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14

Als Myron nach New York abreiste und Ora in seine kleine Kätnerhütte eingezogen war, deren Einrichtung aus einem kleinen Tisch, einem Bett und zwei Stühlen bestand, war es theoretisch so, daß Tansy lediglich hinkam, um für ihn zu kochen. Sie war eine Waise und lebte bei einem gleichgültigen Onkel, der sie sich selbst überließ; als ein Abend kam, an dem sie sehr abgespannt und faul war, wäre es zu mühsam gewesen, nach Hause zu gehen, sie legte sich also zufrieden neben Ora auf dem Maishülsenbett zur Ruhe und freute sich am Morgen, als er (denn darin war er wirklich genial) sich weder schämte noch ärgerlich war.

Von da an verehrte sie ihn und in ihm Myron.

Und er war glücklich mit ihr, bis er empfand, er hätte ihre Seele erforscht, er hätte das Dschungel durchquert und wäre auf der anderen Seite herausgekommen, an einer Küste vor neuen Ländern, die darauf warteten, von ihm betreten zu werden. Er war kein nüchterner Siedler, überlegte er, sondern immer ein Forscher.

Verzweiflung machte ihn krank, denn er konnte nicht schreiben, und Tansy konnte ihm nichts geben, worüber zu schreiben gewesen wäre.

Die Geschichte vom Moor und den sich verbergenden Negern inmitten der faulenden Zypressen, die ihn damals, als er sich mit ihr vor Myron brüstete, fest wie Felsgestein gedünkt hatte, war Tag um Tag mehr zerbröckelt. Nichts war davon geblieben, erkannte er nun, als ein greller Farbdruck in seinem Kopf – keine Fabel, keine Menschen, keine Wahrheit.

Tansy gab ihm nichts Neues für seine Geschichte. Sie wußte von den Voodoos und dem Farbigen-Viertel ihrer Vorfahren nicht mehr als Ora von der Geschichte Jonathan Edwards' und Israel Putnams aus Connecticut; sie wußte von Sümpfen und giftigen Mokassinschlangen und Fieberkrankheiten und verborgenen Hütten nicht mehr als er vom Tabaktrocknen im Connecticut-Tal. Beide, der weiße Zeitungsschreiber und das zum Teil weiße Zimmermädchen, hatten so ziemlich dasselbe Durcheinander amerikanischer Schulkenntnisse: eine schwache Erinnerung an Longfellow, Whittier und Poe; die Ansicht, daß Lee und Grant, in irgendeiner unklaren, vergessenen Weise, sich als ausgezeichnete Generäle erwiesen hätten; die Tatsachen, daß die Quadratwurzel von vier zwei sei, das chemische Symbol des Wassers H2O, Beethoven ein in weiten Kreisen geschätzter Musiker, und die Bewohner der Vereinigten Staaten (1) die großartigste Nation der Welt und (2) für empfindsame Seelen wie ihre eigenen die minderwertigste Nation der Welt.

Aus diesem Wissen klaubte sie Einzelheiten für das gebildete Geschwätz heraus, nach dem sie sich ihr ganzes Leben lang, während sie Betten machte, Toiletten reinigte und Geschirr wusch, gesehnt hatte. Sie sagte aufgeregt: »Lieber, findest du nicht, daß Gerechtigkeit das wichtigste ist, wofür wir alle arbeiten müssen – sogar noch wichtiger als Schönheit?« Und: »Erschreckt es dich nicht einfach, wie wirklich Stephen Crane alles macht, wenn er schreibt?«

Und er war gelangweilt. Ihre Reden hatten gerade Ähnlichkeit genug mit jenen, ernsthafter Bildung etwas näher kommenden Gesprächen in der Clique der Glückskinder, um Sehnsucht nach ihnen in ihm zu erwecken. Wäre er ganz allein gewesen, so hätte er es aushalten und zufrieden sein können, er hätte ungestört auf die Stimme seines Selbstlobes hören können, aber sie quälte ihn bloß mit Erinnerungen.

Er sehnte sich so sehr nach seinen Kollegen. Und nach einer gemütlichen, zuverlässigen Kneipe gleich an der Ecke! Und nach einem gemütlichen Schundstück in der Bowery! Hier konnte man am Abend zu Hause bleiben, oder man konnte den Sektierern zusehen gehen, die sich in ihrem mit Palmenblättern gedeckten Heiligtum heiser brüllten, und das war alles, was man unternehmen konnte.

