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2

Ein junger Dichter wanderte mit seinem Hund zu den kleinen Hainen und Grotten, zu dem Frieden und der Freiheit des Ulmenhügels hinauf. Doch einen Augenblick blieben sie am Garten des Mannes stehen, von dem Ora gelernt hatte, daß es noch vieles mehr gibt auf dieser Welt als Lilien und Sonntagvormittags-Langeweile, als Rosen und streng respektable Connecticuter Freuden. Das war der Reverend Waldo Ivy, der anglikanische Geistliche. Obgleich sein Name Efeu bedeutete, war Mr. Ivy rundlich, rot und kurzatmig. Seine Liebe galt der Liturgie, der Tradition, der Sauberkeit und der Poesie. In Black Thread fand man ihn »komisch«. In den zehn Jahren seiner Tätigkeit an dieser Kirche hatte er genau eine Seele gefunden, die sein Evangelium – Schönheit ist Wahrheit, und Wahrheit Schönheit – begriff, und das war Ora Weagle. Er liebte es, »Hochwürden« genannt zu werden, und dies tat nur einer. Auch dieser eine war Ora. Wahrscheinlich hatte er es aus seiner Kipling-Lektüre. Von ihm hatte Ora alles gelernt, was er wußte – wenn Ora überhaupt etwas wußte.

In der Höheren Schule, in deren Junioren-Jahrgang er im nächsten Herbst kommen sollte, hatte Ora gelernt, Wesen und Art der Literatur seien folgendermaßen charakterisiert: In ferner Vergangenheit – vor sehr, sehr langer Zeit, noch vor der amerikanischen Revolution – gab es gute Schriftsteller. Recht gute. Ein Herr namens Caesar, der nach England fuhr und die Eingeborenen amerikanisierte. Cicero, der sich einem Mann namens Catilina entgegenstellte und damit dem Gangster-Unwesen für alle Zeiten ein Ende machte. Und Virgil, der irgendwie sehr schön war. Ferner gab es – aber diese wurden nur in vornehmen Schulen wie in Andover gelesen – Griechen wie Homer, Sophokles und Aeschylos, die ziemlich wichtig waren. Dann sprang die Literaturgeschichte über einige Zeit hinweg – zweihundert oder vielleicht auch zweitausend Jahre – und man kam zu Jane Austen, Dickens, Thackeray, Scott, Tennyson, Longfellow, Whittier, Walt Whitman und Poe. Diese Schriftsteller waren alle tot. Ja, das ganze Zeitalter der Literatur war tot, wie das Zeitalter der Ritter, obwohl es auch einige ganz gute Journalisten gab, die noch lebten – William Dean Howells und Mark Twain und einen Franzosen namens Anatole France.

Der Reverend Waldo Ivy jedoch hatte Ora erzählt, die Literatur stehe noch in ihren Anfängen, der Kampf der Welt um Schönheit und Gerechtigkeit sei noch nie so glorreich gewesen wie gerade jetzt. Die Augen des Knaben leuchteten, und sein Atem ging schneller, wenn Mr. Ivy Zeugnisse für sein Evangelium anführte. Und in dem kleinen anglikanischen Arbeitszimmer, das nach den Ledereinbänden alter griechischer Bücher und den Leinenbänden moderner Romane roch, schenkte Mr. Ivy schließlich einem Schüler Vertrauen und las ihm vor:

»Bis die See sich träge hebt, und die Klippen erstöhnen,
Bis Terrassen und Matten der Meerschwall trinkt,
Bis der Hochflut Wogen wüten und dröhnen
Um den Fels, der wankt, das Land, das versinkt.
In seinem Triumph dann, wo alles brach liegt,
Auf der Beute hier, die er sich selbst darbot,
Wie ein Gott, der am eignen Altar sich erstach, liegt
Tot der Tod.«

Es war ein ganz kleines Arbeitszimmer, das Mr. Ivy da gleich hinter der Kirche hatte; ein weiß getünchter Raum an einem zwei Quadratmeter großen Garten mit einem zementierten Weg, den er seinen Philosophenpfad nannte. Im Garten wuchsen steifer Krokus und schüchterne Stiefmütterchen. An den Wänden des Zimmers hingen Bilder von S. Paolo Fuori le Mura, von Thoreau und Emerson. Als der Priester aus Swinburne vorgelesen hatte, warf er einen schüchternen Blick auf Ora und sagte:

»Es gibt größere Poesie als all dies. Und zwar in der Bibel. Ich glaube kaum, daß du sie kennst. Siehst du, mein lieber Junge, die Väter meiner Kirche wußten schon vor sehr langer Zeit alles, was uns heute Kummer macht. Möchtest du etwas davon hören?«

»Klar!« antwortete Ora.

»Das ist vielleicht das Schönste an Dichtung, was je geschrieben wurde. Hör zu, mein Sohn:

»Ehe denn der silberne Strick wegkomme, und die goldene Schale zerbreche an der Quelle, und das Rad zerbrochen werde am Born.

