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Er bewohnte mit den drei anderen Pagen des Fandango Inn zusammen einen kleinen Raum unter dem Dach, dessen Schrägen so tief hinuntergingen, daß der Raum nahezu ein Pentaeder war. Eine Ventilierung war nur durch zwei Fuß hohe Fenster möglich, die, noch unterhalb der Dachschrägen, ganz unten am Fußboden saßen. Das Zimmer hatte nichts Teppichähnliches auf dem Fußboden liegen, es war untapeziert und von Ungeziefer heimgesucht, die Lager waren harte, mit Segeltuch bespannte Feldbetten, und es gibt wirklich nichts, was nach sechs Stunden Schlaf (so viel Zeit verbrachte Myron ungefähr jede Nacht im Bett) härter sein kann als straff gespanntes Segeltuch. Es sah eigentlich einigermaßen aus wie in einer Gefängniszelle, nur war es wahrscheinlich weniger interessant. In dem unordentlichen »Einzelzimmer«, das er im American House mit Ora teilte, hatte Myron es bequemer gehabt; er hatte es sogar bequemer gehabt, wenn das Hotel überfüllt war, wenn Reisende auf Billardtischen, Speisesaaltischen und in der Halle aufgeschlagenen Lagern schliefen und er und Ora auf Decken in der zugigen Küche übernachten mußten.

Ein anderer Gegenstand des Kummers war seine Uniform; sie saß sehr stramm, hatte kneifend enge Hosen, und eine ganz ekelhaft große Anzahl kleiner Messingknöpfe daran, die immer blank geputzt sein mußten. In diesem Anzug kam er sich vor wie ein Leierkastenaffe; als er seinen Mitpagen gegenüber von diesem Gedanken sprach, versicherten sie ihm allerdings, er sähe nicht so aus – er sähe bloß aus wie ein Gorilla.

Und er war schlecht bezahlt und bekam noch schlechtere Trinkgelder.

Am schlimmsten aber für den naiven Myron, der frisch von der hausfraulichen Hotelführung seiner Mutter kam, war die Lumpigkeit, die Angeberei und die Schäbigkeit der Gäste im Fandango. Üble Kunden waren auch in das American House gekommen; Myron und Jock McCreedy hatten manchmal einen mörderisch Betrunkenen ins Bett geschleift und dann eingeschlossen; für gewöhnlich aber waren die Reisenden, Farmer, Witwen und Wander-Augenärzte, aus denen sich ihr Publikum zusammensetzte, froh, wenn sie um zehn Uhr müde zu Bett konnten.

Die Gäste des Fandango besaßen alle Laster Monte Carlos, nur statt in Samt in Wachstuch. Es waren die »Portokassenjünglinge«, die »Talmi-Kavaliere«, die »Pfennigverschwender«, die, zusammen mit rinnenden Kaffeekannen, Unmenschen, die neue Handtücher beim Abwischen der Rasierklingen zerschneiden, Aschenbecher-Dieben, Vagabunden, Scheckschwindlern, losen Teppichenden in dunklen Fluren und den anderen großen Tragödien des Gewerbes, Gegenstand ewiger Klage sind, wenn die Hoteliers einander insgeheim ihre Schmerzen anvertrauen. Die Gäste des Fandango verließen Torrington und Hartford, Waterbury und New Britain als bescheidene Angestellte oder Kleingewerbetreibende; sie kamen im Hotel an als feine Herren, als Millionäre, die, bei Gott, gewohnt waren, bedient zu werden, bei Gott, und auch, bei Gott, bedient werden wollten oder gewaltigen Lärm schlugen; und sie warfen das Geld nur so um sich – für alles, nur nicht für Wäsche und Trinkgelder.

Die Hausfrau, die sich zu Hause seit Jahren in aller Zufriedenheit zu einem Abendessen aus Bouletten, Maiskuchen, Kakao und Apfelmus hinsetzte, dehnte jetzt ihren stolzen, von Jetteperlen glitzernden Busen voll Erhabenheit, während sie eine Speisekarte betrachtete, auf der nur Hummermayonnaise, Bachforellen, Escalottes, gebratene Ente, Curaçao-Sorbet, gemischtes Eis und dreißig andere Dinge standen, und klagte: »Das ist alles, was zum Abendessen da ist?«

Wie sie aßen! Wie sie tranken! Wie, und zwar wie schlecht, sie von Mondabenden sangen, wie Hunde, die den Mond anheulen. Eine halbe Stunde vor der Essenszeit pflanzten sich sämtliche Gäste, obwohl das für die Männer bedeutete, daß sie für volle dreißig Minuten auf die Wonnen der Bar verzichten mußten, mit ihren Schaukelstühlen so nahe es nur ging vor dem Eingang zum Speisesaal auf, und in der Sekunde, in der die Doppeltüren von dem stattlichen schwarzen Chefkellner geöffnet wurden, machten sie eine Kavallerieattacke, während der Ober, sichtlich erblassend, zur Seite sprang, um sich in Sicherheit zu bringen.

Dicke Männer aßen und bestellten nochmals und aßen drei Portionen Steak, zwei Portionen Lachs, drei verschiedene Pasteten. Dicke Männer aßen und tranken und schnauften und preßten den ganzen lieben Tag lang zwischen den Mahlzeiten voll Anmut ihre zarten und überfüllten Mägen gegen das Geländer der Bar, während sie die interessanten Wirkungen einer Mischung aus Rumpunsch mit Gin und Maraschino ausprobierten. Hagere Männer bugsierten Damen auf die große Veranda, räkelten sich auf Schaukelstühlen neben ihnen, räusperten sich und begannen: »Hm. Schöner Tag. Schon lange hier, Gnädigste?«

Fast jede Nacht mußten Myron, die anderen Pagen und die Portiers irgendeinen hageren Mann aus dem Zimmer einer mehr oder minder empörten Dame entfernen, während der hagere Mann mit etwas schwerer Zunge erklärte, er hätte sich geirrt und es für sein eigenes Zimmer gehalten, und mit dem Fandango wäre gar nichts mehr los und am nächsten Morgen würde er abreisen. Und hagere Männer und dicke Männer und unbeschreibliche mittelstarke Männer spielten die ganze Nacht hindurch Poker, lärmend und streitsüchtig, nicht mit der angenehmen, eleganten Ruhe J. Hector Warlocks.

