erste, der Fred Barrow aus dem Büro holte, indem er ihm vergnügt zurief: »Allerschönsten Morgen, Fred. Wie ist dir heute morgen? Mir ist ganz lausig, und ich muß was dagegen tun! Wie wär's mit einem kleinen Katerschnäpschen? – bloß ein einziges, Ehrenwort, und dann kannst du zu deiner langweiligen und widerlichen Arbeit zurückgehen, und der alte Onkel Jerry wird sich auf einen Gaul heben.« Und dann saßen Lietrich und Barrow noch um drei Uhr an der Bar, mit einem so unsicheren Gefühl im Magen, daß sie abgesehen von ihren acht bis zehn Whiskysodas nichts zu sich genommen hatten.

Und doch war es Lietrich, der am Pult stehen blieb, als Myron ganz allein dasaß und die Briefe stempelte, die der Page am Nachmittag hätte stempeln sollen, und knurrte: »Abend!«

»Guten Abend«, brummte Myron. (» Ich möcht ihm ja so gern eine reinhauen. Vielleicht tu ich's auch. Ließe sich hier glänzend machen – ne anständige Schlägerei. Dann war mir wohler!«)

»Kommen Sie rein, Weagle, einen Schluck trinken?«

»Nein, danke!«

»Na, Sie haben recht. Passen Sie mal auf, mein Sohn; hören Sie mir zu. Sie haben recht, daß Sie die Saufereien nicht mitmachen, und wir sind im Unrecht. Wahrscheinlich machen wir's einfach, weil wir uns langweilen. Sie langweilen sich nicht. Sie arbeiten gern und haben Ihre Sachen gern in tadelloser Ordnung. Sie können von Glück sagen, Junge! Ich wollte, bei mir wär's auch so! Und – ich hab Sie nie was über ihn sagen hören, aber ich weiß ganz genau, was Sie über den armen alten Fred Barrow denken, über den verdammten Saufaus! Er ist ein Fürst, und ich bin kolossal stolz auf ihn, aber ich muß zugeben, als Boss mit der Verantwortung muß er einfach ekelhaft sein. Aber tun Sie ihm nicht unrecht. Er hat die Sache hier aufgezogen. Vor seiner Zeit – das war, bevor Elphinstone den Laden übernahm, er ist mit ihm gekommen – da war hier einfach eine große Pension. Er hat das Grundstück angelegt und die Sportplätze – ach, es war ne ganze Menge davon da! – er hat das Haus um zirka vierzig Zimmer vergrößert und den eleganten Barraum eingerichtet. Damals hat er nicht einen Tropfen getrunken, höchstens mal, um nicht ungefällig zu sein. Er konnte großartig Briefe schreiben und pikfeine, vornehme Leute hierherlotsen. Dann hat ihn der Alkohol erwischt. Ich weiß – übel. Seien Sie nicht zu hart, Weagle. Weil Sie von Natur aus so sind, daß Ihnen nichts daran liegt, sich vollaufen zu lassen, blöde Lieder zu singen und sich überhaupt zum Narren zu machen, dürfen Sie nicht glauben, daß die Leute, die nicht dieses Glück haben, alle schlecht sind. Bleiben Sie da, mein Sohn, gehen Sie nicht. Versuchen Sie, den armen alten Fred zu decken, solang Sie können. Er hat einen Bammel vor Ihnen! Er weiß, daß Sie ihn verachten. Er hat ein goldenes Herz – wirklich wahr – das können Sie mir glauben. Er würde Sie einfach lieben, wenn Sie ihn nicht so zurückstoßen würden. Na, das können Sie nicht ändern. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf daraus. Aber decken Sie das arme alte Schwein, solange Sie können. Probieren Sie, was Sie hier ohne ihn ausrichten können.«

Nach einer Stunde angestrengten Überlegens gelobte sich Myron: »Ich will's tun!«

Er suchte Fred Barrow im Barraum auf und erklärte ihm: »Ich muß ein paar Worte mit Ihnen sprechen! In Ihrem Büro.«

