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29

Myron lief die Treppe zum Zimmer 97 hinauf, gefolgt von Dutch Linderbeck, einer stets größer werdenden Schar erschrockener Gäste – und fünfzehn Zeitungsberichterstattern, die entzückt darüber waren, daß man sie eingeladen hatte, über Nacht zu bleiben.

Mardy Paxton, eine bekannte Stammkundin übelbeleumundeter Lokale lag, Blut auf der Brust ihres freigebigen seidenen Nachtgewandes, auf dem Bett in Nr. 97. Der Sohn des Senators Colquhoun kauerte zusammengesunken in einem geblümten neuen Lehnstuhl am sauberen neuen weißen Kamin, seine rechte Schläfe war weggeschossen, Stuhl und Kamin waren blutbeschmiert.

»Was für Beweise haben Sie dafür, daß die beiden sind, was Sie behaupten?« fragte der älteste New-Yorker Reporter Dutch Linderbeck.

»Da sind Briefe an die beiden, aus ihrem Gepäck, und das Adressenbuch von dem Jungen. Sehen Sie mal an!«

»Herrgott, das ist ja ein gefundenes Fressen! Senator Colquhoun ist der alte Kracher, der immer Heim und Herd gegen korrumpierende Filme und Bücher verteidigt hat!« jubelte der Reporter.

Worauf Myron, ganz unpersönlich, gar nicht laut sagte: »Ja, es ist ein gefundenes Fressen für die Reporter. Eine Sache für die Titelseiten. Und es ist das Ende meines Gasthofes! In der Eröffnungsnacht!«

»Hören Sie mal, Weagle, kann ich das zitieren?« schrie der jüngste der Berichterstatter, dessen journalistische Tätigkeit vor vierzehn Tagen noch darin bestanden hatte, bei Geschäftsschluß Herrenanzüge aufeinanderzustapeln.

»O Gott!« sagten die anderen Reporter.

Myron ordnete an: »Ich bitte alle, außer dem Personal und den Journalisten, so freundlich zu sein und in die Zimmer zurückzugehen. Sie können hier nichts tun.«

Die in Decken gehüllten Gäste warfen ihm böse Blicke zu. Aber er schob sie hinaus und schloß die Tür.

»Sie stellen sich hier an die Tür und lassen niemand herein«, befahl er Dutch Linderbeck.

»Ja, aber – –«

»Ja aber, Dreck! Sie tun, was ich Ihnen sage! Ich hab immer schon die Leute gefressen gehabt, die ja aber sagen!« raste Myron. »Alles verschwindet von dem Korridor, sofort! Und Sie, meine Herren von der Zeitung, ich laß jetzt sofort die beiden Telephonistinnen aus dem Bett holen, damit Sie Ihre Zeitungen von den Zimmern aus anrufen können.

»Ich will die Briefe sehen, die die beiden in ihren Sachen hatten«, sagte der älteste Reporter.

»Wenn der Sheriff hier ist, wird er entscheiden, ob Sie sie sehen können oder nicht. Ich zeig sie Ihnen jedenfalls nicht.«

»Hören Sie, Weagle, wenn Sie wollen, daß wir was für Sie tun – –«

»Das einzige, was ihr für mich tun könntet, wäre eine Rückgängigmachung dieser Katastrophe, und so was kann, glaub ich, nicht mal die Presse! Hier verschwindet alles! Keiner bleibt im Korridor! Verschwinden!«

Er stand am Ende des Flurs und blickte über die Treppe zum Büro hinunter. Er hatte das Gefühl, er müßte etwas tun. In seinem ganzen Leben war er, so oft ihm etwas Unangenehmes zustieß, imstande gewesen, sich an seinen Herd, an seinen Silberschrank oder an seinen Schreibtisch zu stürzen und etwas Wichtiges zu tun. Und jetzt konnte er nichts entdecken, was zu tun wäre, er konnte nur von der Treppe zu dem Wache stehenden Linderbeck hinsehen und wieder zurück.

Dick Pye kam die Treppe herauf, gemächlich, vollständig angezogen – nur die Hosen hatte er vergessen. Er gähnte: »Na, Weagle, wie ich höre, haben wir Pech gehabt. Ich bin froh, daß Sie gleich da waren und eine Panik verhindern konnten.«

»Ich weiß nicht. Ich weiß gar nicht, ob ich so tüchtig war!«

»Was denn, Teufel! Reden Sie nicht so schuldbewußt! Sie haben die beiden doch nicht umgebracht – oder doch? – nicht, daß ich mir was draus machen würde!«

»Nein, aber ich wollte, ich hätt sie umgebracht, bevor sie hergekommen sind und sich das Zimmer genommen haben. Wie kommt es nur, daß es fast jedem Schwein, das Selbstmord begehen will, so viel Spaß macht, irgendeinem unschuldigen Hotelier sein Geschäft kaputt zu machen? Schweine!« Dann lachte Myron. »Ich dachte, ich würde das Lokal richtig eröffnen. Ich bin ein ziemliches Rindvieh, Pye. Ist Ihnen das schon mal aufgefallen?«

»O ja. Das fällt mir an den meisten Menschen auf. So was zu merken, ist die erste Aufgabe eines Hoteliers. Manchmal denk ich mir, der liebe Gott muß in seiner Allmacht eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Leiter eines großen Hotelkonzerns haben. Na, wenn unsere Gäste gut und sauber tot sind, gehen wir wohl am besten wieder schlafen. Gute Nacht, mein Junge – Sie sind richtig – machen Sie sich nicht eine Sekunde lang Sorgen – Sie haben Dolph Charian und mich hinter sich.«

»Ja? Und was ist zu tun?« murmelte Myron, als Pye abzog.