Der Fandango Inn hatte – für das Jahr 1898 – außerordentliche Sportgelegenheiten. Es gab vier Croquetplätze und einen Tennisplatz. Es waren Reitpferde da, und in der Nähe, durch ein kleines Gehölz zu erreichen, lag ein kleiner See, in dem man schwimmen konnte, wenn man so etwas gern tat. Man erzählte sich auch, daß man in dem nur wenige Meilen entfernten North Buttermilk dieses neumodische Spiel, Golf, spielen könnte. Aber keiner der Fandangogäste im Alter von mehr als achtzehn Jahren verschwendete seine Zeit an Sport. Sie aßen. Sie tranken. Sie schaukelten sich in den Stühlen. Sie dösten und wachten auf, um wieder zu essen. Sie erfüllten die schöne Nacht mit dem lauten Schmatzen langer, triefender Küsse, und verzehrten, bevor sie zu Bett gingen, noch leichte Imbisse aus Schinken, Zunge, Cornedbeef und Fischsalat in der Bar.

Der Direktor des Fandango, ein glattzüngiger Mensch mit fettigem schwarzem Haar, der einen beim Sprechen niemals ansah, rieb sich die Hände und trug eine zufriedene Miene zur Schau; wenn in irgendeinem Zimmer nach Mitternacht der Teufel los war wegen eines Kartenspiels oder irgendeiner galanten Affäre, ging dieser Direktor der Sache aus dem Weg und sagte leise zu den Pagen: »Kümmert euch um eure eigenen Angelegenheiten. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß!«

Und einmal war er gerade hinter dem Pult, als ein Herr und eine Dame mit einer Flasche Bourbon-Whisky in einer Papiertüte als einzigem Gepäck kamen; sie trugen sich ein als: »Präsident McKinley und Großmutter«, und er murmelte etwas und gab ihnen ein Zimmer. Er überließ es den Pagen und Portiers, angeheiterte Gäste zur Ruhe zu bringen, wenn andere Zimmer sich allzu heftig beschwerten; gelang es nicht, Ordnung zu schaffen, so drohte er damit, die Pagen hinauszuwerfen; gelang es ihnen aber und die Unruhestifter ihrerseits beklagten sich dann, so strafte er die Jungen, indem er ihnen einen Tageslohn abzog, strahlte, ging in die Bar und leistete sich von dem so ersparten Geld ein gutes Schlückchen.

Aber in diesem Sommer lernte Myron, wenigstens seiner eigenen Meinung nach, mit allen schwierigen Gästen außer Tollwütigen, die sich mit einem Beil bewaffnet haben, fertig zu werden.

 

Die Pagen hatten eine Möglichkeit, sich für ihre schlechte Bezahlung und Überanstrengung zu rächen. Wenn ein Korn, wie es bei Kartenpartien häufig vorkam, im Zimmer serviert wurde, kostete er zwanzig Cent; eine Flasche Korn zu einem Dollar gab zehn bis zwölf – und sehr spät in der Nacht fünfzehn – Gläser. Der älteste Page kam auf den interessanten Gedanken, unter der Vorgabe, es sei für einen Gast, in der Bar eine ganze Flasche zu kaufen und zu bezahlen, sie dann in einem leeren Zimmer zu verstecken und die einzeln auf die Zimmer bestellten Gläser aus ihr zu füllen, was einen Profit von ein bis zwei Dollar ergab. Großmütig schenkte er die Idee seinen Kollegen; zwei von ihnen nahmen sie begeistert auf, aber Myron wollte nicht mitmachen.

»Das heißt stehlen«, erklärte er.

»Na freilich. Bestehlen die uns denn nicht auch? Wie sie uns bezahlen – beim Einstellen haben sie uns erzählt, was für fabelhafte Trinkgelder wir kriegen, und dann gibt's von diesen knickerigen Lumpen zehn Cent im Tag! Und das Zimmer und die Verpflegung, die wir haben! Alles, was wir in dieser Bude in die Finger kriegen können, gehört uns«, erläuterte der älteste Page, der fünfzig Cent wöchentlich Sonderbezahlung bekam und außerdem gratis und franko den Titel Kapitän führte.

»Ich weiß – ich weiß – aber das geht nicht. Wenn's uns hier nicht gefällt, können wir weggehen.«

»Um Gottes willen, Weagle, gefällt's dir hier?«

»Na, man kann eine ganze Menge lernen.«

»Was ich mir dafür schon kaufe! Mein Lernen hab ich hinter mir. Mein Junge, ich hab acht Grundschulklassen und fast n ganzes Jahr an der Höheren Schule gemacht! Gelernt hab ich genug! Du willst also nicht mitmachen mit uns! Willst uns Religion predigen, ja? Unser kleiner Sekretär von den Christlichen Jungen Männern! Unser kleiner Sonntagsschullehrer.«

Myron überlegte sich, daß der älteste Page mit »Religion« wohl so etwas wie »Moral« meinte. Wenn man achtzehn Jahre alt ist, trifft einen natürlich kein Vorwurf so schwer wie der, man sei moralisch und überhaupt pharisäerhaft. So etwas wollte Myron nicht sein. Er wollte durchaus nicht moralisch sein. Er sagte dem ältesten Pagen sehr böse Dinge über die Moral. Er versicherte, er wäre ein ausgemachter Höllenbraten, wahrscheinlich so ziemlich der übelste und verkommenste Bursche, dem der älteste Page in seinem ganzen Leben begegnet wäre. Er gab zu verstehen, daß er söffe wie ein Rollwagengaul und daß vor ihm die Tugend keiner Frau sicher wäre. Aber in seinem Betrieb stehlen könnte er nicht.