Die Aussicht von der Tür seiner Hütte, die ihn anfangs so entzückt hatte, war ihm verhaßt geworden: Fischerboote auf der nachtschimmernden Wasserfläche der Pontevedra-Bucht, Wolfsmilchpflanzen hinter einem Schleier von Spanischem Moos, eine Blockhütte unter dem Laubgewölbe der Zypressen.

Es war so still geworden und diese Stille entweihte Tansy, die so geschwätzig war, während sie einen widerlichen Topf Bohnen umrührte.

Er hörte ihr nicht zu. Er war verzweifelt. Er konnte nicht schreiben. Die hundert Dollar von Myron würden bald verbraucht sein. Er war in Ungnade bei dem alten Teufel, dem Herausgeber des Yankee Doodle, der weiß Gott wie angab, bloß weil er wie alle anderen ein bißchen plagiiert hatte. Hier saß er in der Einöde, eine Million Meilen von New York entfernt. Und er konnte nicht schreiben. Was zum Teufel sollte er nur tun?

»Lieber, gefällt dir der Octopus von Frank Norris? Ich fand es einfach wunderbar, damals, als ich es mir geborgt hatte. Ich war fürchterlich schlecht dran damals – ich mußte in einem Waisenhaus Geschirr waschen! Hat es dir gefallen?«

Ora näselte ganz ruhig und ganz deutlich: »Einen Dreck hat es mir gefallen! Das einzige, was mir gefällt, ist ein anständiges Beefsteak, wie man es bei uns im Norden macht – und ein bißchen Schweigen. Sogar du könntest gelegentlich mal bemerken, daß ich mir eine Geschichte ausdenken will, und den Mund halten!«

Sie stand so hilflos gekränkt da, ein gekränktes Kind mit idiotisch zitternden Lippen und flehenden Augen, daß er sie haßte. Er lief weg und kam erst zum Mittagessen zurück, das sie gekocht hatte. Als er dann nach einem unglückseligen Nachmittag des ziellosen Umherschweifens in der Hitze um fünf Uhr zurückkam, war sie weg, und das stimmte ihn ein wenig traurig. Aber am Abend kam sie wieder an, kroch zu ihm wie ein erschreckter Hund, der nicht weiß, warum er geschlagen worden ist, und er verabscheute sie wegen ihrer Demütigkeit. Er war doch ein Mann, der es verdiente, große, stolze Frauen zu haben!

»Ach um Himmels willen, benimm dich doch nicht wie eine Sklavin – wie deine verdammten Vorfahren!« zischte er, nicht ohne sich zu versichern, daß es gar nicht ernst gemeint und viel freundlicher war, als es klang. »Oder wenn du schon zeigen mußt, daß du Niggerblut hast, warum besorgst du mir nicht Material für meinen entlaufenen Sklaven in der Sumpfgeschichte, wie ich dich gebeten habe?«

Er konnte kaum ihr Wehklagen hören, als sie aus der Hütte lief. Es war weniger ein Ton als eine Schwingung in der Luft.

Er schämte sich – und war auch hungrig. Sobald sie wiederkam, würde er sich nett entschuldigen. Von ihm konnte niemand sagen, daß er es nicht eingestand, wenn er im Unrecht war, wenn er auch nur ein ganz klein wenig im Unrecht war!

Sie kam nicht zurück, weder in der Nacht noch am nächsten Tag. Als es dann auf den Abend zuging, wurde er etwas unruhig und trieb sich in der Gegend herum, wo sie mit ihrem Onkel lebte. Wenn sie dort gewesen wäre, hätte er sie unbedingt sehen müssen, da das Häuschen ihres Onkels nur zwei niedrige Räume hatte.

Jetzt war er beunruhigt, und das eigene Kochen bekam ihm auch nicht. Er konnte nicht schlafen, und als er nach Mitternacht langgezogene stöhnende Laute draußen hörte, sprang er von seinem Strohsack auf.

Er stellte sich rasch in die Tür, um im Licht von Teerfackeln und Petroleumlaternen, die wahnwitzige Schatten auf das von den immergrünen Eichen in tollen Kurven herunterhängende Moos, auf Zypressenstämme und die metallisch schimmernden Blätter der Zwergpalmengebüsche warfen, eine Prozession von Negern vorüberziehen zu sehen. Sie trugen eine alte Kiefernholztür, an der getrockneter Dung klebte, und darauf lag, zugedeckt mit der erdbeschmutzten Jacke eines Feldarbeiters, die Leiche einer Frau, aus deren langem schwarzem Haar Wasser tropfte.

