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9

Als Myron zum erstenmal in den Connecticut Inn in New Haven kam, dachte er an Herbert Lambkin aus Black Thread Center, der jetzt im Senioren-Jahrgang des Yale-College war. Er dachte, es wäre doch aufmerksam, ihm einen Besuch zu machen. War Herbert denn nicht der Bruder Julias, mit der Myron, wie er sich mit der Überlegenheit des gereiften Mannes belustigt entsann, so eine Art kindlichen Flirts gehabt hatte – der Bruder auch jenes goldhaarigen und ganz püppchenhaften Püppchens, der kleinen Effie May? Hatten sie nicht miteinander Fangen gespielt und, in jenen stillen, heiteren Tagen, in aller Freundlichkeit so getan, als kämpften sie miteinander? Aber gewiß doch! Er mußte dem guten alten Bert die Freude machen, ihn aufzusuchen!

Er machte die Entdeckung, daß Mr. Herbert Lambkin in dem alten Wohngebäude, das »South Middle« hieß, in keineswegs übermäßigem Luxus lebte. Er klapperte die abgetretenen Holzstufen hinauf und klopfte energisch an.

»Herein«, seufzte eine dünne und müde Stimme.

Myron stieß die Tür auf und erblickte ein ziemlich verwahrlostes Zimmer: ein Feldbett, einen Drehstuhl mit zerbrochener Rückenlehne vor einem Schreibtisch, auf dem verschmierte Lehrbücher und Nummern des Standard, einer in jenen Tagen beliebten schmissigen Zeitschrift, herumlagen, und eine Kommode, die alt gekauft aussah – und das in solchem Maße, daß man meinte, sie müßte schon alt gewesen sein, selbst als sie neu war. Der einzige Luxus war eine Fensterbank, bezogen mit einem bunten imitiert orientalischen Cretonne, auf dem Tempel aus Burma zu sehen waren, ägyptische Kamele, singhalesische Elefanten, Tänzerinnen aus Tanger und Palmen aus Florida.

Inmitten dieses Durcheinanders stand ein junger Mann, in dem Myron kaum Herbert Lambkin erkannte, so groß und mager und blaß war er geworden, und so dicke Brillengläser trug er. Seine Kleidung bestand aus einer ausgefransten Hose und einem Sweater.

»Ach!« piepste Herbert; und dann: »Ach, Sie sind Weagle, nicht wahr? Wie geht's denn?« Aber es klang nicht so, als läge Herbert wirklich etwas daran, zu erfahren, wie es Myron ginge.

»Ja, natürlich – Myron Weagle! Lange her, daß ich Sie gesehen habe.«

»Oh. Ja. Na – – Nehmen Sie Platz! Nehmen Sie zwei Plätze!« Das war im Jahre 1901 und ist vielleicht noch im Jahre 1931 höherer College-Witz. »Was machen Sie in New Haven, Weagle?«

»Ich arbeite hier. Bin im Connecticut Inn angestellt.«

»Oh. Was tun Sie da?«

»Ich bin in der Küche – als Fleischkoch.«

»In der Küche!« Herberts Lachen klang hochmütig und grell. Aber es sah fast aus, als machte er noch immer einen Witz, als er sagte: »Mir war doch gleich, als Sie hereinkamen, so, als ob es nach Fett röche!«

»Gar keine Rede! Ich hab einen neuen Anzug an und hab mich richtig gebadet!«

»Aber, aber, mein Bester, weshalb sich denn schämen? Ein netter und gesunder Geruch, der Geruch nach Küchenfett. Zweifellos viel angenehmer als der Geruch von Druckerschwärze und Mitternachtslampe, der einem armen Scholaren wie mir stets anhaftet! Und Ihre Mutter war ja auch Köchin. Sehr interessantes Beispiel von Vererbung.«

Myron war zu wütend, um zu sprechen, um auch nur mit Gegrunz ein gewisses Interesse zu markieren, während Herbert mit schwerfälliger Erhabenheit über die Freuden seiner Verbindung plauderte, über seinen großen Erfolg, den dritten Preis im Matthew-Twitchell-Wettbewerb in griechischer Prosodik, über seine außerordentlich intime Freundschaft mit Stub Van Vrump, dem Sprößling der überaus vornehmen Familie der geradezu prähistorischen Van Vrumps vom Washington Square, und über die Wahrscheinlichkeit, daß er, Herbert, Jura studieren und ohne großen Zeitverlust Senator für Connecticut in der Regierung der Vereinigten Staaten werden würde.