Fünf Minuten später kam Sheriff Everett Beasy die Treppe herauf gelaufen; in seiner Begleitung waren ein Sheriff-Stellvertreter, im Privatleben Garagenbesitzer, und ein Arzt aus Black Thread. Myron wies die beiden an Dutch Linderbeck und taumelte hinunter ins Büro.

Dort hielt ihn der Küchenchef Gritzmeier an. »Ich hab von der Sache gehört, Chef. Macht nichts. In zwei Wochen wird kein Mensch mehr etwas davon wissen. Hören Sie, ich hab gewußt, daß Sie sich Sorgen machen, und da hab ich Ihnen selber eine Tasse Kaffee gemacht. Kommen Sie in die Küche und trinken Sie sie. Es wird Ihnen gut tun.«

»Danke. Wirklich sehr lieb von Ihnen, aber ich könnt unmöglich was anrührn.«

»O ja, Sie können, Chef!« Gritzmeier lachte. »Da!« Er holte aus einem Versteck unter dem Büropult einen Whisky-Soda hervor. Myron goß ihn in sich hinein und sagte: »Ja! Jetzt ist mir wohler. Gute Nacht, und schönen Dank!«

Wie in einem Trance-Zustand taumelte er durch den Garten zu seinem Häuschen hinüber. Er konnte nichts mehr tun. Plötzlich waren alle Kraft, alle Geduld und alles Streben aus ihm verschwunden, und er war toter als der erschossene Junge oben im Lehnstuhl.

Es war drei Viertel drei, aber in seinem Häuschen brannte noch Licht.

 

»Effie, armes Kind! Welcher Oberidiot hat sie denn geweckt, um ihr das zu erzählen. Sie wird ganz außer sich sein.«

Er hörte Musik. Als er in das Wohnzimmer des Häuschens wankte, saß Effie May am Pianola und spielte die beliebte Ballade: »Immer munter, Kindchen, immer heiter, das Leben ist ja bloß ne Hühnerleiter. Wir sind auf Rosen gebettet im Leben, solang wir uns nur Küßchen geben.« An das Pianola gelehnt stand Ora, einen Ginfizz in der Hand, und sang vergnügt grinsend den hübschen Text.

»Um Gottes willen, hör mit der Schweinerei auf!« fauchte Myron.

Ora protestierte: »Verflucht noch einmal, was ist denn mit dir los? Mußt du immer vermeckert sein, sogar am Eröffnungsabend von deinem ollen Gasthof?«

»Eröffnung – und Schließung. Der Sohn eines U.S.-Senators hat sich und seine Geliebte umgebracht.«

»Erschossen?«

»Ja.«

»Du guter Gott! Du guter Gott! Warum hast du mich nicht holen lassen? Himmel, ich könnte dich für diese Rücksichtslosigkeit umbringen! Warum hast du mich nicht früher davon verständigt. Ich hab noch nie in meinem Leben einen Menschen gesehen, der gerade gestorben ist. Ich hätt eine fabelhafte Kurzgeschichte draus machen können.«

Jetzt ging Effie May auf Ora los: »Halt den Mund! Ach, Myron, du Ärmster, und du hast doch den Gasthof so geliebt.«

Sie umfing ihn, und sein Kopf ruhte an ihrer Brust. Er fühlte sich wieder geborgen. Aber in seiner Benommenheit wußte er nicht, daß es Effie Mays Brust war, an der er eine Zuflucht gefunden hatte; er dachte, es wäre die Brust seiner Mutter.

 

Gerade als er sich so weit aufgerappelt hatte, ins Bett zu gehen, klingelte es, und er ging unsicheren Schrittes zur Tür.

Benny Rumble, der kleine Pressechef, stand auf der Schwelle und keuchte: »Soeben hab ich von der Tragödie gehört! Das ist ja furchtbar! Mein guter Ruf wird ja ganz beim Teufel sein, wenn man mich mit einem Lokal in Zusammenhang bringt, wo solche Sachen passieren! Können Sie nicht allen Leuten sagen, daß ich gestern meinen Posten aufgegeben habe, bevor das Ganze passiert ist? Oh! Was Mrs. van Gittels sagen wird, kann ich mir gar nicht vorstellen!«

Myron schlief bis zehn Uhr morgens.

Als er zum Gasthof hinüber ging, konnte er gerade noch erfahren, daß der Messingverband bereits den Beschluß gefaßt hatte, den Kongreß abzubrechen, daß der Vorsitzende des Verbandes sich aus dem Staub gemacht hatte, und daß die meisten anderen Gäste am Nachmittag abreisen wollten.


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