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Könnte man nicht Versuch machen, Austern, Muscheln, Krabben, Salzwasserfische usw. in der Gegend von Chicago, Detroit, Cleveland usw. zu züchten, damit frische Vorräte für Hotels & Restaurants in künstlichen Salzwasserbassins vorhanden sind? Drei Methoden möglich, um Salzwasser zu erhalten: 1. analysieren lassen und an Ort & Stelle künstlich herstellen, 2. wirkliches Seewasser in Tankwagen heranschaffen oder 3. Meeressalzwasser verdampfen und Salzrückstände frischem Wasser zusetzen, bevor es in Bassin geleitet wird. Daran denken, Chemiker zu fragen.

Der Bericht in der Wochenzeitung Time lautete:

 

Hotelsünder

Direktor Myron Weagle ergriff, einen Whisky-Soda in der Hand, das Wort. »Wir wollen auf mein neues Hotel, den Black Thread (Conn.) Inn trinken, den allerbesten guten Gasthof der Welt«, rief er. Tycoon B. F. Vince, Begründer und Vorsitzender des Messingverbandes, der preisediktierenden Organisation von Yankee-Topffabrikanten, antwortete: »Bruder, ich halte mit.« Die sechs anwesenden Magnaten und der Herr Wirt Weagle tranken vergnügt. Es war vier Uhr früh am 11. Juni, die erfolgreiche Eröffnung des Gasthofes war vonstatten gegangen Als man »So leben wir alle Tage« zu singen begann, hörte man einen Pistolenschuß und dann noch einen. Entsetzt hielt man inne. In der Führung eines erfolgreichen Absteigehotels war es jedoch lediglich ein Zwischenfall. Es war nichts weiter geschehen, als daß der als Motorbootrennfahrer bekannte einzige Sohn des ehemaligen U. S. Senators Burnside Farragut Colquhoun (auszusprechen wie Cahoon), des berühmten Vorkämpfers für die christlichen Tugenden, sich und seine Dame, die Filmschauspielerin Paxton, ermordet hatte.

Die guten Bürger Black Thread Centers, eines kleinen Landstädtchens am Housatonic River, kennen nicht einmal den Namen ihrer eigenen Ortschaft. Sie sind der Meinung, daß seine jetzige Bezeichnung zurückzuführen sei auf eine Textilfabrik, die seinerzeit schwarze Trauerstoffe für die unglücklichen Witwen des mexikanischen und des Bürgerkrieges erzeugte. Der Name sollte in Wirklichkeit Black Threat (Schwarze Gefahr) heißen. Er war wirklich in den frühen Zeiten unserer Geschichte eine schwarze Gefahr für die Connecticut-Siedler, als es noch ein Indianerlager war, und anscheinend ist es jetzt eine noch bedrohlichere schwarze Gefahr für junge Rennfahrer, die eine Zuflucht für sich und ihre Damen suchen.

 

Die Boulevardzeitungen brachten wenig Text, aber viele Bilder, auf denen der Ort der Katastrophe zu sehen war, mit den Leichen – die Aufnahme war freundlicherweise von einem Filmkomparsen und einer Filmkomparsin in einem Zimmer des Gaiety Hotels am Broadway gestellt. Die Zeitungen konnten auch, indem sie zwei Bilder montierten, die Terrasse des Black Thread Inn mit zahlreichen Statistinnen in sehr ausgeschnittenen Badeanzügen zeigen und brachten Dutzende von Aufnahmen mit Myron, Effie May und Luke. Einige Tage hindurch mußte Myron immer wieder Photographen aus den Gebüschen in der Nähe seines Häuschens verjagen. Und eine der Boulevardzeitungen erdachte für den Gasthof den Namen »Mordtaverne«.

 

Am Tag nach dem Mord, als die Leichen fortgeschafft waren und Myron bereits Reinemachfrauen und Maler das Zimmer Nr. 97 wieder in Ordnung bringen ließ, erschien Sheriff Beasy in Begleitung Dutch Linderbecks liebenswürdig in Myrons Büro.