Seine Bekenntnisse wurden unterbrochen durch die Ankunft zweier Freunde und, wie es schien, Jahrgangskollegen von ihm. Myron, der als junger Hotelfachmann eine gewisse Erfahrung hatte, schätzte sie als liebenswürdig, weniger großsprecherisch als Herbert, ziemlich arm und recht unbegabt ein.

Man hatte in ganz Connecticut stets der Meinung gehuldigt, alle »Yale-Leute« wären junge Götter mit sportlich gestähltem Körper und Ehrfurcht gebietendem Vermögen. Myron wurde nun klar, daß sie eine ganz außerordentliche Ähnlichkeit mit gewöhnlichen Menschen hatten.

Die beiden jungen Leute begrüßten ihn recht freundlich, aber ziemlich neutral, sie wollten noch abwarten, als was dieser nicht der Welt des College angehörende Barbar sich entpuppen würde. Obgleich er seine Kleider besser trug als sie und ein bedeutend freieres Benehmen hatte, verriet er in seiner Art zu sprechen gelegentlich eine gewisse Unbildung, und das verwirrte sie. Herbert hatte große Angst davor, sie könnten merken, daß dieser Bursche, der sich erlaubte, »Bert« zu ihm zu sagen, ein Topfkratzer war. Er drehte Myron den Rücken zu und verwickelte seine Kollegen mit schlecht gespielter Interessiertheit in eine Diskussion über einen gewissen »Bill« und dessen Chancen, in die Fußballmannschaft zu kommen. Myron saß, immer wütender werdend, abseits auf der Fensterbank, trommelte mit dem Absatz auf ihrem Sockel herum und verstand kein Wort von dem, was geredet wurde. Er sah zum Fenster hinaus, er wurde den Frieden und die Würde des Campus mit dem in ganz Amerika berühmten Zaun im Schatten der Ulmen gewahr und empfand einen Haß gegen die Arroganz dieses durch nichts verdienten Friedens. Er ertrug diese Erniedrigung fünf Minuten lang, dann sprang er auf, dachte daran, Herbert einen Schlag auf die lange Nase zu geben, besann sich eines Besseren, sagte kurz: »Ich hab keine Zeit mehr«, und ging ohne Händedruck fort.

Wenn er Herberts höhnisches Gelächter bei seinem Abgang nicht hörte, bildete er es sich ein.

Zwei Jahre lang, bis Ora aus Black Thread ihn besuchen kam, betrat Myron nie wieder den Yale-Campus, und obgleich er Herbert im Connecticut Grill und auf der Straße manchmal sah, sprach er nie mit ihm.

Aber wenn dieser Hinterwäldler-Yankee auch reichlich unbedeutend war, so ließ er sich doch nicht so einschüchtern, daß er es geblieben wäre. Und er wurde auch nicht verbittert, wie es seinem Vater gegangen wäre. Dazu war er ein zu guter Hotelier. Er hatte zu viel Erfahrung mit hitzigen und reizbaren Vorgesetzten in der Küche einerseits und kühlen und reizbaren Gästen andererseits, um sich durch gute, normale, menschliche Gemeinheit erschüttern zu lassen. Er brummte bloß: »Die Lambkins werden sich noch einmal über mich wundern!«

Manchmal allerdings, wenn er einen ganzen schönen Apriltag lang in der Küche eingesperrt gewesen war, haßte er die jungen Herren von Yale, wenn er sah, wie sie, ein Liedchen vor sich hin trällernd, als freie Männer an dem »Dreckskerl«, dem Stadtbewohner, vorüberstolzierten, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.

 

Myron war vom zweiten Koch zum Kellner geworden, als Ora, nunmehr zwanzig Jahre alt, aus Black Thread Center kam, um Yale in New Haven und seinen Bruder – in der genannten Reihenfolge – zu sehen.