Denn der Staub muß wieder zu der Erde kommen, wie er gewesen ist und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.

Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, ganz eitel.«

Mr. Ivy blickte über die Brille hinweg, die in seinem roten Gesicht saß.

Der Junge weinte.

»Ich hab gar nicht gewußt«, schluchzte er, »daß die Bibel Poesie ist! Ich hab immer gemeint, sie wär bloß Religion!«

 

Aber das war vor zwei Jahren gewesen.

Als Ora an diesem Julimorgen Mr. Ivy herablassend über den Zaun zunickte, empfand er keine Ehrfurcht. Denn jetzt war er selbst ein Dichter und brauchte keinen Respekt vor den alten Besen zu haben, die seine Rivalen waren.

»Ora«, fragte Mr. Ivy, »kennst du das Sonett von Wordsworth, das so anfängt: Zu sehr umgibt die Welt uns – spät und früh?«

»Klar. Feines Stück. Na, wir müssen rasch weiter«, sagte Ora. Er kannte das Sonett nicht, aber schließlich – es war früher Morgen, es waren Ferien, und gefolgt von dem umhertollenden Lancelot spazierte er weiter.

 

Da der kleine Hügel »Ulmenhöhe« hieß, wuchsen selbstverständlich größtenteils Tannen und Kiefern auf ihm. Es gab da eine verborgene Bodensenkung, die, wie Ora fest überzeugt war, außer ihm noch kein Sterblicher entdeckt hatte. Dort lag er in dem warmen, süßen Harzduft, während Lancelot neben ihm keuchte und hustete und sich kratzte. Er träumte – es waren die ungeformten, rein visuellen Träume eines jungen Dichters: Burgen. Mägdlein, weiß wie Milch. Zu Xanadu befahl der Große Chan der Tartarei, ein Haus der Wonnen prunkvoll zu erbaun. Blaue Windspiele mit silbernen Schellen. Auf seinem Thron aus scharf behauenem Granit verschlummert Gott Äonen. Degen, so spitz wie Schmerz. Kalifornien und schier unerträglicher Sonnenglast auf gelben Mohnblüten. Wilde weiße Pferde, die an einer Orangen-Mesa vorüber durch die Wüste galoppieren. Ein Erzbischof, der in Gewändern steif von Gold die Messe liest. Ein verhungernder Forscher, der in ein tibetanisches Dorf taumelt. Ein englisches Landhäuschen inmitten von Rosen. Ein Luftschiff – aber natürlich konnte es niemals Luftschiffe geben – sauste mit einer Stundengeschwindigkeit von 100 Kilometern über die blaue Himmelsveste … Blaue Himmelsveste! Sehr schön gesagt! Auf so etwas wie »Blaue Himmelsveste« würde Myron nie kommen!

Osiris' Priester sah ich beten mit erhobnen Händen, sich verneigend vor des Tempels weinbekränzten Wänden. Ja, aus ihren Augen scharlachrote Sünde sprach, doch mein von allen war das größte Ungemach. Im heiligen Bergland springen tausend Bronnen, die spenden ewger Jugend Wonnen. Der Herrscherhof, wo Tamshyd in Prächten residierte und viel roten Weines trank. Ein Weib, das nach ihrem Teufelsbuhlen klagt. Nimm auf dich Schmerz und Qual, allüberall zu suchen nach dem Heiligen Gral. Köstliche Wonnen. Mächtige Feen. In weißen Golddamast gehüllt, mystisch, wunderwirkend. Goldene Kronen werfen sie ins gläserne Meer. Die Eule fror, so dick auch ihr Gefieder war. Speere, Speere, getaucht in Lichtesglanz.

»Ach du lieber Gott, wenn ich es nur könnte!« seufzte Ora.

 

Wie die meisten gesunden Jungen hatte Ora ununterbrochen Hunger. Trotzdem wollte er nicht zurück zu den Schrecken des American House, er wollte weder das Genörgel seiner Mutter, seines Vaters und Myrons noch Alice Aggertys oder Flossy Gitts' Singsang hören: »Muschelsuppe, Tomatensuppe, Filet, Koteletts, Irish Stew, Schweinebraten, Gemüse«; er zog es vor, einen Maiskolben zu verspeisen, den er in weiser Voraussicht geklaut hatte, während er in der Küche mit seiner Mutter sprach.

»Was für einen Namen soll ich mir denn zulegen?« fragte er Lancelot. »Ein Schriftsteller kann doch nicht Ora Weagle heißen!«

Donner krachten, Blitze zuckten, und in geheimnisvoller Weise kam ihm aus unbekannten Regionen sein Schriftstellername: Marcel Lenoir.

»Herr Jesus, das ist ja blendend!« murmelte Ora. »Wenn ich bloß wüßte, wo ich das immer her hab! Marcel Lenoir! Ist ja fabelhaft! Heh, du, Lancelot! Hör doch! Marcel Lenoir!«

So erblickte in einem duftenden Kieferngehölz ein Dichterheld das Licht der Welt: Marcel Lenoir.