»Klar, mein Junge! Hundert Worte. Vorher n kleinen Schluck?«

»Heute abend nicht, aber vielen Dank jedenfalls.«

Barrow war beglückt, ein freundliches Wort von seinem Untergebenen zu hören, und trabte so demütig aus der Bar, daß Myron gerührt war und sich beschimpfte: »Ganz, wie Miss Absolom gesagt hat! Ein Pharisäer! Na schön, zum Teufel, dann bin ich's eben! Und ich werde nicht zusehen, wie aus diesem Hotel ein Schweinestall wird. Ich bin Hotelier!«

Im Privatkontor sagte er: »Mr. Barrow, ich wollte gehen.«

»Tun Sie das nicht, mein Sohn! Sie sind der einzige hier, der nicht ununterbrochen vollgedudelt ist! Obwohl – –« Fred Barrow war ebensowenig wie Myron mit übernatürlicher Demut begabt. Er unterbrach sich, glotzte vor sich hin und schloß mit Nachdruck: »Obwohl Sie ein häßlicher, blaunäsiger, Wasser saufender, heuchlerischer Schimpanse sind!«

»Das mag alles stimmen, aber darum handelt es sich wohl kaum. Ich kann das Lokal wieder auf die Beine bringen, wenn Sie mich's tun lassen. So wie's jetzt aussieht, kommen wir nicht bis zum Frühjahr – –«

»Na na, wir kommen schon ein paar gute Jährchen durch!«

»Diesmal nicht. Ich habe die Bücher angesehen. Siebzehn Prozent mehr unbezahlte Rechnungen als im vorigen Jahr.«

»Wirklich?«

»Sehr wirklich! Ich kann etwas tun. Aber ich muß von Ihnen dazu autorisiert sein und auch Ihre Unterstützung haben, wen ich will, einzustellen und rauszuschmeißen, und Ihre Freunde zum Bezahlen zu zwingen. Wollen Sie mich das tun lassen, oder möchten Sie lieber, daß ich gehe – noch heute abend?«

Barrow sah durstig aus. Fürchterlich, solche zehn Minuten nichts zu trinken zu haben! Mund voller Watte! Und wenn Myron ging, dann kamen viele noch schlimmere Abende, an denen er draußen in der Halle sein mußte. Aber – siebzehn Prozent weniger bezahlt als im Vorjahr?

Barrow sagte wehmütig: »Gut! Stellen Sie ein und schmeißen Sie raus, wen Sie wollen – außer mir! Und bringen Sie die verdammten Hunde zum Zahlen. Ich meine, Sie übernehmen die Leitung für eine Woche oder so. Sie denken wahrscheinlich, ich hab zu viel gesoffen. Gar keine Rede. Keine Rede. Ich trinke kaum einen Tropfen. Aber ich hab mich nicht sehr wohl gefühlt. In ein paar Tagen werd ich wieder auf dem Posten sein. Bis dahin übernehmen Sie das Kommando. Na – – Ich muß einen Sprung in die Bar machen. Bloß auf eine Minute, Jerry Lietrich will was mit mir besprechen.«

Noch am selben Abend ging Myron auf die Veranda hinter der Küche, sah den Chef dort vergnügt in majestätischer Erschöpftheit rauchen und entließ ihn.

Der Chef holte Fred Barrow aus dem Barraum und beschwerte sich bei ihm. Barrow warf ihm ein Glas an den Kopf und gab ihm damit zu verstehen, daß es mit der Freundschaft zwischen ihnen aus sei. Daraus machte sich der Chef bedeutend weniger als aus Myrons kalter und kurz angebundener Art, aber er begriff, daß er wirklich herausgeschmissen war.

Am nächsten Vormittag telephonierte Myron mit dem Stellenvermittlungsbüro in Jacksonville und verlangte einen Negerkoch, der nicht aus Florida sein sollte, weil sonst die Gefahr bestanden hätte, daß er mit Leuten vom Personal verwandt oder verbändelt sein könnte, sondern aus Westindien. Der neue Koch kam um fünf Uhr nachmittags, nachdem ein aufgeregter zweiter Koch Frühstück und Mittagessen zubereitet hatte; die beiden Mahlzeiten waren nur in einer Hinsicht schlechter als die vom Chef gekochten: der zweite Koch hatte versucht, feine Gerichte zuzubereiten, statt sich mit der guten ehrlichen Hausmannskost zu begnügen, für die sich seine Gaben besser eigneten. Myron holte den neuen Chef, einen geschmeidig und sympathisch aussehenden Quarteronen mit Jamaika-Akzent, selbst ab und hielt ihm folgende Ansprache: »Featherstonaugh – das ist doch Ihr Name? – ich bin dabei, Veränderungen im Hotel zu treffen. Ich möchte nicht, daß Sie mit dem anderen Personal zu vertraut werden. Es sind gute Jungens, aber sie sind ein bißchen nachlässig geworden. Wenn Sie was wissen wollen, wenden Sie sich an mich und sonst an niemanden.«