Es war Myron ein Jahr lang nicht möglich gewesen, Urlaub zu bekommen und seine Familie zu besuchen, und in dieser Zeit hatte er sich einzureden vermocht, daß er nicht nur Bewunderung, sondern auch zärtliche Gefühle für seinen jüngeren Bruder hegte, der eine so erstaunliche Bildung, Phantasie und Beobachtungsgabe besaß und überdies den Ehrgeiz hatte, über die Wirtshaussphäre hinauszugelangen – alles wirklich Eigenschaften, seufzte Myron, die er selbst niemals haben würde, weil er dazu viel zu dumm und wirrköpfig sei.

Ora war von der Höheren Schule, zu deren Absolvierung er ein Jahr weniger gebraucht hatte als Myron, als Siebzehnjähriger abgegangen und in Black Thread geblieben; er hatte sich, während er, wie Tom Weagle es mit zärtlichem Wohlwollen nannte, »weiter in seinen Studien vervollkommnete«, in zynischer Weise mit Arbeiten beschäftigt, die Myron seiner unwürdig fand. Er hatte im American House im Büro gearbeitet, war für den Black Thread Star and Tidings Berichterstatter gewesen und hatte eineinhalb Dollar für die Spalte bekommen, er war Agent gewesen für eine Hartforder Wäscherei, für Blitzableiter, für Sportgeräte und für Dr. Sibelius' Weltberühmte Seifen, Gesichtscreams und Lotionen. Er hatte dem Bankier der Ortschaft den ersten pferdelosen Wagen verkauft, den man in Black Thread zu sehen bekam, und der Christian Advocat hatte zwei Gedichte von ihm angenommen, »Babys Bettgebet« und »Die Wälder waren Gottes erster Tempel«. Mutter Weagle staunte darüber, daß ihr Ora die ganze Zeit diese religiösen Gefühle verborgen hatte und begann wieder zu hoffen, er würde doch noch Prediger werden. Die Gedichte fand sie einfach reizend.

Ora fand sie einfach blöd, und das erzählte er auch dem Redakteur der Star and Pidings, wobei er deutlich zu verstehen gab, er hätte sie lediglich geschrieben, um Geld damit zu verdienen, und seine wirkliche Lyrik beschäftige sich ausschließlich mit Vampyrweibern, die düstere, eingesunkene Augen hätten, mit seltsamen Sünden, allem, was scharlachfarben wäre, und den Inseln Griechenlands. Jedenfalls, erklärte er dem Redakteur, hätte er für die beiden Gedichte je dreieinhalb Dollar bekommen, und gebraucht hätte er für jedes nur eine halbe Stunde. Deshalb könnte er, wenn er Zehnstundenschicht machte, siebzig Dollar im Tag verdienen, das hieße zwanzigtausend Dollar im Jahr! Das könnte er augenblicklich tun!

Er war empört, als der Redakteur nur höhnisch schnaufte, und wandte sich mit dieser Finanzbotschaft an seine Mutter daheim.

Welche Beschäftigung Ora aber auch hatte, er lebte immer weiter im American House. Theoretisch bezahlte er Pension, aber an jedem lieben Sonnabend konstatierte er, daß er gerade in dieser Woche etwas knapp mit Geld sei.

Er ging nach New Haven, um sich darüber schlüssig zu werden, ob er Yale besuchen sollte. Er fühlte sich, als Zwanzigjähriger, etwas zu reif dafür, aber irgendwie mußte er doch einen viel größeren Vorrat schöner Worte zusammenbekommen, um für das Century schreiben zu können und bedeutend mehr als dreieinhalb Dollar für ein Gedicht zu bekommen – vielleicht zehn oder zwölf, das würde fünfzigtausend im Jahr machen.

Er trug das allerletzte, was es an Black Threader Kavalierskleidern gab: einen rotgestreiften graugrünen Anzug mit Revers, die abstanden wie Eselsohren, mit Taschen, die diagonal eingeschnitten waren und mit großen Perlknöpfen verzierte Klappen hatten.

