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Wochenlang waren erbitterte Konferenzen abgehalten worden, aber erst im Dezember 1927, etwas mehr als ein halbes Jahr nach der Eröffnung des Gasthofes, erklärten Pye und Charian ihren Partnern Myron und T. J. Dingle, welche Änderungen sie in der Führung des Unternehmens vornehmen wollten, um es zu »retten« … und sie hatten die Aktienmehrheit. Die Konferenz war scheinbar ganz friedlich: die vier Männer saßen in zurückgekippten Stühlen um Myrons Schreibtisch herum, Pyes Stimme klang unbekümmert und heiter, Dingle war höflich und vorsichtig, Myron und Charian sprachen langsam, als wäre gar nichts Besonderes im Gange – und es war ja auch wirklich nichts Besonderes im Gange, höchstens vielleicht für Myron, und für ihn handelte es sich auch bloß um die Zerstörung alles dessen, was er in den siebenundvierzig Jahren seines Lebens geplant hatte.

Man würde, verkündete Dick Pye, die Preise auf sechs bis acht Dollar im Tag herabsetzen. Um das zu ermöglichen, müßte man die Verpflegungs- und die Bedienungskosten sorgfältig verringern, man müßte Gritzmeier sowie Clark Cleaver und eine bestimmte Anzahl von Zimmermädchen, Kellnern und Pagen entlassen. Die erfahrenen Zimmerkellner sollten durch gewöhnliche Tablettschlepper ersetzt werden. Die Anzahl der Zimmer, die von einem einzelnen Zimmermädchen versorgt wurden, sollte von zehn auf vierzehn erhöht werden, was notwendigerweise zur Folge hätte, daß weniger Staub gewischt und gefegt sowie die Einrichtung vereinfacht würde.

Und es sollte Alkohol verkauft werden.

Das heißt, er sollte, genau genommen, nicht verkauft werden, das wäre ungesetzlich und könnte das Hotel der Gefahr aussetzen, geschlossen zu werden. Aber man würde mit Sheriff Beasy Frieden schließen – und was könnte gesetzlicher sein als das? – und das Personal sollte die Erlaubnis bekommen, den Gästen entgegenkommenderweise den Namen des dem Sheriff befreundeten Bootleggers zu nennen, und wenn der Bootlegger seine Ware hier absetzte, ginge es das Hotel nichts an; das Hotel würde gar nichts damit zu tun haben, es würde lediglich eine Provision von ihm nehmen. Und wenn er einen Boden im Stall als Vorratsraum für seine Ware benutzte, ohne daß das Hotel es wüßte – wäre das dann etwa ihre Schuld?

Myron, der sich Mühe gab, seine Worte nicht ernster klingen zu lassen als die des munter drauflos schwätzenden Dick Pye, kämpfte mit ihm Schritt um Schritt, insbesondere was die Entlassung Gritzmeiers und den Alkoholverkauf betraf, und wurde Schritt um Schritt geschlagen; schließlich erklärte Pye im muntersten Plauderton: »Jetzt noch ein Vorschlag zum Schluß. Zunächst werden Sie ja nicht für die Idee sein, Weagle, aber wenn Sie sich die Sache überlegen, werden Sie einsehen, daß damit alles für Sie einfacher und leichter wird. Charian und ich sind voll Anerkennung dafür, wie Sie sich bemüht haben, das hier zu einem wirklich vornehmen und erstklassigen Etablissement zu machen, und wir wissen auch ganz genau, daß es nicht Ihre Schuld ist, wenn nicht alles so gekommen ist, wie Sie sich's vorgestellt haben. Wir sind sicher, daß das alles noch mal werden wird, und dann können Sie wieder alles so machen, wie Sie es ursprünglich geplant haben, und wir werden uns darüber am allermeisten freuen. Die meisten von den Änderungen sind aber ganz gegen Ihren Geschmack, und deshalb haben wir beschlossen, Jimmy Shanks vom Dickens hier herauszubringen, damit er den Laden übernimmt. Nein! Moment! Wir befördern Sie und geben Ihnen den Titel ›Generaldirektor‹ – leider wird das Gehalt geändert werden müssen – und Sie können sich ganz der Propaganda und dem Umgang mit den Gästen widmen. Oder wenn Sie lieber etwas anderes probieren wollen, würden wir versuchen, Ihnen Ihre Interessen zu einem anständigen Preis abzukaufen – vielleicht könnte Mr. Dingle hier uns bei der Abschätzung behilflich sein –«

»Mit anderen Worten, Pye, ich hab einen Kontrakt mit Ihnen und Sie können mich nicht rausschmeißen, und deshalb wollen Sie mich aus meinem Kontrakt herausdrängen.«