»Gewiß, jawohl, mit dem größten Vergnügen«, sagte Mr. Featherstonaugh.

Als Myron an diesem Abend um zehn Uhr in seine Wohnung hinaufging, um sich ein sauberes Taschentuch zu holen, hörte er, wie Mr. Featherstonaugh dem übrigen Küchenpersonal erzählte: »Und dann sagte der Junge, der Weagle da, zu mir: ›Mein Sohn, laß dich nicht mit deinen Mitsklaven ein. Das sind Faulpelze. Du hast die gnädige Erlaubnis, dich mit mir gut zu stellen, aber nicht mit einem von denen, ausgeschlossen, mein Sohn!‹ Ehrenwort, ich dachte, er ist mindestens der Inhaber, nicht ein Angestellter! Ich muß also vor euch Jungs und Mädels auf der Hut sein, was?«

»Hi-jah, hi-jah, hi-jah!« gackerten die anderen.

Myron, der still und sehr einsam an seinem dunklen Fenster oben stand, seufzte, wie der flotte Myron des Connecticut Inn niemals hätte seufzen können, und ging grimmig hinunter, um Mr. J. Surtayne Staub aufzulauern, dem freundlichen Arzneimittelfabrikanten aus Wilmington, der der Tippecanoe drei Wochen Pension und Zimmer und zweihundertvierundneunzig Korn schuldete.

 

Er erreichte etwas. Die Entlassung des alten Chefs hatte, obwohl an seine Stelle ein glatterer und geschickterer Verschwörer gekommen war, das Personal ein wenig beunruhigt, und Myron konnte erreichen, daß Halle und Korridore besser gesäubert und die Tennisplätze gejätet wurden – zur Freude der beiden jungen Männer, die als einzige unter hundertfünfzig Säufern gelegentlich einmal Tennis spielten – und daß nicht verbrannte Hühner auf den Speisezettel kamen. Er kassierte ein paar überfällige Rechnungen ein, aber nur ein paar, denn bei jedem empörten Opfer flehte Fred Barrow: »Hören Sie mal, Myron, alter Junge, treten Sie Smith nicht allzu sehr – er wird sicher zahlen – ein prächtiger Bursche – wartet nur auf einen Scheck.«

In dem monatlichen Finanzbericht, der vor dem 1. Januar 1905 an die New-Yorker Zentrale der Elphinstone-Gesellschaft geschickt werden sollte, mußten Myrons Schätzung nach siebenunddreißig Prozent von den wöchentlich zahlbaren Rechnungen als zwei bis sechs Wochen überfällig gemeldet werden. Er teilte das Fred Barrow mit, der nach Luft schnappte. »So schlimm ist es? Du lieber Himmel, ich muß mich ran machen und einkassieren. Sie wissen nicht, wie die Vagabunden behandelt werden müssen, mein Junge. Damit den Jungs, die Brieftaschenlähmung haben, was abgenommen wird, muß schon der alte Onkel Fred kommen!«

Einen Tag lang arbeitete Barrow eifrig daran, seinen Freundchen zu schmeicheln und gut zuzureden, sie möchten die Gnade haben, einen Teil ihrer Rechnungen zu bezahlen. Dann vergaß er es wieder.

Während die vergnügteren Seelen sich am Sonnenschein Floridas erfreuten und an ihrem Glück, zu jeder Tageszeit von acht Uhr früh bis drei Uhr morgens Gesellschaft zum Trinken zu finden und nicht von geldgierigen Kassierern gedrängt zu werden, einen wunderbaren Heiligen Abend verbrachten, der mit einem Tanz um den Christbaum um fünf Uhr früh am ersten Feiertag endete, litt Myron unter der grenzenlosen Unsauberkeit und Unordentlichkeit des Hauses und dem Gefühl, versagt zu haben.