Er stürzte hinaus und fragte: »Mein Gott, was ist das?«

Der vorderste Neger, ein Mann so kräftig wie Herkules und so demütig wie ein Sklave, dessen kräftige schwarze Muskeln im Fackellicht fettig glänzten, murmelte: »Es ist das dumme Mädel, die Tansy, die für Sie gekocht hat, Boss. Sie ist ersoffen. Wahrscheinlich ist sie mit dem Fuß in einer Zypressenwurzel hängen geblieben und in den Sumpf gefallen. Wollen Sie sich eine andere Köchin anschaffen, Boss? Ich hab eine tüchtige Schwester.«

Es war furchtbar, daß keiner von ihnen ihm Vorwürfe machte, daß keiner von ihnen genug Interesse für ihn hatte, um auf den Gedanken zu kommen, daß ihm etwas vorzuwerfen wäre. Er mußte fortgehen, ohne beichten zu können, ignoriert oder verachtet von diesen primitiven Menschen, die er zu seinen Brüdern gemacht hatte.

Voll Entsetzen stampfte er auf den Boden. Er hielt ein. Die Augen traten ihm hervor. »Alle Heiligen im Himmel!« flüsterte er voll Ehrfurcht vor den Schwingen der Inspiration. Er stürzte sich auf die Schreibmaschine und hämmerte drauflos, von ein Uhr bis zur Morgendämmerung, dann stand er taumelnd auf und machte sich Kaffee.

So begann er seinen Roman Schwarzer Schlummer.

Er beendete ihn, im ersten Entwurf, in zweieinhalb Wochen. Die Arbeit nahm ihn so in Anspruch, daß außerhalb der Grenzen seiner Vision kein Leben für ihn existierte. Er schrieb den ganzen Nachmittag und die ganze Nacht. Er nährte sich von Kaffee, Brot auf einer verschmierten Schüssel, Zigaretten und Schnaps; er badete nicht, rasierte sich nicht, sein Hemdkragen war grauschwarz. Er riß sich aus seiner Raserei nur heraus, um Myron nach New York zu telegraphieren: »Schicke um Himmels willen sofort hundertfünfzig Dollar schreibe wirklich Roman fast fertig vorher gefaulenzt aber jetzt wunderbar drin alles Gute Bruder.«

Er bekam das Geld. Er beendete die Erzählung.

Es war die Geschichte Tansy Quills – erzählt von Tansys Seite aus, und voll erbarmungsloser Härte gegen das Schwein, das ihr weißer Geliebter war. Ora gab ihr die Größe einer Meereswoge. Er weinte echte Tränen, während seine unablässig darauf los tippenden Finger lebendig gestalteten, wie sie in einem Schweinepfuhl saß und sich nach der bescheidenen Bildung sehnte, die das ererbte Geburtsrecht jedes weißen Mädchens ist, wie feig und billig spöttisch ihr Geliebter war, wie das Fackellicht über die immergrünen Eichen zuckte, als man sie tot nach Hause trug.

»Wie wunderbar objektiv ein wirkliches Genie sein kann!« keuchte er.

Er rasierte sich, betrank sich maßlos und brachte das Manuskript nach New York, es während der Eisenbahnfahrt korrigierend.

Es wurde publiziert, hatte einen gewaltigen literarischen Erfolg und ging überhaupt nicht. Er wurde wieder Zeitungsschmierer und schrieb nie wieder etwas so Ehrliches und in finanzieller Hinsicht so Überflüssiges wie Schwarzer Schlummer.

Als sechs Monate um waren, hatte er nahezu vergessen, daß es einen Ort gab wie Tippecanoe, einen Menschen wie Tansy, er war mehr oder weniger zufrieden damit, einer reichen Witwe ihre Memoiren zu schreiben und sich über Myron lustig zu machen, der einfältig genug war, darüber zu jubilieren, daß er dem Personal jenes prächtigen New-Yorker Hotels, des Westward Ho, angehörte. Nur wenn er betrunken war und sein Freund Wilson Ketch, Verfasser von Wildwestgeschichten, ihn sich selbst überlassen hatte, erhob er sich wieder zu solcher Objektivität, daß er etwas über Hunde und das, was sie auskotzten, brummte.


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