»Ja, mein Lieber, wirklich eine sehr unangenehme Sache! Wer hätte gedacht, daß so etwas geschehen könnte, als wir uns so gut mit den Jungens von der Zeitung am Abend unterhielten! Ich kann Ihnen bloß sagen, mein Lieber, das zeigt uns wieder mal, wie wenig wir davon wissen, was das Schicksal für uns bereit hält! Ja ja, so was bringt einen wirklich zum Nachdenken! Aber machen Sie sich keine Sorgen, mein Bester. Ich werde bei den Reportern und bei der Untersuchung und so weiter alles tun, was ich nur kann, um Sie zu decken und dafür zu sorgen, daß das Lokal nicht in schlechten Ruf kommt. Ich gehöre zwar nicht zu den Leuten, die immer rumlaufen und erklären: ›Hab ich's Ihnen nicht gesagt?‹ Aber ist es nicht wirklich sonderbar, daß ich Ihnen ganz kurz vorher sagte, wie notwendig es für Sie ist, mit den Behörden gut zu stehen? Also, der Bootlegger, von dem ich Ihnen erzählt hab, Purvis heißt er, das ist ein Mensch – –«

»Ich weiß schon, was Sie wollen, Sheriff! Daß ich solchen Fusel nicht verkaufen will, hat nichts damit zu tun, daß es verboten ist. Ich finde bloß, Badewannen-Gin verträgt sich nicht gut mit gutem Essen und anständiger Bedienung.«

»Na, vertragen sich Mord und Selbstmord damit besser?«

»Das lassen Sie gefälligst aus dem Spiel!«

»Ach, ich hab's nicht bös gemeint. Aber Sie werden noch Vernunft annehmen – Sie können eben ein abgelegenes Lokal wie das hier nicht führen, wenn die Gäste nicht in aller Bequemlichkeit Alkohol kriegen können. Ich hab die ganze Sache mit Ihrem Hoteldetektiv durchgesprochen, und er ist derselben Meinung wie ich. Stimmt's nicht, Dutch?«

»Klar. Da können Sie Gift drauf nehmen. Der Mensch muß vernünftig sein. Sie verstehen doch, was ich meine, Chef?«

Myron murmelte: »Es wäre mir ein ganz besonderes Vergnügen, meine Herren, wenn Sie beide sich schnurstracks zum Teufel scheren wollten. Guten Tag!«

 

Drei Beamte des Sheriffs – selbstverständlich war ihr Führer nicht der freundliche Mr. Everett Beasy – machten eine Woche später eine Razzia im Gasthof und fanden hinter der Bar eine Pinte Whisky. Sie waren gerade dabei, den Empfangschef Clark Cleaver zu verhaften, als Myron mit T. J. Dingle telephonierte.

Das machte dem Vorgehen von Gesetz und Justiz ein Ende.

Als Myron zwei Wochen später im Mondschein von Center heimfuhr, schoß jemand aus dem Gebüsch auf ihn. Die Kugel durchschlug seine Windschutzscheibe. Sowie er in seinem Büro im Gasthof war, rief er Beasy an.

»Hallo. Der Sheriff dort? Guten Abend. Hier Myron Weagle.«

»Ja, ja, ich habe mit großem Bedauern von dem skandalösen Vorfall gehört!«

»Von was für einem Vorfall denn?«

»Äh, äh – ich meine, der Mord und der Selbstmord.«

»Der Mord vor zwei Wochen, Sheriff?«

»Ja, natürlich. Teufel, was sonst sollte ich gemeint haben?«

»Was Besseres als das, Beasy. Ich weiß, woran Sie gedacht haben! Hören Sie mal zu. Erinnern Sie sich noch an den älteren New-Yorker Reporter, der am Eröffnungsabend hier war? An Denmack? Den großen, mageren Menschen mit der kleinen Glatze?«

»Ich glaub schon. Was ist mit ihm?«

»Ist der Ihnen nicht als ziemlich tüchtig aufgefallen? Eigentlich zu gut, um bloß zu einer Hoteleröffnung geschickt zu werden – der wahrscheinlich den Auftrag bloß gekriegt hat, damit er ein bißchen Ferien machen kann?«

»Na und?«

»Ist Ihnen der Denmack nicht als ein Mensch aufgefallen, der sehr energisch ist, aber dabei auch vorsichtig und genau und sich nicht leicht ins Boxhorn jagen läßt?«

»Ich könnte nicht sagen, daß er mir überhaupt aufgefallen ist! Ich hab ihn weiter gar nicht und überhaupt nicht beachtet! Verflucht frech war er, das ist das einzige, was mir an ihm aufgefallen ist!«