Dick Pye tirillierte mit Engelsmiene: »Ach, sowas würd ich nicht sagen! Na hören Sie! Titel eines ›Generaldirektors‹! Denken Sie doch, um was das besser klingt als einfach ›Direktor‹!«

 

Das System, das technisch »einen Mann aus seinem Kontrakt drängen« heißt, ist eine der bewundernswertesten Methoden, die die moderne Geschäftswelt kennt, um ungesetzliche Dinge auf gesetzlichem Wege zu tun. Mit ihrer Hilfe erledigt man jeden leitenden Angestellten, jeden Arbeitnehmer, der so wichtig ist, daß er einen Vertrag bekommen hat, auf Grund dessen er nur entlassen werden kann, wenn ihm eine Verfehlung nachzuweisen ist.

Zunächst wird er gedemütigt. Privatbüro und Sekretärin werden ihm genommen. Er wird, während man ihn ans Kreuz schlägt, mit ironischer Höflichkeit behandelt, aber er wird im Hauptbüro inmitten seiner früheren Untergebenen an ein lächerlich kleines Schreibtischchen gesetzt. Dann geht man folgendermaßen vor. Ist er ein fauler Mensch, der den ganzen Tag bloß Zeitung lesen würde, wenn man ihm nichts Wichtigeres zu tun gäbe, so werden ihm so geringfügige Aufgaben zugeteilt, daß alles über ihn zu lachen anfängt. Ist er aber fleißig und ehrgeizig, so wird er Tag um Tag unbeschäftigt gelassen und bleibt unbeachtet, bis sein Stolz mit ihm durchgeht und er seine Stellung hinschmeißt. Ob es aber so kommt oder so, auf keinen Fall ist es wahrscheinlich, daß er es aushält, bis sein Vertrag abgelaufen ist.

Da Myron ein fleißiger und ehrgeiziger Mensch war, bedienten sich Pye und Charian durch Vermittlung Jimmy Shanks' der zweiten Methode. Er hatte keine andere Pflicht, als in seinem Büro zu sitzen, und die ihm aufgezwungene Muße, die erste, seitdem er mit jener bedeutend weniger quälenden Krankheit, der Influenza, zu Bett gelegen hatte, ging ihm sehr auf die Nerven – nicht das Geringste zu tun als zuzusehen, wie Jimmy Shanks, der neue Direktor, voll Eifer und Liebenswürdigkeit das Heiligtum besudelte.

 

Gritzmeier und Clark Cleaver wurden entlassen.

Der neue Küchenchef war ein geschniegelter Bursche aus New York, der seine Erfahrungen in Nachtlokalen gesammelt hatte, in großen, billigen Hotels, Kettencafeterias und dem Dachgarten eines Hotels. Er konnte famose Desserts für Spezialdiners herrichten, mit schimmernden Fäden gesponnenen Zuckers und ähnlichen Scherzen, aber er hatte nicht das geringste übrig für die geduldige Zubereitung einer Bouillon, die wirklich nach etwas schmeckt, oder für frisches Gemüse. Jimmy Shanks und der neue Küchenchef führten miteinander sehr viele »Sparmaßnahmen«, wie es hieß, ein. Sie mischten die Sahne mit Kondensmilch. Sie machten Kuchen ohne Butter und ohne Eier. Sie führten im Gasthof alle Frauenclub- und Hausfrauenecken-Desserts ein, die Myron haßte: scheußliche Drogerie-Präparate mit Stachelbeersyrup und Nüssen und Ananasscheiben und Eibisch und Büchsenkirschen. Sie inserierten, und hatten auch Erfolg damit: »Jeden Freitagabend das gute, alte Neuengland-Dinner« – Muschelragout, Bohnen, Cornedbeef mit Kohl, und Kürbiskuchen, mit Maisstärke statt mit Eiern gemacht – und alle automobilfahrenden New-Yorker priesen mit lauten Worten den delikaten Wohlgeschmack dieser Mahlzeit.

Und wenn Shanks weniger genießbares Essen lieferte, so setzte er dafür mehr Gerichte auf die Speisekarte und druckte sie auf Pappe mit Goldecken; der Mehrzahl der Gäste gefiel die Änderung, und der bekümmerte Myron fragte sich, ob er jemals etwas von der Führung eines Hotels verstanden hätte.

Und wenn Shanks die ausgezeichnete Kapelle durch eine billigere ersetzte, so waren die neuen Musikanten dafür lauter, und er führte im Tanzsaal genau die Sorte von bunten Beleuchtungseffekten, Konfetti, Papierhüten und Wimpeln ein, die in den übelsten Nachtclubs beliebt waren; wiederum war alles glücklich und zufrieden, und Myron dachte daran, von neuem mit dem Ausfegen von Fußböden anzufangen, bis er sein Gewerbe gelernt hätte.