Sogar sich selbst konnte er es nicht erklären. Das Wort »Loyalität« existierte in seinem Wortschatz noch nicht – und das war vielleicht ganz gut, denn in den nächsten Jahrzehnten tauchte das Wort »Loyalität« allzu oft im Munde von Kaufleuten auf, die Ansprachen in Frühstücksklubs hielten. Es war bloß – –

»Ach, verflucht und zugenäht!« fluchte er, während er versuchte, sich die Sache klar zu machen. »Ich würde eine schöne Wut kriegen, wenn ich Jock McCreedy dabei erwischen würde, daß er uns im American House auch nur um zehn Cent beschwindelt. Auch wenn er meint, daß wir ihn schlecht behandeln – und das hat Pa sicher oft genug getan! Wahrscheinlich ist es idiotisch von mir, daß ich es nicht so mach wie alle andern. Aber verflixt noch einmal, ich will sämtliche Besen mitsamt den Stielen fressen, wenn ich mir mit dreckigen kleinen Diebereien weiterhelfe, und dabei bleibt's auch, wenn ich nie was Ordentliches werde … Aber ich werd's werden!«

 

Als Myron im September nach Torrington zurückkam, ging er wieder in das Hotel Zum Adler und bat den Direktor um eine Stellung.

Mr. Coram fragte: »Sind Sie nicht der junge Kerl, der zu Sommeranfang da war?«

»Jawohl.«

»Haben Sie die Absicht, immer wieder herzukommen und mir unangenehm aufzufallen, bis ich Ihnen eine Stellung gebe?«

»Jawohl.«

»Was können Sie im Hotel machen?«

»Alles.«

»Nein. Nein. Es gibt nur einen Mann in jedem Hotel, der alles kann, Halle und Innenbetrieb, und das ist der Direktor. Theoretisch wenigstens. Und die Direktorstelle scheint hier leider besetzt zu sein, mein Sohn. Ich fürchte also, für Sie ist nichts da. Übrigens, warum wollen Sie denn nicht, solange Sie jung sind, mit einem leichteren Beruf anfangen, warum wollen Sie durchaus ins Hotelgewerbe, wo man es mit den gemeinsten Verrückten zu tun hat, und zwar gerade dann, wenn sie von zu Hause weg und am allergemeinsten sind? Sie scheinen ein ganz heller junger Mensch zu sein. Fangen Sie doch was verhältnismäßig Leichtes an – zum Beispiel Tiefseetaucher oder Arktisforscher. Tut mir leid, nichts für Sie zu haben. Guten Morgen

»Jawohl.«

 

Zweieinhalb Wochen lang lebte Myron üppig von den achtzehn Dollar fünfundsechzig, die er sich im Sommer zusammengespart hatte, und leistete es sich, köstlich lange auszuschlafen; dann fand er Arbeit als zweiter Nachtkoch am Bijou-Imbißwagen »Immer auf« in Torrington.

Da er achtzehn Jahre alt war, fand er die Nachtarbeit am Imbißwagen aufregend. Er kam sich sehr erwachsen vor, weil er in der verbotenen Zeit aufbleiben durfte. Die dunklen Seitenstraßen, die Straßenlaternen, die eingemummten, vorübereilenden Gestalten Fremder bei Nacht hatten etwas Geheimnisvolles, und die Morgendämmerung war am frischesten und erquickendsten, wenn sie nicht nach einer verschlafenen Nacht, sondern nach maßlos anstrengender Arbeit in den Bratdünsten über einem niedrigen Gasherd kam. Seine Kundschaft hatte Zeit und Muße, wie man sie am geschäftigen Tag gar nicht kannte, und es waren alte Leute, Nachtgespenster – die beiden Stadtpolizisten, der Omnibuskutscher des Hotels Zum Adler, der früher Seemann gewesen war, vereinzelte Vagabunden, die gerade ein kostbares Zehncentstück besaßen, und Menschen, die heimlich unterwegs waren.

Hier lernte er nichts, als munter und gefällig zu sein, auch wenn seine Augen von Rauch und Schlaflosigkeit schmerzten und fast zugeklebt waren, und mit blitzartiger Geschwindigkeit kleine Gerichte zu kochen – ein Ei aufzuschlagen und es scheinbar schon zehn Sekunden nach der Bestellung gebraten zu servieren.

Es wurde viel erzählt an diesem Imbißwagen. Eines Nachts im Januar erzählte der Omnibuskutscher vom Adler, daß der Fleischkoch im Hotel »fortmachte«, weil er in Hartford einen besseren Posten bekam.

Am darauffolgenden Morgen stand Myron nach eineinhalbstündigem Schlaf im Büro Mr. Corams.

»Du lieber Himmel, ich werde Ihnen wohl die Stellung geben müssen, um Ruhe vor Ihnen zu haben. Aber können Sie das denn überhaupt?«

»Jawohl. Ich bin seit September Koch am Bijou-Imbißwagen.«

»Dort wird nicht geschmort und gekocht. Imbißwagen! Ha! Rasche Sachen! Ham and Eggs! Hamburger Steak! Kartoffeln nebenbei mitgebraten, aber fix! Imbißwagen! Das hier ist ein Hotel, junger Mann.« Mr. Coram sprach voll Stolz. Er war zweiundvierzig und arbeitete seit einunddreißig Jahren in Hotels.