 

Pete Breyette, aus dem der Berichterstatterstab der Black Thread Center Star and Tadings bestand, hatte soeben einen wichtigen Artikel beendet:

 

Mrs. Trumbull Lambkin empfing am letzten Donnerstag den Epworth-Bund bei sich. Es wurde Kaffee, Pfannkuchen und Eis gereicht, der Reverend Swan sprach ein kurzes Gebet, und alle verbrachten einige vergnügte Stunden.

 

Pete lehnte sich zurück, steckte seinen Bleistift ein und seufzte befriedigt auf. Er blickte auf das gelbe Konzeptpapier. Da stand es, fertig, literaturfähig: die ganz gewöhnliche Tatsache unsterblich gemacht. Aber er sprang auf, und aller Stolz auf seinen Stil schwand dahin, denn durch das große Fenster des einstöckigen Star and Tidings-Gebäudes blickte Ora Weagle herein. Nun war Pete zwar ein Mann von achtzehn Jahren und Ora erst fünfzehn, aber Pete wußte: er selbst mochte ein noch so gereifter Journalist sein, der ausgezeichnet über die Parade der großen Bürgerkriegs-Armee oder gar über den Jahrmarkt zu berichten imstande war, Ora war ein Genie, an das er niemals heranreichen konnte. Er winkte, und Ora kam herein, die Worte »Marcel Lenoir« murmelnd.

»Hah?«

»Marcel Lenoir. Mein Pseudonym. Schön?«

»Herrgott – ja – das ist einfach blendend. Das ist mal ein Name. Sag mal, Ora, was für Pläne hast du?«

»Was für Pläne ich habe? Was meinst du?«

»Na, wegen deiner literarischen Karriere.«

»Ach. Na schön, ich will dir's sagen.« Ora setzte sich, kippte seinen Stuhl zurück und legte die Füße auf den Tisch wie Pete in seinen besten Augenblicken. Er ließ sich eine Zigarette reichen und rauchte sie auf das mannhafteste, nur ganz wenig hustend. »Ich will dir's sagen. Die Sache ist so. Erst mal werd ich Reporter werden. Selbstverständlich muß man zuerst Reporter sein, bevor man Schriftsteller werden kann – das wird dir jeder Reporter sagen. Ich werd wohl zur New York Sun gehen, aber ich denke nicht daran, früher als in zwei drei Jahren dort eine Stellung anzunehmen; erst muß ich wohl noch was lernen. Dann werd ich auf Reisen gehen – ganz egal wohin, nur raus aus diesem verstunkenen alten Nest! Es ist möglich, daß ich eine Forschungsexpedition nach Afrika mitmache oder sowas. Dann geh ich als Sekretär zu irgendeinem großen Schriftsteller – zu so jemand wie Mark Twain. Muß natürlich sehr angenehm für solche Leute sein, einen Sekretär zu haben, der selber was mit der Literatur zu tun hat! Und der gebildet ist. Dann werd ich so weit sein, daß ich schreiben kann. Zuerst Lyrik. Aber worauf ich eigentlich aus bin, das sind große Romane. Ich rechne damit, daß ich der Dickens von Amerika werde. Herrgott! Mit einem großen Haus und einem Paar feinen Trabern und sechs oder sieben Anzügen! So denk ich mir's. Natürlich kann ich mir's auch noch überlegen. Ich könnte auch nach dem Westen gehen, statt nach Afrika, und Ranch-Besitzer werden. Aber ich hab ja noch Zeit genug, mir später darüber klar zu werden.«

»Du hast wirklich allerhand vor, Ora. Ich würde mich gar nicht sehr wundern, wenn du das alles vielleicht auch wirklich machst.«

»Na ja, natürlich werd ich das machen! Was denkst du denn!«

»Ja, warum gehst du dann nicht gleich jetzt aus dem Provinznest da fort?«

»Ach, daran ist mein Bruder schuld, der Bauernlümmel. Der zwingt mich dazu, hier in der Schule zu bleiben, wo ich doch schon eine ganze Menge mehr weiß wie die Lehrer, nur können die eben im Buch nachsehen, während wir alles auswendig sagen müssen, und deshalb können sie uns bei den Jahreszahlen erwischen. Heiliger Strohsack, Pete, du hast ja keine Ahnung, was ich unter Myron, unter dem Riesenroß, zu leiden hab! Der hat nicht einmal so viel Verstand, daß er die Arbeit in einem Hotel ekelhaft finden kann! Hotelführen! Auch eine Sache! Zu besoffenen Gästen nett sein müssen! Küchengeruch! Jeden Morgen Betten machen! Eine widerliche Arbeit! Und er meckert nicht einmal darüber. Myron hat keine Phantasie, keinen Stolz, keinen Sinn für Schönheit, könnte man sagen. Er könnte eben ganz einfach nie begreifen, wie ein wirklicher Künstler empfindet, niemals!«


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