Die Arrangements mit Beasys Bootlegger funktionierten glatt und gut; die Gäste machten, wenn sie betrunken waren, nicht mehr Lärm als zu der Zeit, da sie sich ihren Alkohol selbst mitgebracht hatten, und das Hotel verdiente daran. Der neue Empfangschef interessierte sich viel weniger für die verwandtschaftlichen Beziehungen der Damen und Herren, als Clark Cleaver es getan hatte. Und der Gesamtgewinn des Gasthofes stieg trotz der Preisermäßigung. Im Winter 1927/28 kam eine ganz nette Anzahl von Leuten zum Wintersport, und wenn sie es zum größten Teil vernünftiger fanden, zu tanzen und zu trinken, als in die Kälte hinauszugehen, Ski zu laufen, Toboggan zu fahren und Schlittschuh zu laufen – ja, so ersparte einem das eben um so mehr die Sorge, ob es auch genug Schnee gäbe. Unter der Leitung Shanks' wurde der Gasthof eine vernünftige und realistische Einrichtung: einer der angenehmsten und behaglichsten, in nachmittägiger Automobilfahrt von New York bequem zu erreichenden Treffpunkte und Zufluchtsorte für wohlhabende Trinker, und alle Welt außer Myron Weagle war glücklich und zufrieden.

»Sie werden wohl wirklich das sein, was man ›vernünftig‹ nennt. Sie nehmen diese Sportkavaliere einfach als das, was sie sind, und geben ihnen einfach, was sie haben wollen. Aber ich kann mich eben nur mit dem zufrieden geben, was ich mir unter einem schönen Hotel vorstelle«, dachte der Fanatiker.

 

Er suchte seinen wenigen Vertrauten, Effie May, Ora, Alec Monlux, und vielleicht auch sich selbst klar zu machen, was er eigentlich angestrebt hatte. »Ich hätte ein solides, lukratives Geschäft hier aufgebaut, das fünfzig Jahre lang hätte leben können, wenn man mir nur Zeit gelassen hätte«, erklärte er hartnäckig.

Alec war trotz all seiner Zuneigung nicht sehr interessiert. Er war nicht ein Mensch, der Hotels oder irgend etwas anderes schuf; er war ein Mann, der seinen Posten ausfüllte, der, was ihm aufgetragen wurde, eben so gut durchführte, wie er konnte. Ora höhnte. Sogar Effie May konnte nichts sehen, was Anlaß zu Klagen geben könnte, wenn Myron bloß Shanks los würde. »Was ist denn das für ein Unterschied, ob du deine Gäste ihren Fusel selber mitbringen läßt oder ob du ihn ihnen verkaufst? Doch höchstens, daß in dem einen Fall das Hotel etwas vom Profit hat?« fragte sie, und Myron war geschlagen; darauf hatte er keine logische Antwort.

Er gab es auf, erklären zu wollen – außer sich selbst, und an sich hatte er keinen sehr guten Zuhörer.

Er fühlte sich einsam und beschämt, während er so zusah, wie Shanks den Gasthof ruinierte. Oft genug versuchte er die Zügel wieder in die Hand zu bekommen, aber Pye und Charian hätten ihn mit einer gerichtlichen Verfügung hinaussetzen können. Am liebsten wäre er davongelaufen, um dem Anblick dieser Entweihung zu entfliehen, aber wenn er blieb, konnte er die Macht vielleicht doch wieder an sich reißen. Er unterbreitete Shanks ununterbrochen Vorschläge, denen dieser begeistert zustimmte, ohne sie jemals auszuführen. Im übrigen saß Myron, solange er es hintereinander aushalten konnte, untätig in seinem Büro. Die treuen Gäste, die er auf seiner Privatliste stehen hatte, wollte er ganz entschieden nicht auffordern, das Etablissement aufzusuchen, zu dem sein Gasthof geworden war!