Myron wurde es unbehaglich zumute, als er diesen Anzug selbstbewußt durch die verräucherte, vornehm alte Bahnhofshalle in New Haven schreiten sah. »Ob ich ihn dazu kriegen könnte, einen netten, unauffälligen grauen Anzug ohne solche Riesendinger dran zu tragen?« überlegte er bekümmert. »Nein, lieber gar nicht erst versuchen. Ora ist so fein und empfindlich, er könnte sich gekränkt fühlen.« Und er begrüßte seinen jüngeren Bruder mit der geistreichen Feststellung: »Na, da wärst du ja, da wärst du ja.«

Er hatte sich den Nachmittag und den Abend frei genommen. Er führte Ora durch das großstädtische Gedränge in der Church und der Chapel Street, zeigte ihm die Wunder der Welt vom East Rock – auf dem man an klaren Tagen bis zur zauberhaft fernen Küste Long Islands hinübersehen kann – und schleifte ihn schließlich auch, mit einem Gefühl des Unbehagens dieses Gebiet der Vornehmen betretend, rasch durch den Yale Campus, vor sich hinmurmelnd: »Durfee Hall – Wohngebäude; South Middle – Wohngebäude – sehr alt; Dwight Hall – Y. M. C. A.; Osborn House – Vorträge – jetzt aber rasch weg hier zu einem guten Eiscreamsoda.«

Am Abend brachte er Ora in ein richtiges Theater (es war das drittemal, daß Myron in seinem Großstadtleben so verschwenderisch mit seiner Zeit und seinem Geld umging) und sie sahen ein herrliches Stück namens » Mitternachtsvilla«, in dem ein Herzog, der ein gutes Herz, aber hinsichtlich des Spiels beklagenswerte Gewohnheiten hatte, seiner hochvornehmen Familie erklärte, sie möge sich zum Teufel scheren, und statt der ganz und gar widerwärtigen Lady Montjoie die Sekretärin heiratete. Seine Gnaden erschossen auch einen Einbrecher, gewannen ein Automobilrennen mit einer Stundengeschwindigkeit von fünfundvierzig Meilen (das Rennen selbst fuhr er hinter der Bühne, aber er kam in der überzeugendsten Weise im Staubmantel und mit Autobrille taumelnd heraus) und rettete den Vater der Sekretärin vor dem Bankrott, indem er dem alten Herrn den Gewinst überließ, den er an dem betreffenden Abend im Casino in Monte Carlo erzielte – es war nicht weniger als eine Million Francs. Und zum Schluß stellte sich noch heraus, daß der Vater in Wirklichkeit ein ungarischer Fürst, charakteristischerweise in Geldschwierigkeiten, war und seine Tochter infolgedessen eine Prinzessin.

»Herrgott!« seufzte Ora, als sie nach dem Theater in einem chinesischen Restaurant Vogelnestsuppe und ähnliche Köstlichkeiten aßen.

»Ich geh auch mal nach Monte Carlo. Herrgott, das war ein tolles Stück! Blendend gespielt! Ich werde ein Stück schreiben! Ein richtiges geistiges Stück à la Ibsen … Wieviel kann man wohl mit einem erfolgreichen Stück am Broadway verdienen?«

 

In dem Zimmer, das Myron für Ora in seiner Pension im selben Stockwerk genommen hatte, versuchte Myron, in der Hoffnung, daß Ora es der Familie weitergeben würde, klarzumachen, daß er, obgleich er nur ein Kellnerneuling war, ordentlich weiterkam und seinen Beruf wirklich gründlich lernte.

»– und ich glaube, ich kann eine Belegschaft Kellner leiten. Ich denke wirklich, ich könnte das jetzt schon, augenblicklich, wenn ich müßte. Ich glaube, wenn ich nicht noch einmal umsattle, vielleicht ins Büro, kann ich in ein, zwei Jahren Chefkellner in irgendeinem kleinen Hotel sein und in drei bis vier Jahren dann Ökonom.«

»Ach jaaaah, sicher, glaub schon«, gähnte Ora. »Wir klettern einfach hoch wie n nettes kleines Eichhörnchen, was! Wir haben gelernt, wie man Zwiebeln brät, Fleisch hackt! Ach ja, du wirst schon weiterkommen. Du wirst mal Direktor und Küchenchef und Flaschenwäscher in irgendeinem großen Mistladen sein. So ne richtige Jugendbuch-Geschichte: Vom Pagen zum Chef. Mach dir nichts aus mir. Ich mache bloß Spaß. Du hast dich großartig rausgemacht – sicher. Na, ich glaub, ich kriech jetzt in die Klappe.«

Bei ihrer Erforschung des Yale Campus hatte Ora darauf bestanden, Herbert Lambkin zu besuchen, der nach einem Jahr an der Juristischen Fakultät in Yale zu dem Schluß gekommen war, seine Gaben eigneten sich besser für ein Fach namens »Englische Literatur«, das sich mit dem Einbalsamieren und der Wiederbelebung von Mumien befaßte. Er blieb noch da, um die Priesterwürde eines »Magisters der Künste« zu erwerben.