»Ich hab schon eine Menge geschmort und gekocht und so weiter. American House in Black Thread. Meine Mutter ist dort Köchin. Ich hab ihr bei allem geholfen.«

»Na schön, ich werd's wohl mit Ihnen probieren müssen, damit Sie wieder friedlich werden und so vernünftig sind, nach Hause zurück zu gehen! Sie fangen mit dreißig monatlich an, Verpflegung und Wäsche frei. Zimmer werden Sie sich selber bezahlen müssen. Wann können Sie kommen?«

»Morgen in einer Woche – ich hab wöchentliche Kündigung am Imbißwagen.«

»Gut. Seien Sie um sechs Uhr fünfundvierzig früh hier. Übrigens: weiße Jacken, Schürzen, Mütze und leichte Overalls haben Sie natürlich selber? Und Hackmesser?«

»Selbstverständlich.«

Das war die einzige Lüge unseres jungen Moralisten, und als er sich zur Arbeit meldete, war es keine Lüge mehr. Er hatte den letzten Pfennig seiner Ersparnisse und darüber hinaus noch fünf Dollar, die er sich von seiner Mutter geborgt hatte, für sein Handwerkszeug ausgegeben.

Den ganzen ersten Vormittag hindurch war er in Angst. Man würde ihm dahinter kommen – er war doch bloß ein Lausejunge, der keine Ahnung vom Kochen hatte. Als er den Küchenchef (»Chef« wurde er aber außer von sich selbst höchst selten genannt) einen Stockfisch aus New Hampshire namens Clint Hosea, kennenlernte, war er ganz zitternde Höflichkeit und Ergebenheit.

Um die Mittagszeit merkte er, daß das Essen im Hotel Zum Adler, obgleich die Küche doppelt so groß war wie die des American House und drei- bis viermal so viel Menschen mit Essen versorgte, ebenso trübselig und langweilig war und daß Clint Hosea ganz wie Mutter Weagle niemals etwas so Umstürzlerisches tat wie ein Kochbuch durchzuarbeiten. Beide hatten sie seit zehn Jahren kein neues Gericht versucht. Am Abend war Myron voll Zuversicht und freute sich darüber, daß das Küchenmädchen, das das Gemüse putzte und die Fußböden säuberte, die stolze Geschirrwäscherin und die Kellnerinnen, wenn er ihnen auch nicht ausdrücklich vorgesetzt war, alle weniger Lohn bekamen als er.

Zwei Jahre lang arbeitete Myron für das Hotel Zum Adler, einige Male gab ihm Mr. Coram eine Zweicent-Zigarre und einmal sogar eine geringfügige Gehaltserhöhung.

Das Tranchieren gekochten Fleisches hatte er von seinem Vater gelernt. Schwierig war es für ihn, das rohe Material zu zerlegen, denn er fungierte als Schlächter sowohl wie als Fleischkoch. Aber er war originell genug, die in jedem Kochbuch zu findenden Diagramme für das Zerlegen unglückseliger Tiere zu studieren, und arbeitete abends freiwillig in einem Schlächterladen, mit dessen Besitzer er sich am Imbißwagen befreundet hatte.

 

Hotel zum Adler

Torrington, Conn.

 

Mittagskarte


Suppen

Muschelsuppe – Tomatensuppe mit Einlage

 

Fisch

Gebratener Hecht mit Mixed Pickles

 

Gesottenes

Hammelfleisch – Corned Beef mit Kohl

 

Gebratenes

Rostbraten – Geflügel

 

Entrées

Gedämpfter Rinderbraten – Schweinekotelett

Beefsteak mit Sauce Tatare

Bananenbeignets mit Weinsauce

Gebackener Maisbrei mit Ahornsyrup

 

Gemüse

Erbsen in Milch

Gebackene Bohnen mit Braunbrot

Junger Mais mit Bohnen

Salzkartoffeln – Kartoffelpürée

Kartoffeln in der Pfanne

 

Desserts

Fleischpastete – Apfelpastete – Reispudding

Apfelmus – Gedämpfte Aprikosen

Büchsenpfirsiche


Weißbrot – Grahambrot – Maisbrötchen

Mürbes Gebäck

 

Tee – Kaffee – Milch


Die Mahlzeiten werden serviert:

Frühstück 6.30-9           Mittag 12.30-2.30

Abendessen 5.30 – 7.30

Nicht auf dieser Karte verzeichnete Gerichte
werden extra berechnet

12. März 1899


 

Weder die Weagles noch Clint Hosea, noch die drei Pagen, mit denen Myron im Fandango Inn gearbeitet hatte, wußten, daß es so etwas wie Hotelzeitschriften überhaupt gab. Mr. Coram war auf die wöchentlich erscheinende Hotel Era abonniert, las aber meistens nur den Klatsch – Jack Barley, »der wohlbekannte und allseitig beliebte Empfangschef des Memphis-Corona, hat eine ebensolche Stellung im Tartley, diesem allseitig beliebten Etablissement in Chicago, angenommen. Seine zahlreichen Freunde und Gönner im ganzen Süden wünschen ihm allen erdenklichen Erfolg in seiner neuen Stellung und prophezeien ihm darüber hinaus immer größere Erfolge in der Branche«, oder: »M. Wilson Stewkey, Herbergsvater der Villa Daheim im schönen und aufblühenden Jax in Florida will sich mit seiner besseren Hälfte auf eine größere, dreiwöchige Reise nach Westindien begeben. Gute Reise und gute Preise, Bill.« (Das war fast eine ganze Generation, bevor die Branchenzeitschriften des Hotelgewerbes weniger gemütlich wurden und außer Personalnachrichten Artikel brachten wie etwa eine Abhandlung über »Normen für die Kilowattproduktion eigener Hotelkraftwerke«, die ohne weiteres von jedem Hoteldirektor verstanden werden konnten, der in graphischen Darstellungen, Differentialrechnung, Thermodynamik und Elektrotechnik bewandert war.)

Myron sah die Era in Mr. Corams Büro und geriet in Verzückung. Das war eine ausgezeichnete Idee! Eine Zeitschrift mit Veröffentlichungen von allem, was mit dem Hotelgewerbe zu tun hatte, durch deren Vermittlung er sich mit Direktoren und Küchenchefs und Ökonomen im ganzen Land bekannt machen, aus der er etwas über neue Rezepte und Kochherde und Bettenleinwand lernen konnte, über Silberpoliermaschinen und Flaschenöffner und Fußbodenlinoleum. Er abonnierte sich auf die Hotel Era, und zwar von dem Geld, das er für neue Schuhe gespart hatte – ein kühnes und etwas riskantes Abenteuer, denn Küchenarbeit strengt die Füße noch mehr an als das Bedienen in einem Laden, der Dienst als Infanterieoberst oder irgendeine andere derartige proletarische Beschäftigung.