Er schlief nicht gut. Er bekam die unglückselige Angewohnheit, um fünf Uhr aufzuwachen, obgleich er vor sieben nichts zu tun hatte. Um Effie May, die im Bett neben seinem schlief, nicht zu stören, pflegte er reglos liegen zu bleiben, bis seine Muskeln die so lange beibehaltene Lage nicht mehr ertragen konnten, und dann kroch er hinaus in die Kälte, hüllte sich in ein groteskes Kostüm aus Mantel und Schlafrock über dem Schlafanzug, stapfte hinunter, setzte sich an den kalten Kamin, rauchte Zigaretten und versuchte mit geröteten, schmerzenden Augen Magazine zu lesen. Im Anfang dieser Periode der Schlaflosigkeit machte er sich des Morgens selbst Kaffee, aber es wurde ihm zu mühsam, und so blieb er einfach, vor Schläfrigkeit zitternd, sitzen – bis er sich niederlegte, und dann sprang ihn der Feind von neuem an. Die ganze Zeit fror er und war hungrig, aber wenn der Kellner um acht Uhr mit dem Frühstück vom Gasthof herüberkam, konnte er nur ein paar Schluck Kaffee trinken.

Effie May ahnte kaum etwas von diesem gequälten Herumlungern. Sie hatte einen jungen, gesunden Schlaf.

Über sich als Individuum, ohne Zusammenhang mit seiner Arbeit, hatte Myron in seinem ganzen Leben niemals viel nachgedacht. Er war so altmodisch, sogar jetzt noch, nach dem Krieg, keinerlei faszinierende Beschwerden, Komplexe, Störungen und ähnliches zu haben. Nun erblickte er sich als Myron, als nacktes Individuum, nicht mehr geborgen von den Mauern der Arbeit, und er wurde dieses stets anwesenden Menschen sehr überdrüssig. Einmal sah er beim Erwachen die bekannte Hand Myron Weagles, beleuchtet vom Mond, der durch das Fenster hereinschien, auf der Steppdecke liegen, und im Zustand jener Persönlichkeitsspaltung, der manchmal einige Sekunden nach dem Erwachen anhält, ächzte er: »Da ist schon wieder der Mensch, noch immer ist er da! Du guter Gott! Wie er mir auf die Nerven geht! Muß ich denn ununterbrochen mit ihm zusammen sein?«

Er gab sich, was er früher nicht getan hatte, brütenden Gedanken über jeden Menschen hin, der ihm übel mitgespielt hatte – über Pye, Ora, Herbert und Julia Lambkin, Carlos Jaynes, Sheriff Beasy, seinen Vater. Früher hatte er seinen Streit gehabt, etwas in der Angelegenheit unternommen und sie wieder vergessen; jetzt saß er, ein kranker Mann, in den leeren Stunden des frühen Morgens da und beschäftigte sich damit, seine Kümmernisse wiederzukäuen.

Er versuchte sich zu heilsamer Tätigkeit aufzustacheln, aber die Gewohnheit des Trägeseins zerbrach ihn, und wenn er beschloß, sich eine neue Arbeit zu suchen, konnte er sich nicht dazu bringen, Briefe zu schreiben, konnte er nicht einmal überlegen, was er tun, wen er aufsuchen sollte. In solchen Stunden sehnte er sich danach, sich gesund und gründlich zu besaufen, aber er hatte Angst vor diesem Anästhetikum; er hatte allzu große Betäubungserfolge beobachtet, nicht nur an tausend unglückseligen Gästen, die sich in Hotels verkrochen, sondern auch an seinem eigenen Vater und an seinem eigenen Bruder. Er hatte Angst – ganz entschieden Angst; und Angst hatte er noch nie in seinem Leben gehabt.

Effie May war voll verschlafenen Mitgefühls, aber sie wußte ja nichts. Es war seine Mutter, noch immer in der Küche des American House – wenn auch jetzt als Chef außer Diensten – zu der er sich flüchtete. Und ihr, die nur rasch genug verstanden hätte, konnte er nicht beichten, denn was sie am Leben erhielt, war der Glaube, ihr Sohn sei ein Sieger. Vor ihr prahlte er tatsächlich ein bißchen damit, wie sehr er Pye und Shanks in der Hand hätte, während sein Vater sich wichtig machte, sein kleines Bärtchen zupfte und piepste: »Du willst mit den Kerlen zusammen arbeiten – die haben den Bogen raus bei dem großartigen städtischen Geschäft, und du bist schließlich bloß ein Junge vom Land! Was du brauchst, ist, daß du mich öfter um Rat fragen kommst!«

Aber Ora war eine Wohltat. Ora blieb weg! Er kam einmal, besah sich die Situation, versuchte mit Jimmy Shanks intim zu werden, hatte kein Glück dabei und kam nicht wieder.

Myrons einziger Trost und einzige Überraschung war, daß er mit seinem eigenen Sohn bekannt wurde.