Myron hatte gezögert. »Ach, heute haben wir keine Zeit. Später vielleicht.«

Am zweiten Tag hatte Ora wieder davon gesprochen, und da war Myron herausgeplatzt: »Nein. Ich will nicht. Bert ist nicht gerade nett zu mir gewesen. Er hält sich für zu gut, um mit einem Kellner zu verkehren! Vielleicht ist er das auch, aber mir ist es nicht gerade angenehm, daß er es auch zeigt!«

»Gut. Er soll sich zum Teufel scheren«, sagte Ora.

An diesem zweiten Tag mußte Myron wieder arbeiten, und Ora blieb sich selbst überlassen. Als Myron um fünf Uhr ein Tablett mit Freilunch von der Küche in die Bar brachte, sah er Ora und Herbert Lambkin beieinander an der Theke sitzen. Ihn ignorierten sie. Als er ging, sahen sie ihm nach und lachten. Sein Genick wurde ganz steif vor Ärger, aber – ach, Donnerwetter, Ora war ja noch ein Junge! Er war der einzige Bruder, den Myron hatte. Ora meinte es nicht so bös; er war bloß gedankenlos. Myron mußte die Ruhe bewahren und – nachdem es ihm jahrelang nicht gelungen war – ernsthaft versuchen, gut Freund mit dem Jungen zu sein und seine wunderbaren stilistischen Fähigkeiten und seine Phantasie und das alles zu würdigen.

Als Ora um halb zehn in die Pension kam, um für die Rückfahrt nach Black Thread zu packen, erwähnte Myron Herbert mit keinem Wort.

»Ich hatte einen fabelhaften Tag«, erzählte Ora strahlend. »Ach ja, ich hab Bert Lambkin getroffen – ganz zufällig. Ich bin ganz derselben Meinung über ihn wie du. Er ist ein kleiner Snob. Hör mal, ich hab mir heute einen Stoß Vorlesungsverzeichnisse und solche Sachen von Yale besorgt. Vielleicht versuch ich's zum nächsten Herbst. Wie war das, einen richtigen Yale-Mann in der Familie zu haben, Alter? Ach du, hör mal, könntest du mir fünfundzwanzig Dollar pumpen, bis ich wieder zu Hause bin? Bei mir ist gerade jetzt zufällig bißchen Ebbe. Sowie ich zu Hause bin, schick ich dir's.«

Als Myron das nächste Mal von Ora hörte, war er Reporter bei einer Zeitung in Waterbury. Von der Aufnahme der Studien in Yale hörte er genau so viel wie von der Rückgabe seiner fünfundzwanzig Dollar.

 