In der Era fand er ein Buch angezeigt: Handbuch und Lexikon für Ökonomen, herausgegeben von Jessup Whitehead, und bestellte es etwas zaghaft. Das Buch war zum erstenmal 1887 erschienen; im Jahre 1899, als Myron es entdeckte, galt es noch als Autorität, und auch noch in das zwanzigste Jahrhundert, das dann so sehr an »wissenschaftlichen Küchenzetteln« litt, rettete das Handbuch etwas von den Herrlichkeiten einer Zeit herüber, in der die guten Bürger, noch nicht allzu sehr geplagt von zeitsparenden Maschinen, in der Zeit nicht etwas sahen, das mit fanatischem Eifer gespart werden muß, sondern etwas, das dem Essen, Liedersingen und Lachen zu widmen ist. Mit ihm verglichen, wirken unsere zeitgenössischen Handbücher aus dem Jahre 1930 mit ihren Vorschriften zur Bereitung von konserviertem Muschelextrakt und Sahnenkäse-Sandwiches mit Nüssen blaß und appetitverderbend.

So entdeckte Myron sein Buch der Bücher.

Der Withehead war für ihn, was für einen jungen Dichter, der, irgendwo am Ende der Welt aufgewachsen, noch nie andere Verse als die Longfellows und Bryants gesehen hat, eine Anthologie wäre aus Shelley, Milton, Chaucer, Byron, Swinburne und der Lyrik Lewis Carrols. Als Myron das Buch öffnete, war ihm zumute wie einem Sterngucker, wenn ein neuer Planet in sein Gesichtsfeld schwimmt, wie einem Forscher mit seinem ersten Mikroskop oder einem jungen Kapitalisten mit seinem ersten Dollar. Whitehead offenbarte ihm all die Feinheiten des Essens, die Vollkommenheiten des Servierens, die Vornehmheiten des Tischschmuckes, von denen er, ohne sie jemals gesehen zu haben, in unklarer Weise gewußt hatte, daß sie existieren müßten.

Nicht für sich selbst ersehnte Myron Weagle diese schmackhaften Gerichte, diese auf das erlesenste mit Glas und Silber dekorierten Tische. So sehr er auch aus wissenschaftlichem Forschungsdrang stets begierig darauf war, neue Gerichte zu kosten, war ihm für seine Person sein ganzes Leben lang das liebste ein Stück Toast mit kaltem Huhn und ein Glas Milch, verzehrt in einer Ecke auf einem Küchentisch, inmitten eifrigen Kochbetriebes. Aber er hatte den Trieb, andere Menschen mit alledem zu versehen. Warum er diesen Trieb hatte, warum es ihn durchaus danach verlangte, allzu üppige Menschen mit allzu üppigem Essen zu versehen, das ist ebenso rätselhaft wie der Drang anderer, sich des Mediums der Worte bedienender Dichter, unbekannte Leser mit üppigen und flammenden Sonetten zu versehen.

 

Viele Monate lang las Myron Abend für Abend in seinem kleinen möblierten Zimmerchen und in jeder köstlichen freien halben Stunde, die ihm die Arbeit an dampfenden Kesseln und Bratpfannen ließ, seinen Withehead. Er sah und begriff nicht nur die Welt der Waldorfs und Tremonts und St. Charles', sondern ebensowohl die der Hotels in London, Paris und Berlin. Er wurde von ihr genau so fasziniert wie jeder vor kurzem reich gewordene Gast, der in einem großen, internationalen, königlichen Hotel absteigt, aber mit dem Unterschied, daß Myron im Gegensatz zum Parvenü wußte, daß die fabelhaften Gerichte nicht ausschließlich in getäfelten Büros von liebenswürdigen Super-Gents in Gehröcken mit Gardenien ersonnen waren, sondern von Köchen in Overalls, einem aufgeregten Ökonomen in Hemdsärmeln und einer keuchenden Schar von Hilfskräften in jenen versteckten, bescheidenen, schmierigen, über alles wichtigen Räumen und Löchern im Hinterhaus.

Das Handbuch brachte die Speisenfolge eines italienischen Diners, das für Signor Salvini gegeben worden war. Myron berauschte sich an den prächtig dahinrollenden Worten: »Animelle di Vitello alla Minuta con Tartuffi«, »Ravioli al Brodo« und »Zabbaglione«. Er hatte keine Ahnung davon, was das alles eigentlich hieß, aber es waren doch wundervolle Worte.

Später, als er aus dem Speisenlexikon des Handbuches lernte, daß das alles nichts anderes war als einfach Kalbfleisch und Teig und gesprudelte Eier mit Wein, war er doch nicht enttäuscht. Sehr hübsche Sachen, überlegte er, waren mit Eiern und Teig und Kalbfleisch zu machen; großartige, vornehme Gerichte, die den Magen des Menschen erfreuen und Hotels berühmt machen konnten.

Noch andere literarische Neuigkeiten gab es im Handbuch des Ökonomen. Die Speisenfolge eines Diners, das von einer Vereinigung von Handlungsreisenden in New York gegeben worden war, war »in der Art einer Eisenbahnfahrkarte geschrieben, mit Kupons, die von unten nach oben gelesen werden mußten«, und brachte bei jedem Gang Zitate von den feinsten Dichtern. Bei dem mit Schildkrötenfleisch garnierten Huhn war etwas ganz Geheimnisvolles zitiert: »Dieser Kiebitz läuft mit der Schale auf dem Kopf davon«, und bei dem Likör: »Geister, die meine Kunst zitiert aus ihren Höhlen, den Launen meiner Phantasie zu dienen.«

Bei einem Nelkendiner in Washington gab es Lampen mit rosa Schirmen, mit rosa Bändchen zusammengebundene Käsestangen und »Menüs, gedruckt auf breiten rosa Atlasbändern, die an beiden Enden ausgefranst waren und oben den Namen des Gastes trugen, für den sie bestimmt waren«.

