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18

Frieden und Trost barg die Wiese am Hügel, aber nichts Weichliches, dazu waren die kleinen Windstöße zu frisch; die Spätfrühlingsblumen leuchteten im hohen Gras auf wie verstreute Emaillestückchen – weiße und leuchtend rote Maßliebchen, Butterblumen, Wiesenklee, und dazu das Pompejanischrot der Habichtskrautblüten. Zufrieden und voll Behagen strich Myron mit dem Handrücken über die kitzelnden Grashalme, während er, so entspannt wie seit Jahren nicht, auf dem Rücken lag, und faßte dann nach der Hand Effie Mays, die neben ihm saß.

Es war gut, bei dem Abenteuer des Nichtstuns einen Gefährten zu haben. Ihre Gegenwart machte ihn zu etwas Ganzem. Im Büro, während der langen Gespräche mit Alec Monlux und Mark Elphinstone und Luciano Mora, war er so unvollständig gewesen, so sehr nicht ganz, der Mann ohne weibliche Ergänzung. Und welche Frische und Güte ging von der Hand dieses unverdorbenen Mädchens aus!

Er war, so überlegte er, einigermaßen von Häßlichkeiten und Widerwärtigkeiten verschont geblieben, und die meisten Gäste waren gute und anständige Leute gewesen, und doch hatte es auch, das war ja unvermeidlich, so viele andere gegeben – die kleinen Hoteldiebe, deren Schäbigkeit das Unerfreulichste am Umgang mit ihnen war, die Zechpreller und Scheckschwindler, die einem mit ihren überlauten Unschuldsbeteuerungen auf die Nerven fielen, die Selbstmörder, die mit ihrem Blut Schmach und Schande über Hotelzimmer brachten, die heimlichen Sünder und die ebenso unerquicklichen Sittenapostel, die, in der Öffentlichkeit, gegen die privaten Sünden anderer Leute protestierten. Nach dem unaufhörlichen Ärger mit solchen Plagen war Effie Mays Heiterkeit das Wasser des Lebens.

Es mußte, so dachte Myron voll jubelnder Freude, ein großes Vergnügen sein, mit einem solchen frischen Mädchen neue große Dinge zu sehen – Städte, hohe Türme, Berge. Man hatte nicht viel davon, wenn man allein war, wenn man es mit niemand teilen konnte. Ihre Familie bedeutete natürlich eine ganz gehörige Belastung, aber – Um so mehr Grund, sie von ihr zu befreien! … Wenn er eine Stelle an einem Hotel für Herby, für den kleinen Herby, den widerlichen Bert fände, dann müßte das weit oben in Alaska sein, und ohne Rückfahrkarte! … Effie May, das arme Kindchen! Etwas für sie tun, ihr die Welt zeigen – ja, und sie sich von ihr zeigen lassen, sie mit ihren frischeren und weniger müden Augen sehen, das würde dem Leben wieder Sinn und Zweck geben!

 

»Möchten Sie eigentlich Reisen machen, Effie?«

»Ach, das fänd ich herrlich. Es wäre wunnerbar!«

»Wo waren Sie denn überhaupt schon?«

»Ach, eigentlich nirgends. Ich bin einmal mit Julia und Willis zum Bomoseen-See hinaufgefahren. Das war noch, bevor sie den Wagen verkaufen mußten. Und einmal hat Papa mich auf zwei Tage nach New York mitgenommen; er hatte geschäftlich zu tun. Ach! wenn wir damals bloß gewußt hätten, wo Sie waren; es ist zwei Jahre her; wir hätten Sie aufgesucht; hätten Sie sich gefreut, uns zu sehen?«

»Ob ich mich gefreut hätte? Und wie! Ich hätt Ihnen den ganzen Laden vorgeführt und Ihnen eine gute Flasche Wein gegeben.«

Sie lachte. »Das wär wunnerbar gewesen. Aber Wein wär für meinen armen kleinen Kopf wohl zu schwer geworden. Ich hab noch nie Wein getrunken – höchstens mal etwas Holunderwein und Löwenzahnwein, und Bier find ich einfach ekelhaft, es ist so bitter. Aber, ach, ich hätte ja so gern ein richtiges großes Hotel gesehen; wir haben in einer schrecklichen muffigen kleinen Bude gewohnt, die kaum größer war als das American House – – Oh! Das war aber häßlich von mir! Ich hab ganz vergessen, daß das American House – –«

»Sie haben ganz recht. Das American House ist ein scheußliches kleines Mistloch. Aber warten Sie nur ab, bis ich mit dem Umbau fertig bin! Besonders groß wird es ja dann auch nicht werden, aber es wird genau so behaglich und freundlich sein wie ein Stadthotel. Aber was würden Sie dazu sagen, weiter zu reisen – zum Beispiel nach Europa, und Kathedralen zu sehen und Schlösser und viele Gemäldegalerien und so weiter?«