»Schön! Also, es wird Sie interessieren, daß ich dabei bin, einen genauen Bericht über alles zu tippen, was ich von den Gesetzesbeamten in der Gegend hier weiß, mit Namen und allen Einzelheiten, von Ihrem ersten Besuch bei mir und von der gepflanzten Razzia hier bis heute abend – ein Original und zwei Durchschläge. Ich mach den Bericht heute fertig, bevor ich zu Bett geh, und morgen wird ein Exemplar bei T. J. Dingle sein und ein zweites bei Denmack, aber versiegelt, mit der Anweisung, daß er es nur zu öffnen hat, wenn mir irgendwas passiert. Das könnt eine ganz hübsche Sache für seine Zeitung geben. Ich würde also an Ihrer Stelle Ihrem Mann sagen, er soll nicht so leichtsinnig herumschießen – oder das nächstemal auch richtig treffen, wenn er schießt!«

»Weagle, ich glaube, Sie sind einfach übergeschnappt. Ich hab überhaupt keine Ahnung, wovon Sie eigentlich reden!«

»Na, das hör ich gern, alter Freund. Das hör ich wirklich gern. Und jetzt sagen Sie mir mal, als Fachmann, meinen Sie, daß Dutch Linderbeck, mein Detektiv, ein verläßlicher und tüchtiger Bursche ist?«

»Ganz bestimmt, Weagle. Ich hab keine Ahnung, was Sie mir da eben vorerzählt haben, aber was Dutch betrifft, da kann ich Ihnen bloß sagen, der ist richtig, ein ausgezeichneter, verläßlicher Wächter.«

»Recht vielen Dank! Das erste, was ich morgen früh tu, wird sein, daß ich ihn rausschmeiße.«

Es fiel Myron ein, daß er Beasy dazu eingeladen hatte, ihn in dieser Nacht zu erschießen, und die große Glastür seines Büros, vor der eine Baumgruppe stand, eignete sich ausgezeichnet für einen bequemen Mord. Aber er konnte sich nicht dazu aufschwingen, dramatisch zu werden und eine Wache aufzustellen oder sich einen Revolver zu beschaffen – wenn außer der Waffe in Dutch Linderbecks Hüfttasche im ganzen Gasthof überhaupt ein Revolver aufzutreiben war. Er zog den Vorhang herunter. Sein Schatten fiel darauf, und ihm war nicht ganz behaglich zumute, als er dasaß und nicht nur seine eigenen Erfahrungen mit dem guten Sheriff Beasy zu Papier brachte, sondern auch das, was ihm T. J. Dingle über Beasys Beziehungen zu dem Pinetop-Tanzpavillon erzählt hatte.

Erschrocken unterbrach er sich. Auf dem Ziegelweg vor seinem Fenster war deutlich ein Geräusch zu hören. Er konnte nicht untätig bleiben. Es lief ihm kalt über den Rücken, und er riß das Fenster auf. Dann war er nicht mehr im Ungewissen über die Ursache des Geräusches.

Es war ein Stachelschwein, das erschrocken davon watschelte; es sah ihn aus den trüben, ängstlichen kleinen Augen eines Bärenjungen an und rutschte bei seinem Versuch, sich zu beeilen, auf den glatten Ziegeln aus.

Mitte August, zwei Monate nach der Eröffnung, zu einer Zeit, da die allerbeste Saison hätte sein müssen, stand der Black Thread Inn halb leer. Es gab genug andere Hotels, in denen es zu Selbstmorden gekommen war, aber die Tatsache, daß sich so etwas in der Eröffnungsnacht ereignete, hatte die Phantasie jenes nicht unbeträchtlichen Teils des Publikums angeregt, der ein vorsichtiges und bedachtsames Leben führt und sich, um abzureagieren, an den wonnevollen Vorstellungen weidet, die ihm durch Selbstmorde geboten werden, durch Morde mit Fackeln oder Fenstergewichten als Werkzeugen, durch Hinrichtungen, durch Vergiftungen und durch Kriege. Myron wußte, daß Sheriff Beasy und seine guten Freunde herumliefen und sagten: »Lieber möcht ich meinen Sohn oder meine Tochter tot sehen, bevor ich sie auch nur einen Fuß in diese Lasterhöhle setzen lasse!« Und die eine Boulevardzeitung hatte viel für Myron getan, indem sie eine Schlagzeile von der »Mordtaverne« zwischen einem Leitartikel über die Notwendigkeit des Kirchenbesuches und einen Sonderaufsatz über die Ehre als eine der erstrebenswertesten Tugenden setzte.