Gelegentlich störte es Myron, ja manchmal verdroß es ihn geradezu, daß er im Connecticut Grill, in dem er am Abend und am Spätnachmittag, wenn der Speisesaal geschlossen war, oft bediente, unter den Yale-Studenten, die da verkehrten, ein Kellner, eine unbeachtete, automatische Maschine war. Gegen ältere, schüchterne Leute, die ihm seine Hilfe dankten, war er gern aufmerksam. Er konnte sogar diese Pest ertragen, die Hotelkinder, die Kinder der »Ständigen« mit ihren Goldlöckchen, schrillen Stimmen, monströsen Süßigkeitenbestellungen und ihrer Überzeugung, daß jedes Mitglied des Personals nicht nur ein persönlicher Dienstbote sei, sondern auch gar nicht genug Freude daran haben könne, geholt zu werden, um sie zu unterhalten – um ihnen ein extra Stück Kuchen zu bringen, sie im Fahrstuhl fahren zu lassen, von den Türen die Bleistiftkritzeleien abzuwaschen. Diese konnte er ertragen, und der durchschnittliche Gast mittleren Alters, ob Geschäftsreisender oder etwas anderes, war ein liebenswürdiger und freundlicher Mensch. Aber unwiderruflich ein Fremder sein zu müssen unter jungen Männern seines eigenen Alters, die entschieden nicht bessere Manieren hatten und ganz bedeutend weniger Wißbegierde nach den Geheimnissen empfanden, die angeblich in Büchern verborgen sind – das hieß des Selbstvertrauens der Jugend beraubt werden. Höflich benahmen sich ja die meisten dieser jungen Herren in den schönen Anzügen mit den seidenen Verbindungskrawatten gegen ihn, die so viel von Europareisen, vom Polo, von Weekends in Northampton oder mindestens von Segelpartien im Sund sprachen, aber wenn sie ihn schon hundertmal gesehen hatten, auch wenn sie von ihm bis zur Tür gebracht und in einen Wagen gesteckt worden waren, weil sie zu viel Crème de Menthe oder Pousse-Café zu sich genommen hatten, konnten sie sich seiner noch immer nicht entsinnen. Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu denken: »Na, wahrscheinlich bin ich so besser dran, als wenn ich Mechaniker bei Winchester wär und überhaupt keine Gelegenheit hätte, neue Menschen kennenzulernen und zu sehen, wie verschieden sie alle leben«, und dann kam er wieder mit dem Knurren eines verwundeten Tieres zu der Feststellung: »Die werden sich alle noch wundern!«

»Einmal, wenn ich Direktor von irgendeinem ganz großen Riesenhotel bin und die Jungens da in der Schule unterrichten oder in der Bank schuften und vergessen haben, daß sie mal feine Yale-Leute waren, dann wird's ja ganz komisch sein, zu sehen, wie sie ankommen und sich mit Seiner Gnaden, dem Herrn Direktor, gut zu stellen versuchen, weil sie hoffen, er wird so freundlich sein, ihnen einen billigeren Preis zu machen. Keine Ahnung werden sie haben, daß sie mich schon mal gesehen haben, das wird dann komisch sein … Vielleicht.«

 

Die größte Heimsuchung und die größte Wonne eines kräftigen, jungen Kellners waren die einsamen und liebesverhungerten Frauen, die im Hotel lebten.

In ständigem Wetteifer miteinander erklären Romanciers und Psychologen, daß so gut wie alles, was ein Mann an Gefühlen und heimlichen Gedanken habe, dem »Sexus« gewidmet sei. Wahrscheinlich ist dieses Dogma ebenso falsch wie das victorianische Dogma, das behauptete, daß kein anständiger Mann jemals an solche Dinge denke und, wenn er zufällig eine unbekleidete Dame in seinem Schlafzimmer entdecke, dies unweigerlich nur mit bekümmerter Überraschung tue. Man kann die Beobachtung machen, daß die Bürger, die sich eifrig mit der Liebe befassen, oft bleichsüchtig sind, eine seßhafte Lebensweise führen und schiefsitzende Brillen tragen, während man von bärenkräftigen Männern, ob sie nun Aktienmakler, Nationalökonomen oder Boxer sind, oft weiß, daß sie in aller Keuschheit rasch mit dem Fünf-Uhr-siebenundfünfzig-Zug zu ihrer Frau nach Hause fahren und mehr Sonntagnachmittage mit Golf und Gin und Kontoauszügen verbringen als damit, mit den Frauen der Nachbarn zu tanzen. Das mag den Psychoanalytikern als Ketzerei klingen, aber es läßt sich dafür die Autorität der Bolschewisten und der Baptisten ins Treffen führen, die in einem Punkt einig sind, nämlich in der Behauptung, daß kräftige Männer weniger der Unzucht als ihrer Arbeit ergeben seien.

Myron war ein starker, gesunder, junger Mann und hatte ganz entschieden mehr von seinen Gedanken an die Arbeit als an Liebeständeleien gewendet. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren war er noch jungfräulich. Und doch hatte er gezittert, wenn er bei Picknicks Mädchenbeine und Blusenausschnitte sah, und bei seinem Geschmachte für Julia Lambkin hatte es ihn, ohne daß er es sich eingestand, nach intimeren Dingen als bloß nach einem Kuß verlangt.