Dieser neunzehnjährige, dreißig Dollar im Monat beziehende Fleischkoch, begeisterte sich an der Lektüre über »ein von einem reichen Mann gegebenes Tropendiner, das, ohne Getränke und Musik, 175 Dollar pro Kuvert kostete. Die Tische waren um einen Miniatursee aufgebaut, in dem Palmen, Lilien und Farrenkräuter zu wachsen schienen, während an den Ufern inmitten winziger Blumenbeete tropische Bäume standen. Kleine elektrische Lampen mit bunten Glaskugeln waren rings um den See arrangiert, und mit einer sinnreichen Einrichtung war unter das Wasser des Sees elektrisches Licht eingeführt, das Effekte hervorrief, die ein Umhertänzeln farbenprächtiger Fische vortäuschten. Vor jedem Gast lag auf dem Tisch ein schöner Palmblattfächer, und darauf ruhten die Teller.«

»Herrgott, es war doch schön, auch mal so ein Bankett arrangieren zu können, ohne sich über die Butter, die man dabei verbrauchen darf, den Kopf zerbrechen zu müssen«, dachte Myron.

Wenn ihn bei der Vorführung dieses famosen Beispiels anspruchsvoller Verschwendung etwas ärgerte oder neidisch machte, wußte er nichts davon.

Noch bezaubernder für die Torheit des jungen Dichters waren die dekorierten Gerichte, die es bei dem berühmt gewordenen Empfang der ersten Mrs. Vanderbilt gegeben hatte: »… eine Jagdpastete aus Fasanen, auf einer ebenen Fläche von Wachs ruhend, das ganze Stück getragen von Hirschgeweihen. Darunter spielten zwei Kaninchen Karten, während sich zu Seiten der Spieler eine Brücke befand, unter der ein See schimmerte, in dessen Gewässer Goldfische umherschwammen. Eine der Meisterleistungen unter diesen Kunstwerken war ein in einem Kahn aus Wachs ruhender zwei Fuß langer Lachs, auf dessen Rücken ein Amor ruhte; das Boot war an jedem Ende von je einem Neptun getragen, der in einer Seemuschel saß und Seepferdchen vor sich einhertrieb. Ein besonders schönes Stück war ein fliegender Merkur auf einem Schinken, der in kunstvoller Weise mit einer köstlichen Trüffelgarnitur verziert war«.

»Allmächtiger Gott!« seufzte Myron.

Und Menüs, bei denen es Ortolane gab! Er war sich nicht ganz im klaren darüber, was für ein Vogel ein Ortolan sei, aber es klang jedenfalls romantisch und nach fernen Ländern. Als er im Lexikon des Handbuches ein Zitat von irgendeinem europäischen Küchenchef las, das besagte: »Ortolane dürfen nicht wie andere Vögel gewaltsam getötet werden, denn das könnte ihrem zarten Fleisch schaden – die üblichste Methode, das zu vermeiden, besteht darin, den Ortolan mit dem Kopf in ein Glas Kognak zu stecken«, wurde ihm ein wenig übel.

Während er in seinem kleinen Zimmer auf einem harten, geraden Stuhl saß, den er etwas zurückgekippt und an das Bett gelehnt hatte, fiel ihm auf einmal ein, daß alle Tiere und Vögel, die er kochte, blutig, grausam und schmutzig geschlachtet werden mußten; daß das Kalbfleisch, das irgendein rotbäckiger, schnaufender Gast schmatzend verspeiste, von einem Kälbchen mit sanften Augen stammte, das vergnügt hüpfend zum Schlächter gekommen war, um sich den Schädel augenblicklich mit einem schweren Hammer zerschlagen zu lassen.

Aber er vergaß es auch wieder, wie der Medizinstudent den Seziersaal mit seinen kalten zerschnitzelten Leichen vergißt, wie alle jungen und ehrgeizigen Männer – denn sonst könnten sie das Leben nicht ertragen – die ewige Entsetzlichkeit und Grausamkeit der Welt vergessen.

 

Myron las viele Wochen in seinem Handbuch, bevor er es wagte, Kritik daran zu üben … der junge Dichter las lange in seinem Milton, ehe er darauf verfiel, darüber nachzudenken, ob es im Verlorenen Paradies nicht ein paar gewaltig langweilige Stellen gäbe. In seinem Buch der Bücher fand Myron die Speisenfolge eines Jagdessens, das Mr. John B. Drake, einst der Doyen der Chicagoer Hoteliers, den Würdenträgern der Stadt gegeben hatte.

Einhundertvierzehn Gerichte wurden da aufgezählt, darunter (denn das Essen war in den achtziger Jahren gegeben worden, als all diese tollen Dinge noch als Neuigkeiten existierten) schwarzer Bärenschinken, Bergschafkeule, Büffelzunge, Antilopenrücken, Opossum, Murmeltier, wilder Truthahn, Halsband-Regenpfeifer, Schnepfe, kanadischer Kranich, Schnatter-, Kanevas-, Rotschnabel- und Pfeifente, Rothalstaucher, Strandläufer, Beutelstar und noch viele ähnlich phantastische Tiere. Noch als er dies zum dritten- oder viertenmal las, hielt ihn scheue Ehrfurcht im Bann. Der Dichter durfte durch die Glasscheibe auf einen Band Sonette blicken, gedruckt mit goldenen Lettern auf blau gefärbtem Pergament, gebunden in purpurrote Seide – und plötzlich meldete sich sein Menschenverstand, und er wollte das Ganze in Saffian gebunden und mit ehrlichen schwarzen Buchstaben auf anständigem Weiß gedruckt sehen!