Sehr oft kamen zum Lunch Sensationslüsterne im Automobil, die manchmal auch über Nacht blieben. Sie taten nicht wenig zur Verbreitung des Gerüchtes, der Gasthof sei ein Asyl für heimliche Liebespaare. Manche von ihnen machten in ihrer Betrunkenheit mehr Lärm und brannten mehr Zigarettenlöcher in die Teppiche, als auch der erfahrenste und älteste Hotelier erwarten kann, und sie alle gaben ausnahmslos zu verstehen, daß sie nur allzu gern einen Blick in das Mordzimmer werfen würden. Ab und zu taten ihnen die Angestellten den Gefallen, indem sie ihnen irgendein Zimmer zeigten, das gerade frei war; bisweilen machte Myron sich das Vergnügen – es war zu jener Zeit sein einziges – ihre Bitte nicht zu erfüllen und damit für immer ihre etwas anrüchige Kundschaft zu verlieren.

Unter den anständigen Paaren, die weder ordinär noch schmierig noch betrunken waren, gab es etliche, die den Gasthof kennenlernen wollten, weil sie von derselben tugendhaften und schleichenden Neugier getrieben wurden, die anständige Paare dazu veranlaßt, anrüchige Cafés in Paris oder Berlin aufzusuchen und dann verärgert und enttäuscht zu sein, wenn sie keine verkommenen Menschen zu Gesicht bekommen, an denen sie Anstoß nehmen können, sondern lediglich andere kaninchengesichtige Reisende vom gleichen Schlage wie sie selbst.

Doch Myron war so geduldig wie noch nie zuvor in seinem ehrgeizigen Leben. Täglich ermahnte er sich zur Geduld – Effie May ermahnte ihn zur Geduld – Gritzmeier ermahnte ihn zur Geduld – Clark Cleaver bat ihn um Geduld – Tom Weagle ermahnte ihn jammernd zur Geduld – und trotz alledem verlor er wirklich nicht die Geduld. Aber er haßte die Maulaffen feilhaltenden Neugierigen, die sein sauberes Lokal für eine Höhle der Verderbtheit hielten und deren verlogene Sensationslüsternheit den Gasthof mehr beschmutzte als jeder rasche und ehrliche Mord.

Auch das mußte aufhören. Die Menschen mußten vergessen. Es war unmöglich, daß sie in aller Zukunft nichts weiter als eine minderwertige Absteige in seinem Gasthof sehen und nichts von den freundlichen Zimmern merken würden, von dem schönen Strand und dem guten Essen, das Tag für Tag liebevoll bereitet wurde, um abends unberührt fortgeworfen zu werden.

Und die Menschen vergaßen. Andere Ereignisse nahmen sie in Anspruch. Arbeiterfeiertag, und der Anfang eines neuen Jahres im Büro. Große Zeitungsreportagen. Neue Filme. Es war das Jahr Lindberghs und Clarence Chamberlins, Byrds und Maitlands, die nach ihren Ozeanflügen ständige Figuren in den Zeitungen blieben. Die Fürstin Löwenstein-Wertheim, Philip Payne, Mrs. Frances Grayson und ein halb Dutzend flogen hinaus auf die See und verschollen. Der junge Mr. Hickman, ein hervorragender Sonntagsschulstudent, entführte und ermordete ein Kind namens Marion Parker, und das war eine Sache, die den Lesern noch mehr Unterhaltung bot als ein Selbstmord in einem Hotel. Der Fall der Mordtaverne begann jener Gleichgültigkeit anheimzufallen, die in allen Demokratien das Schicksal jedes Ereignisses wird, sei es nun ein edles oder ein gemeines, das mehr als vier Monate alt ist; und im Oktober 1927 gehörte er der Geschichte an, war er ebenso unvorstellbar veraltet wie die Ereignisse, die sich ein ganzes Jahr früher abgespielt hatten – die ganz entschieden mittelalterlichen Ereignisse des Jahres 1926, wie etwa die Besuche der Königin Marie und Ivar Kreugers, die ihre Botschaften von der Liebe Europas und seinem Bestreben, etwas für Amerika zu tun, brachten, oder die Wiederaufnahme des Hall-Mills-Falles, jener ziemlich eleganten Mordgeschichte von dem Pfarrer und seiner Chorsängerin.