Er wurde in ganz unromantischer Weise von einer mageren Witwe verführt, die im Land umherreiste und mit »Vorführungen« Propaganda für die Vorzüge des Kolibri-Kuchenmehls machte, indem sie in Delikatessenläden vorkochte, und die zwischen ihren Reisen im Connecticut Inn wohnte … Das war fünf Jahre, nachdem Ora als Sechzehnjähriger seine ersten Laboratoriumsexperimente mit einem deutschen Farmermädchen gemacht hatte – als Laboratorium hatte ein verlassener Steinbruch fungiert.

Bisweilen wurde Myron als Zimmerkellner aus dem Speisesaal abkommandiert. Er hatte ein Tablett mit Frühstück zu der Vorführ-Witwe in Zimmer 64 gebracht. Sie saß im Bett. Verführerisch sah sie keineswegs aus. Ihr Gesicht glich zerknülltem Papier, aber sie hatte reichlich Rouge aufgelegt und ein Häubchen aus Spitzen und blauen Bändern aufgesetzt, und über ihrem etwas spärlichen Nachtgewand trug sie ein aus rosa Seide gestricktes Bettjäckchen. Sie war mindestens vierzig Jahre alt.

»Soll ich das Tablett auf den Tisch stellen, gnädige Frau?« murmelte der vollkommene Kellner.

»Ach nein – nein – das ist nicht so gemütlich, finden Sie nicht auch, Myron? Och nein, nein! Ist gar nicht nett für so ein kleines Mädelchen, sich an einen riesengroßen Tisch setzen zu müssen, nicht? Bringen Sie mir's her, mein Junge.« Sie säuselte. Das »mein Junge« klang ganz wie »mein Liebling«. Während Myron das Tablett auf das Bett setzte und sich darüber wunderte, wie sie seinen Vornamen erfahren haben könnte, nahm sie seine Hand und schwatzte drauflos: »Ach, du Grundgütiger! Was für große, starke Hände! Und so schöne starke Schultern. Sie sollten in Yale sein und Fußball spielen, statt so alberne und unbedeutende Geschöpfe wie mich zu bedienen.«

Er war entsetzt. Er wollte davonlaufen. Aber sie hielt seine Hand fest und sprach weiter: »Beeilen Sie sich nicht so. Ich bin so allein, Myron – die ganze Woche unterwegs, und dann bloß dieses einsame Zimmer da, in das man zurückkommt, kein wirkliches, behagliches Zuhause, und kaum einen Menschen kennt man, und – – Setzen Sie sich doch bloß auf eine Sekunde zu mir auf die Bettkante und reden Sie ein bißchen, ja?«

Er setzte sich, so züchtiglich, als nähme er auf einem Lehnstuhl in Gesellschaft eines Kätzchens Platz.

»Werden Sie nicht auch einsam, Myron, manchmal?«

»Ich weiß nicht. Ich denk wohl nicht viel darüber nach. Ich les ziemlich viel. Wenn das nicht sein würde – –«

» Wäre. Nicht sein würde. Ich werde Ihnen ein bißchen Grammatik- und Sprachunterricht geben, Myron. Ich war früher einmal Schullehrerin, aber da wurde man so schlecht bezahlt. Ich werde Ihnen eine Grammatik und ein paar Übungsbücher leihen, und Sie werden angestrengt arbeiten müssen, bis Sie so sprechen können wie Präsident Hadley. Würde Ihnen das Freude machen?«

»Ach, das war wunderbar!« Er war dankbar; seine Scheu war verschwunden.

»Ich werde noch heute in meinem Koffer nachsehen und die Bücher herausholen. Könnten Sie am Abend so gegen neun Uhr heraufkommen –«

»Ja – aber – –«

»Nur um die Bücher zu holen, meine ich.«

»Sicher, sehr gern.«

»Dann geben Sie mir ein Gutenmorgenküßchen und gehen Sie, Sie komisches, schüchternes Kind!«

Er neigte sich zu ihren Lippen vor, uninteressiert, mechanisch, aber das war kein mechanischer Kuß von einer freundlichen Lehrerin. Ihr Mund war wie heiße Sahne; er war nicht ein empfindungsloses Organ wie die kalten Lippen der Schulmädchen, die er beim »Stille-Post-Spielen« manchmal geküßt hatte, sondern etwas Selbständiges mit einem eigenen angespannten, erfahrungsreichen Leben. Er vergaß, daß sie Runzeln hatte. Es schüttelte ihn vor Verblüffung und entsetzter Erregung, und er ließ nicht los, bis sie ihn mit einem Druck ihrer sehnigen Hand auf seine Brust von sich stieß und lachend sagte: »Jetzt gehen Sie aber! Sie sehen, es passiert Ihnen nichts bei der Wilden Witwe! Bloß ein freundlicher Gutenmorgenkuß! Neun Uhr abend also. Lassen Sie sich beim Hereinkommen von niemand sehen. Es könnte mißverstanden werden.«