»Dieser verdammte Speisezettel ist ein ganz verfluchtes Stück zu lang!« protestierte er voll aufrührerischer Gefühle. »Zu viel ist genau so schlecht wie zu wenig. Nehmen wir mal einen Menschen, sagen wir, er hat schon zehn Gerichte von dem Ganzen; er sieht noch immer alles andere, was er nicht gekriegt hat, und das ärgert ihn, und er hat eben das Gefühl, daß er nicht alles gehabt hat. Wenn ich ein Hotel hab, werd ich dafür sorgen, daß die Speisekarte klein ist, aber dafür alles besonders gut!«

Er strich mit einem Bleistift zweiundfünfzig von den aufgezählten hundertvierzehn Gängen.

»Und noch immer zu viel«, seufzte er. »Aber auf jeden Fall hab ich für Mr. Drake ein bißchen Geld gespart und seiner Gesellschaft nicht weh getan! Hoffentlich fällt ihm das auch ein, wenn er an mein Gehalt denkt! … Wenn ich bloß wüßte, was eine Pfeifente ist. Ob ich sowas jemals zu kosten kriege? Na, bevor ich mit allem fertig bin, werd ich wohl noch ne ganze Menge komische neue Sachen in komischen neuen Lokalen kosten müssen!«

 

Als Anhang hatte Whiteheads Handbuch einen Abschnitt mit dem Titel: »Wie man Servietten faltet. Mit vielen hübschen Mustern und Zeichnungen, an denen sich lernen läßt, wie man es macht.« In jener Zeit waren die großen Restaurants und Hotelspeisesäle auf nichts so stolz wie auf ihre unter Qualen zu kunstvollen Figuren zusammengelegten Servietten, die auf den langen Tischen steif und weiß und groß in Reihen standen, und in diesem Anhang wurden die Geheimnisse der größten Magier des Serviettenfaltens geoffenbart. Da war die »Kastanientasche«, vier Taschen, in die Kastanien gelegt wurden; die »Mitra« mit der Spitze und den Hörnern; das »doppelte Füllhorn«, dessen Falten mit Blumen gefüllt wurden; die »Brautserviette«, die aussah wie das Modell eines vierstöckigen, zehneckigen Gebäudes, und so erhabene Kunstwerke in gestärktem Leinen wie »Wappenrose und Stern«, »Fleur de lys«, und »Colonne de triomphe«.

Nach den einfachen Spitzhüten, die das American House und das Hotel Zum Adler zierten, schienen dies Meisterwerke eines Servietten-Michelangelo zu sein. Myron bewunderte diese Skizzen kristallklarer Schönheit mit offenem Mund. Und das war auch etwas, das er sofort mit seinen Händen machen konnte.

Mit den Mitteln, die die Hotelküche zur Verfügung hatte, war es schwierig, sich an das Bereiten eines Filet Mignapour aux Truffes et aux Champignons zu machen, aber Servietten waren Servietten, und, ein halbes Dutzend der besten Sonntagsservietten aus der Wäschekammer verderbend, mühte Myron sich ab, eine »Hamburger Trommel« zurechtzubauen. Wenn man weiß, wie es gemacht wird, ist es ganz einfach. »Falte die Serviette in der Mitte der Länge nach zusammen. Klappe die Ecken herunter, lege sie zur Hälfte nach innen über den Mittelpunkt hinweg in der Richtung von A nach B, und achte dabei darauf, daß die Ecken nach innen gerichtet bleiben. Falte sie noch einmal in der Richtung von C nach D, lege den Punkt E um, und drehe dann die Ecken F und G um, bis du ein Dreieck hast.«

Ganz einfach und selbstverständlich. Doch Myron schwitzte viele Viertelstunden lang darüber, bis um seinen Stuhl Haufen zerknüllter Servietten lagen und der Chefkellner hereinkam, sich erstaunt umsah und zu schimpfen begann: »Verfluchte Zucht, was machen Sie denn da mit meinen sauberen Servietten, Sie verdammter Küchenaffe?«

Nachher versuchte Myron es zu Hause mit steifem Papier als Ersatz für Leinen … ein großer, kräftiger, junger Mann mit hanffarbenem Haar sitzt in einem muffigen, möblierten Zimmer auf seinem an das Bett herangezogenen Stuhl und faltet, mit der Zungenspitze im Mundwinkel, stundenlang eifrig und feierlich Papier zusammen. Nach zwei Wochen brachte er die schwierigsten Kunststücke zuwege, die »Victoria Regia«, die »Merkursmütze«, den »Schwan« und das »Lorgnon«, und fühlte sich in der Lage, jeder Speisesaalkrise ins Auge zu blicken.

Denn sagte nicht Whitehead selbst: »Das Falten von Hotelservietten – eine Kunst, die mehr wert ist als fremde Sprachen. Wenn ein Kellner als Fremder in einen fremden Ort kommt, kann er nichts tun, was ihn so schnell einführt und bekannt macht, wie ein Dutzend Bogen steifen, weißen Papiers zu nehmen, an ihnen die in diesem Buch gezeigten besseren Muster auszuführen und sie zur Schau zu stellen. Sie erregen augenblicklich Aufmerksamkeit und erweisen sich für einen jungen Mann, der eine Stellung sucht, besser als ein Einführungsbrief, und glücklicherweise ist diese nützliche Kunst weitaus leichter zu lernen als eine fremde Sprache.«

Myron sah schon, wie er die Kunst des Gastwirtgewerbes überall in der ganzen Welt lernte und dadurch, daß er seine Skulpturen aus Leinen oder steifem, weißem Papier zur Schau stellte, in die Lage kam, unverzüglich höchst angenehme Stellungen in Ägypten, China, Finnland oder Wales zu ergattern. Ja, er würde es tun. Und nach und nach …

Angenommen, so überlegte er, er wäre Kellner im Claridge in London und der Chefkellner stürzte kurz vor einem Bankett für die königliche Familie in den Anrichteraum, schlüge sich mit der Hand vor die Stirn und stöhnte: »Wer unter euch, meine Kellner, kann eine Kaiserkrone falten?«

Die andern Kellner würden zusammenzucken und steif und stumm dastehen, während Myron Weagle aus dem fernen Amerika vortritt und in aller Bescheidenheit sagt: »Ich kann es.« Und am nächsten Tag würde er zum Chefkellner gemacht werden oder auf dem besten Wege zum Ökonomen sein.