Der einzige Sohn des Senators Colquhoun war jetzt dasselbe wie Hektor.

Schon im September, als die Eichen und die Ahornbäume die Banner eines tapferen, sterbenden Kriegsheeres zeigten, begannen, irgendwoher kommend, Gäste aufzutauchen, die nicht herumschnüffelten und kicherten, und manche von ihnen blieben eine Woche, machten Spazierritte, wanderten umher, spielten Golf und teilten Myron schüchtern mit, so gutes Essen und so gute Betten hätten sie noch nirgends bekommen. Zum erstenmal war ehrliches junges Lachen von den Cabañas und den Sprungbrettern zu hören, und die Jugend entdeckte das Croquet ihrer Großmütter als aufregend modernes Spiel. Den ganzen Oktober hindurch liefen Bestellungen ein.

Myron beglückwünschte sich dazu, daß er, wenn der Gasthof auch nicht wirklich vollkommen war, wenigstens seine Lage ausgezeichnet gewählt hatte. Es gab in einem Umkreis von fünfzig Meilen keine Konkurrenz.

Dann geriet, nicht mehr als vier Meilen entfernt, der luxuriöse Olde-Mill-Landklub in finanzielle Schwierigkeiten und bewarb sich um Fremde. Auf allen Straßen in der Umgebung Black Threads waren Anschläge zu lesen: »Hotelpreise, aber Klubexklusivität – Zimmer und Restaurant auch für Nichtmitglieder geöffnet – Wohnt auf dem Golfplatz, nicht bei ihm.« Die Schrift war schwarz, nur die Worte »auf« und »bei« waren geschmackvoll rot gemalt.

Der Klub hatte keinen Mordskandal. Gäste, die sonst den Black Thread Inn aufgesucht hätten, gingen dorthin und waren begeistert, weil sie vom Golfplatz direkt in den Speisesaal treten konnten.

So begannen für Myron nach einer Woche herbstbunten Behagens wieder die Sorgen.

 

Als er sich alles überlegte, begann er schon damals, 1927, ungefähr zu ahnen, was er später, Anfang 1930, völlig klar sah: daß in der ganzen »Sommerhotelbranche« Änderungen vor sich gingen und sie zum größten Teil verloren sein würde; daß er trotz aller Liebe und Hingabe seinen »Vollkommenen Gasthof« gerade zur denkbar schlechtesten Zeit gebaut hatte; es war nicht anders, als würde ein Dichter sich triumphierend als Epenverfasser gerade dann niederlassen, wenn der Prosaroman den Hexameter, vielleicht für immer, verdrängt.

Die Sommerfrische früherer Zeiten, die sich häufig um ein einziges Hotel gruppierte, hatte sich mit einem gesellschaftlichen Leben begnügt, das, so naiv es auch sein mochte, nach den Begriffen William Dean Howells' und der Goldenen neunziger Jahre interessant war. Die normale Reise der Familien, die so vergnügt auf zwei Wochen oder einen Monat nach Bar Harbor, Saratoga Springs oder Bretton Woods kamen, war eine lange, staubige, ratternde Eisenbahnfahrt; sie endete so schön angesichts grauer Brecher oder schimmernder Berge und angesichts des wohlbekannten komischen kleinen Bahnhofes, dessen Bedeutung für sie darin bestand, daß er ihnen sagte, nun liege wieder einmal eine schöne Erholungszeit vor ihnen, und dann komme die traurige Heimkehr nach New York oder Boston. Während des Ferienaufenthaltes kannte man keine anderen Fahrgelegenheiten als Segelboote für Vergnügungsfahrten, Leiterwagen für Ausflüge und elegante, rotgeräderte Einspänner für dekorative Zwecke. Das Reisen spielte die geringste Rolle in den Ferien jener Zeiten. Die Hoteliers mußten keine großen Anstrengungen machen, um ihre Gäste zu amüsieren. Sie bedurften, um blasierte Seelen aufzurütteln, keiner Tonfilme, keiner Golfplätze und keiner Jazzbanddirigenten, die Jahresgehälter von zwanzigtausend Dollar bezogen. Solange die Gäste einen Croquetplatz hatten, einen großen Saal und ein Klavier zum Tanzen, genug Boote, und dazu die Berge und das Meer, die in jenen sorglosen und unwissenschaftlichen Tagen vom lieben Gott gestellt wurden, und nicht von einem Hotelier, waren sie zufrieden … oder wenigstens der Zufriedenheit so nahe, wie Gruppen von Menschen jemals irgendwo sein können. Selbst in den Kreisen der müßigen Reichen, der Elegants der neunziger Jahre, die wirklich in Europa gewesen waren und eine Schwester an den Vetter eines Barons verheiratet hatten, gab es sommerliche Theatervereine, gesellschaftliche Veranstaltungen auf einer Jacht und Männer, die nicht den Lärm eines Außenbordmotors brauchten, um zum Fischen angeregt zu werden – die in der Tat zum Fischen vor allem Fische haben wollten.