Er stand draußen im Korridor und zitterte, als ob er einen Schüttelfrost hätte. Den ganzen Tag lang, während er mit Tellern und Schüsseln eilte und vor sich hinmurmelte: »Jawohl, bitte, mit Bohnen, jawohl«, dachte er schmachtend an die Wilde Witwe. Er malte sie sich edelmütig, heiter und schön aus. Als er um neun Uhr ins Zimmer stolperte, hatte sie ein Negligé aus Spitzen und pfirsichfarbenem Atlas an. Schweigend umklammerten sie sich; schweigend, ohne nutzlose und törichte Erklärungsversuche mit Worten, taumelten sie miteinander zum Bett. Alle Jugend Julia Lambkins war ihm niemals so frisch vorgekommen wie das Fleisch des Arms, den die Witwe um seinen Hals gelegt hatte.

 

Die Wilde Witwe war alles in allem, in jeder Hinsicht, gut für Myron. Sie war freundlich, klug und dankbar. Er verspürte eine Verringerung der physischen Anspannung, die ihn manchmal des Nachts mit Gedanken über unklare Nichtigkeiten wach gehalten hatte, und der psychischen Spannung, die ihn zu ernst, zu eifrig gemacht und in allzu große Nähe jenes Hochmuts gebracht hatte, vor dem er seinerzeit in der Pension in Black Thread von Miss Absolom gewarnt worden war.

Sie brachte ihm so manches über das richtige Sprechen bei. Er hatte in der Schule wohl Lehrgegenstände gehabt, die sich »Englische Grammatik« und »Englische Literatur« nannten, aber da die sogenannten Höheren Schulen Amerikas – damals sowohl wie heute – so eingerichtet waren, daß ein großer, liebenswürdiger Junge es nicht notwendig hatte, harte Tatsachen oder strenge Gesetze zu lernen, sondern den dilettantischen Lehrerinnen bloß freundlich zulächeln und eine interessierte Miene zeigen mußte, hatte Myron von den Regeln der englischen Sprache fast noch weniger Ahnung als von denen der französischen. Der Syntax-Unterricht war eine sinnlose, mechanische Schinderei in ungelüfteten Klassenräumen gewesen. Jetzt aber war sie eine unerläßliche Bedingung für sein Fortkommen, für sein Zusammensein mit den Männern, denen er es voll Zuversicht in der Hotelbranche zuvorzutun hoffte. Das einzige, worum er die Yale-Studenten, die er bediente, wirklich sehr beneidete, war die Tatsache, daß sie auch dann, wenn sie in ihrem augenblicklichen Slang daherschwatzten, noch immer hübscher zu sprechen schienen als Mr. Coram im Hotel Zum Adler oder der wichtigtuerische kleine Direktor des Connecticut Inn.

Mit der Wilden Witwe las er laut König Lear und Bruchstücke von Charles Lamb, Addison, De Quincey und die ziemlich hochtrabenden Leitartikel, die damals bei den größeren New Yorker Zeitungen im Schwange waren.

Als die Wilde Witwe mit einemmal, ganz überraschend, einen rätselhaften Hauptmann Sowieso aus Montclair in New Jersey heiratete und auch dorthin übersiedelte, war Myron außer sich. Wochenlang blieb er schwermütig und traurig. Er malte sich die Wilde Witwe als Schöne Helena aus, aber klüger und zärtlicher. Nach drei Monaten aber interessierte er sich für ein hübsches Stubenmädchen, und dann war eine Tournée-Schauspielerin da, und nachher kamen noch andere, ohne alle Komplikationen und ohne besondere Bedeutsamkeit, denn ob er sich nach der Witwe für irgendeine Frau im selben Maße interessierte wie für eine ordentliche Sauce Béarnaise, ist sehr zweifelhaft.


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