 

Myron kam in vornehme Gesellschaft. Er las im Handbuch, daß der Earl Cadogan (Hm! Das war ein besserer Name für einen Lord als alle, die ihm in den wenigen Romanen, die er gelesen hatte, untergekommen waren) im Chelsea House ein Diner für achtundvierzig Personen gegeben hatte; unter den Gästen waren die Könige von Dänemark, Griechenland und Belgien, die Kronprinzen von Schweden, Österreich und Portugal, der Prinz und die Prinzessin von Wales.

In seinen Wachträumen sah Myron diese Festtafel vor sich. Wie mochten Könige im Privatleben sein? Trugen sie einen Frack oder Uniformen, die von Goldschnüren und Orden strotzten? Der König von Griechenland zum Beispiel; Myron war sicher, daß er einen halbmondförmigen, schwarzen Schnurrbart hatte, während der Kronprinz von Portugal einen schwarzen Backenbart trug.

Die Kellner beugten sich über sie und murmelten ehrfürchtig: »Selbstverständlich, Ew. Majestät, ich werde augenblicklich noch eine Extraportion Erbsen herbeischaffen.« Und vielleicht hatte das Claridge dem Earl Cadogan für sein Diner jenen smarten Chefkellner Myron Weagle aus Amerika geliehen, und Weagle stand ruhig, aber gebieterisch hinten am großen – Büfett, ob das wohl ein Büfett war? und war das Chelsea House ein Privatheim oder ein Londoner Hotel? – nun, jedenfalls stand er ruhig im Hintergrund, aber seinem Adlerauge entging nicht ein einziger Mißgriff der Kellner, und nachher, als sie Fünfzig-Cent-Zigarren rauchten und aus großen Pokalen Kognak tranken, sagte einer der Könige zum Earl Cadogan (es war doch auch sicher sein Titel und nicht der Vorname?) er sagte: »Earl, ich muß Sie zu dem blendenden Chefkellner, den Sie heute abend hier hatten, beglückwünschen. Er versteht sich auf das Servieren wie ich auf mein Regieren. Alles hat fabelhaft geklappt. Meinen Sie, daß ich ihn für mein Schloß bekommen könnte? Ich würde ihn zum Sir machen und ihm ein schickes, eigenes Haus zur Verfügung stellen.«

Und im Verlauf des Diners hatte eine Prinzessin ihrem Nachbarn zugeflüstert: »Wer ist denn bloß dieser große, hübsche Mann mit dem blonden Schopf, der dahinten an der Anrichte steht? Ist er nicht einer von den Gästen? Warum setzt er sich denn nicht zu uns?«

Myron studierte das Diner, das er für den Earl Cadogan hatte servieren lassen. Es bestand unter anderem aus Chinesischem Salm, Cotelettes d'Agneau Duchesse, Chaudfroid de Cailles aux Truffes, Poulardes aux Pruneaux, Filets Piqués froids Sauce Cumberland, Ortolans sur Canapés, Bavaroise à la Montreuil, Soufflés de Fraises, Croustades aux Fromages.

Es war nicht einfach eine Aufzählung von Dingen zum Herunterschlingen. Es war ein Schiffsregister. Es war eine Litanei von Namen, die vierzehn süße Symphonien waren. Es war, für Myron Weagle, Poesie mit Sauce Cumberland.

»Das ist mal was anderes als Corned beef mit Kohl und Schweinekotelett mit Apfelmus«, seufzte er, dann: »Ob die wohl auch manche von den Speisen in Wachskähnen mit Amoren darauf hatten?« und schließlich voll Heftigkeit: »Pfeifente, hat sich was!«

 

Abgesehen von dem Wachsamor-Unsinn und den Menüs auf rosa Bändern führte er sich solide Ratschläge von Withehead, Ranhofer vom Delmonico, Montselet, Brillat-Savarin und aus Hotelzeitschriften zu Gemüte. Er kannte die Namen und Ingredienzen von etwa tausend Gerichten.

Aber das hatte, wie jeder andere Dichter-Wahnsinn, den Nachteil, prosaischere Seelen zu beunruhigen. Als er das Resultat eines Experimentes, ein Gericht Hammelkoteletts, voll Stolz vor Clint Hosea brachte und prahlerisch sagte: »Kosten Sie das mal. Ich glaube, das wäre eine schöne Sache zum Servieren. Es ist mit Sauce Béarnaise! Die hab ich gemacht!« schnauzte der ironische Yankee-Koch: »Mit was ist es?«

»Sauce Béarnaise.«

»Vielleicht können Sie mir sagen, was der verfluchte Mist, so ne Sauce Barnes, ist?«

»Ach, da ist Weißweinessig drin und junge Zwiebelchen – Chalotten konnt ich nicht kriegen – und Fleischextrakt und Eidotter und Kräuter –«

»Nehmen Sie das weg. Kosten, Teufel auch! Sie wollen mich wohl vergiften?«

»Ja, dann könnt ich es vielleicht mit etwas Sauce Duchesse machen, bloß einmal probieren und sehen, ob es den Gästen schmeckt?«

»Gar nichts können Sie! Wir brauchen keine Barnes-Saucen und keine Tisches-Saucen und überhaupt keine solchen blödsinnigen Schweinereien! Tun Sie etwas ollen ehrlichen Bratensaft drauf, wie's jeder Koch macht, und dann verduften Sie von hier und lassen mich in Frieden. Sie, da stimmt was nicht. Was ist denn los mit Ihnen? Haben Sie Bücher gelesen


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