Der Monatsbericht – Ausgaben, Eingänge, Inventar der vorhandenen Vorräte und vermutlich notwendig werdende Reparaturen und Ersatzbestellungen – hätte am 28. Dezember zur Post gegeben werden sollen, war aber an diesem Tag noch nicht einmal begonnen. Als Myron den Buchhalter zur Rede stellte, bekam er zur Antwort: »Mr. Barrow hat mir gesagt, ich soll noch ein paar Tage warten, bis er mehr Geld einkassiert hat, damit es etwas besser aussieht.«

Am 2. Januar telegraphierte die Zentrale: »Monatsbericht noch nicht eingegangen stop sofort senden.«

Myrow tobte mit der Nachricht zu Barrow hinauf.

»Heute mach ich mich wirklich an die Arbeit – sofort! Wir können die Zahlungen bißchen rückdatieren, so daß sie noch in den Dezember fallen, und dann sieht der Bericht ordentlich aus«, plapperte Barrow, einen starken Whiskygeruch verbreitend. »Ich werd mich zu dem verdammten Buchhalter setzen und ihm helfen, dann haben wir den Bericht morgen früh fertig. Wenn's notwendig ist, werd ich die ganze Nacht an dem Bericht arbeiten.«

Woran Mr. Barrow die ganze Nacht arbeitete, war jedoch kein Finanzbericht.

Myron ging früh in sein Zimmer hinauf, verärgert, niedergeschlagen, hoffnungslos. »Morgen kündig ich ihm für die nächste Woche. Ich komm mir hier so dreckig vor. Ach ja!«

In diesem Augenblick kam Tansy Quill herein, um das Bett zu machen.

Tansy Quill war das einzige Mädchen, überhaupt das einzige weibliche Wesen in der Tippecanoe, das Myron aufgefallen war. Der erfreulicherweise einzelstehende Myron hatte, wie seinerzeit im Connecticut Inn von der Wilden Witwe, von Damen Winke bekommen, daß es ihnen ein Vergnügen sein würde, ihn bei sich zu sehen, und um welche Zeit ihre Männer sich mit ernsthaftem und sachlichem Trinken unten in der Bar befaßten. Er war zu bekümmert gewesen, zu sehr von Sorgen geplagt, um über diese aufmerksamen Angebote nachzudenken. Tansy jedoch war, nach den wenigen Worten, die sie gewechselt hatten, sein einziger verläßlicher Freund in der Tippecanoe Lodge geworden.

Und Tansy Quill war Stubenmädchen und Oktoronin.

Ihre Haut hatte die Farbe goldbrauner Chrysanthemen; ihre kaukasisch geschnittenen Züge waren schön, aber nicht zu scharf; sie lachte leicht, aber niemals grundlos. Sie war intelligent und las viel. Wahrscheinlich hatte sie mehr, und mit mehr Urteilsvermögen, gelesen als alle anderen unter dem Dach der Tippecanoe Lodge außer Jerry Lietrich. Und sie teilte das allgemeine tragische Schicksal der hochstehenden Neger, deren Überlegenheit von minderwertigen Weißen und minderwertigen Schwarzen in gleichem Maße gefürchtet wird. Der schwarze Tagelöhner schrie ihr mit noch größerer Wut als der beschränkte weiße Herumtreiber nach: »Du verdammte, aufgeblasene Gelbe – zu jedem Angestellten im Hotel kriechst du in's Bett!«

Verhaßt bei den Schwarzen als zu weiß, und bei den Weißen als zu schwarz, verhaßt bei den Analphabeten als zu gebildet, und bei den Gebildeten verhaßt wegen der Zurschaustellung ihrer provinziellen Bildung. Beladen mit der Last aller Kompliziertheiten des Lebens im Amerika des zwanzigsten Jahrhunderts, und darunter noch die aus dem Abgrund des alten Afrika mitgebrachte Bürde.