»Ach, das fänd ich herrlich! Es wär einfach wunnerbar! Ich bin nur so unwissend und ungebildet wie ein Kaninchen, Myron. Ich habe ja von Kunst und Musik und alldem keine blasse Ahnung.«

»Na, ich kann Ihnen verraten, mein Kind, daß ich auch keine Ahnung davon hab! Über elektrische Geschirrwaschmaschinen und Heizungsregistrierapparate und Stahlmöbel hab ich ja eine ganze Menge aufgeschnappt, aber die Strafe, die ich dafür zahlen mußte, ist, daß ich sonst nicht viel weiß. Und du lieber Gott, ich möchte doch so viel wissen, alles möcht ich wissen.«

»Aber wie können Sie so was sagen, Myron! Ich hab immer das Gefühl, Sie wissen so viel – –«

»Keine Spur. Ich bin ein ungebildeter Ragout-Jongleur. Und ich möchte lernen. Ich wollte, ich verstände etwas von Bildern. Ich wollte, ich könnte fließend französisch und deutsch und italienisch sprechen wie Luciano Mora – das ist ein Kollege im Westward; Sie werden ihn noch kennen lernen, und er wird Ihnen so gut gefallen, daß ich ganz eifersüchtig sein werd! Und dann hätt ich gern auch alle Dichter gelesen wie Ora.«

»Na, das hat er ganz bestimmt nicht getan – ich hab Ora, seitdem ich erwachsen bin, natürlich nur wenig gesehen, aber trotzdem geh ich jede Wette ein, daß er mehr mit sich hermacht, als hinter ihm steckt, genau so wie mein eigener süßer Bruder. Du lieber Himmel, Bert hört überhaupt nie auf zu reden!«

»Hören Sie mal, Effie May, jetzt hör ich Sie zum erstenmal was Dummes sagen. Ora ist ein sehr geistiger Mensch, er hat eine ganz ungewöhnliche Phantasie und Originalität und Menschenkenntnis und so weiter und so fort, und er hat ganz bestimmt alle Dichter und Schriftsteller gelesen; das kann man daran merken, wie er sich immer auf sie bezieht. Natürlich, ein alter steifer Besen wie ich hat manchmal den Eindruck, daß er ziemlich unpraktisch ist und in Geldsachen unachtsam – er wird wahrscheinlich immer in Schwierigkeiten sein und ein bißchen Hilfe brauchen – aber von einem so empfindsamen und sensibeln Menschen wie ihm kann man nicht erwarten, daß er mit den Alltagsschindereien so gut fertig wird wie so ein hartgesottener alter Arbeitsesel wie ich.«

»Sie sollen sich nicht beschimpfen! Sie sind kein steifer alter Besen! Es macht Ihnen doch immer so viel Spaß, was Neues auszuprobieren – zum Beispiel der hübsche neue Cretonne in der Halle vom American House. Ich will nicht, daß Sie sich schlecht machen! Und wenn ich Ora oder Bert oder sonstwen dabei erwische, kratz ich ihm die Augen aus.«

Er blickte auf zu ihr, zu ihrem Goldhaar, das wie das einer nordischen Göttin schimmerte, als sie sich über ihn beugte. »Würden Sie das wirklich tun?« fragte er flüsternd.

Sie flüsterte zurück: »Ganz bestimmt würd ich das tun!«

Er zog sie an sich. Sie war so weich! Sie neigte sich herunter, küßte ihn mit unbekümmerter Herzlichkeit auf die Wange, sprang auf und rief: »Kommen Sie, Dummerle! Wir wollen lieber weitergehen!«

Die ineinandergeschlungenen Hände schwingend, als wären sie sechzehn Jahre alt, wanderten sie, zwischen den leuchtend roten Flecken der Habichtskrautblüten hindurch, über den Hügel. In der freien Hand trug Effie May ihren altmodischen breitkrempigen Blumenhut. Ihre Schwester Julia lachte sie aus, weil sie etwas so Altmodisches und Ländliches trug, und Herbert schimpfte, wenn sie schon unbedingt sich mit solchen Kindereien gesellschaftlich unmöglich machen wolle, könne sie doch wenigstens versuchen, ein bißchen an seine offizielle Stellung zu denken, aber sie blieb in jedem Sommer dabei – es war ihr einziges sichtbares Aufbegehren gegen die Unerschütterlichkeit der Presbyterianerkreise Black Threads. Als sie sich jetzt an diesen großstädtischen Sachverständigen wandte, an Myron Weagle, versicherte er ihr, breitkrempige Hüte seien das Allereleganteste, die Van Rensselaers in Newport trügen sie immer, und da war sie atemlos vor Dankbarkeit – und von dem ungewohnten Gehen – während sie den Hügel hinunter zur Chaussee nach Black Thread stapften.


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