Obwohl er jahrelang beobachtet hatte, wie Hotelkinder den Kellnern alles aus der Hand reißen, stellte Myron sich unter den kleinen Geschöpfen noch immer gern etwas unwandelbar Süßes, warm wie Watte, vor. Als er jedoch genauer hinsah, mußte er sich gestehen, daß Luke mit seinen zehneinhalb Jahren hart und scharf war wie eine Stahlklinge. Er war selbständig, anspruchsvoll, logisch, verschlossen. Er war seiner selbst sicherer als seine Eltern, und wenn er weniger weich und verspielt war als sie beide und anscheinend weniger mitfühlend, so war er um so resoluter. Er wußte, was er wollte – es mußte offenbar so sein, obwohl Myron nie ganz dahinter kam, was es eigentlich war. Luke fühlte sich als Repräsentanten der großen, schimmernden Stadt Mount Vernon und vergnügte sich voll Herablassung für Black Thread Center damit, die sechste Klasse der Volksschule anzuführen. Er war ebenso höflich wie verschlossen; nur zwei Dinge erregten seinen Grimm – Effie Mays Zudringlichkeit in so persönlichen Angelegenheiten, wie es seine Fingernägel waren, und die anscheinend allen Hotelgästen angeborene Gewohnheit, plump freundlich zu sein und zu kreischen: »Na, mein Junge, wenn du groß bist, wirst du wohl auch ein Hotel leiten wollen.«

Er pflegte ganz einfach keine Antwort zu geben.

Da war also etwas Neues, das Myron beunruhigte; seit dem Krieg war es eben so, daß die Eltern im allgemeinen Angst vor den verborgenen Gedanken ihrer Kinder hatten, und auch Myron ging es nicht anders. Er warb um Luke, wie er niemals um Mark Elphinstone oder irgendwelche goldenen Gäste des Hotels Crillon geworben hatte. Nahezu schüchtern forderte er Luke auf, mit ihm auf die verschneiten Höhen oberhalb des Sees zu wandern. Er ging atemlos neben ihm einher und wünschte sich ein Zaubermittel herbei, das es ihm ermöglichen könnte, in den Geist dieses Bürgers einer neuen Welt einzudringen, die von dem Amerika der neunziger Jahre weiter entfernt war als etwa Italien oder Tibet. Er erriet, daß es zu dem Herzen seines Sohnes, einem Gebiet, das durch keinen Versailler Vertrag der Familie zu beherrschen war, einen einzigen Paß gab: Schweigen. Er hatte beobachtet, wie sehr Luke durch die Fragen seiner Mutter irritiert wurde, das heißt (denn er hatte, wie es bei Kindern oft ist, Gerechtigkeitssinn) wenn sie töricht waren: »Hast du die belegten Brote, die Mutter dir für mittags gegeben hat, ganz aufgegessen?« Oder: »Warum bekommst du keine besseren Noten im Lesen, wo du doch in Arithmetik so gut stehst?«

So sagte Myron meistens gar nichts; eine Ausnahme machte er nur, wenn er sich nach dem Namen irgendeines Strauchs oder eines überwinternden Vogels erkundigte, die Luke besser kannte als er, und wenn er überhaupt Talente als Vater hatte, so bewies er sie damit, daß er sich nicht über Lukes besseres Wissen ärgerte.

An einem Tag im Februar ward ihm sein Lohn. Sie hockten auf einem Felsen oben auf dem Gipfel der Ulmenhöhe und blickten hinunter auf die verschneiten Dächer des Hotels und seiner Nebengebäude und auf die funkelnde Fläche des Sees, auf der Gäste in roten und gelben Überjacken Schlittschuh liefen. Myron rauchte eine Pfeife, die er als gesunden Ausrüstungsgegenstand für eine Wanderung im Freien mitgenommen hatte und einfach abscheulich fand. Luke harpunierte mit einem Stecken eingebildete Walfische. Plötzlich sprach er:

»Pappa, ich denke, ich werd Seemann werden.«

»Mhm?«

»Wir haben von der Walfischjagd gelesen. Ich glaub, das muß sehr aufregend sein.«

»O ja, das denk ich auch.«

»Oder ich werd Soldat und laß mich nach Alaska und China und so Gegenden schicken!«

»Das würd ich schön finden.«

»Aber trotzdem – – Vielleicht würd es mir auch Spaß machen, ein Hotel zu führen, wie Großvater und du. Weil ich nämlich glaube, daß ich das besser machen könnte als alle anderen! Weil du es nämlich besser machst als alle anderen! Herrje, ich finde, Mr. Shanks ist ein miserabler Hotelier! Warum schmeißt du ihn nicht raus? Er ist – er streichelt mir den Kopf! Ich kann ihn nicht ausstehen!«

In diesem Augenblick riß die Geduld, mit der Myron darauf gewartet hatte, Gott der Herr solle etwas geschehen lassen.


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