Tansy war Myron dankbar, weil er sie weder als Schwarze noch als Weiße, weder als Intellektuelle noch als Zimmermädchen behandelte, sondern einfach als Kollegin, deren Arbeit er tüchtig fand. Es wäre ihr fürchterlich gewesen, wenn er sie mit jener exzessiven Aufmerksamkeit bedacht hätte, mit der weiße Bohemiens und Radikale, die bemüht sind, die Negerbrüder sich wohl fühlen zu lassen, ihnen mehr auf die Nerven gehen als mit jeder Unverschämtheit. Myrons wortreichster Gruß war bis jetzt gewesen: »Guten Abend, Tansy«, aber er war von einem wirklichen Lächeln begleitet gewesen – einem Lächeln, das für einen Mann von knapp vierundzwanzig Jahren sonderbar matt aussah.

Während sie die Decke zurückschlug und die Kissen aufschüttelte, betrachtete sie ihn.

»Müde, Mr. Weagle?«

»Ja, schrecklich.«

»Im Barraum ist es heute sehr laut – man hört es bis hier herauf.«

»Weiß Gott, ja!«

»Mr. Weagle! Es kommt mir wohl nicht zu – und von den andern Mädchen und Männern hier wird wahrscheinlich niemand derselben Meinung sein wie ich – und hoffentlich ist es nicht unverschämt von mir – aber ich weiß, wie Sie sich abgearbeitet haben, um ein anständiges Haus aus diesem Misthaufen zu machen.« Sie hatte ihre Hände mit den langen, spitzen Fingern, die die Farbe alten Elfenbeins hatten, aufgeregt ineinander verschränkt. »Bitte, geben Sie's nicht auf, gehen Sie nicht weg! Es wäre schrecklich ohne Sie. Die Herren würden – ach, ich glaube, Sie würden mich wieder nicht zufrieden lassen. Oh, ich fürchte, jetzt hab ich mir zu viel herausgenommen! Entschuldigen Sie. Gute Nacht!«

Sie floh.

Ganz verblüfft rief er aus: »Aber, sie ist ja entzückend! Entzückend! Ich könnt mich in sie verlieben.« Er malte sich aus, daß er Tansys Hand streichelte; er war voll Freude darüber, daß er einen Bundesgenossen hatte; und in dieser Nacht schlief er seit vierzehn Tagen zum erstenmal gut.

Am nächsten Tag telegraphierte die Elphinstone-Zentrale: »Augenblicklich Bericht senden«, und Fred Barrow ging mit blasser Miene in der Bar herum, um Rechnungen einzukassieren. Aber die Anstrengung und die Schmach, allem Anschein nach seinen lieben Freunden nicht zu vertrauen, waren zuviel für ihn, und um fünf Uhr verschwand er.

Zwei Tage später kam ein Telegramm, nicht von der Zentrale, sondern von Mark Elphinstone selbst: »Was soll das heißen, Bericht schicken oder es gibt Heulen und Wehklagen.«

Barrow befahl dem Buchhalter: »Schön. Wir müssen eben die Zahlen so einsetzen, wie sie jetzt sind«, und Myron erklärte er: »Das wird schon in Ordnung gehen. Wir kommen durch damit. Der alte Mark und ich sind seit Jahren gut befreundet. Er weiß, was ich für ihn getan hab, und von Ihnen muß er auch was halten, sonst hätt er sie von der verrückten Bruchbude in St. Louis nicht in ein so altes, gut eingeführtes Haus geschickt. Klare Sache. Wollen mal einen trinken. Machen Sie sich keine Sorgen, mein Junge. Und außerdem! Jetzt werd ich an die Arbeit gehen – gleich heute vormittag. Wenn's notwendig ist, werd ich Tag und Nacht arbeiten, und der Bericht vom 1. Februar wird einfach blendend aussehen. Ich fühl mich jetzt wohler. Ich geh gleich hinaus und laß von den verdammten faulen Gärtnern das Grundstück ein bißchen in Ordnung bringen.«

Er ging hinaus zu den Gärtnern – auf dem Weg über den Barraum.

Drei Vormittage später, als Fred Barrow wieder oder noch immer in der Bar saß, und Myron, der trotz der kleinen Ermunterung durch Tansy Quill nervös und rücksichtslos geworden war, einen der intimsten Trinkgefährten Barrows nicht mit seinem Gepäck abreisen lassen wollte, bevor er seine Rechnung bezahlt hatte, trabte Mark Elphinstone in die Halle.


 << zurück weiter >>