Und sie blieben. Selbst die Durchreisenden, die sich nur zwei Wochen aufhielten (heute entsprächen ihnen die Mittagsgäste, die nur dreißig Minuten bleiben) waren ebenso bestrebt wie die Passagiere eines langsamen Dampfschiffes, ein gesellschaftliches Leben zu installieren.

Mit dem Kommen des Automobils änderte sich dies alles, wie sich die Pläne ganzer Städte und Vorstädte änderten. Daß Benz, Haines und Henry Ford auf der Welt nicht weniger Wandel geschaffen haben als Napoleon, Alexander und Cäsar, ist zwar kein feststehendes Forschungsergebnis, aber man darf annehmen, daß es so sei.

Die neuen Automobilisten verbrachten den größten Teil ihrer Zeit mit dem Reisen um seiner selbst willen, und die Hotels waren für sie nicht Mittelpunkte der Unterhaltung, zu deren Geselligkeit sie das ihre beizutragen suchten, sondern einfach Versorgungsstätten für Ernährung, Betten und Benzin.

Es mehrte sich auch die Anzahl der Familien, die früher zufrieden gewesen waren, in Hotels zu wohnen, nun aber sich selbst Häuschen in der Nähe ihrer Freunde bauten und dort ein gesellschaftliches Leben führten, von dem die Hotelfremden ausgeschlossen waren.

Die Golfmanie machte schließlich der Konzentrierung des Sommerfrischenlebens ein Ende. Die Schwimmer, die Tennisspieler und die Leute, die sich mit den lauen Reizen des Croquetspiels begnügten, hatten nichts dagegen einzuwenden gehabt, immer wieder auf demselben Grundstück zu schwimmen, Tennis zu spielen und Croquetkugeln aneinanderstoßen zu lassen. Die Golfspieler aber sprangen ununterbrochen in Automobile und gingen auf die Suche nach neuen, fernen Wagnissen.

Das Automobil führte wohl mehr Menschen aus den Städten heraus, aber die Hotels hatten keinen Vorteil davon. Die Vorzüglichkeit des Hotelessens und der Hotelbedienung, ehemals der Hauptreiz für den guten Bürger, der den ganzen lieben Tag auf der Hotelveranda in seinem Schaukelstuhl saß und klatschte, hatte bedeutend weniger Interesse für den Automobilisten, der infolgedessen auch nicht gewillt war, dafür zu bezahlen. Und viele, die wohlhabend genug waren, in anständigen Hotels abzusteigen, machten überall im Lande Station bei den Farmhäusern, die allmählich anfingen, das Schild »Hier finden Touristen Unterkunft« auszuhängen. Sie meinten, das Essen wäre da auch gut genug, und es sei bedeutend bequemer, von einem Farmhaus in aller Herrgottsfrühe aufzubrechen als von einem exakt organisierten Hotel.

Etwas später – im Osten noch unbekannt, im Westen gerade in Erscheinung tretend, aber im Anfang der Dreißigerjahre schon die letzte, tödliche Bedrohung der Sommerhotels – kamen die eigentlichen Automobilistenlager, die sich aus den Farmhäusern entwickelten: Hütten zum Übernachten mit Gaststätten und Bedarfsartikelniederlagen, die offen und ausschließlich für den durchreisenden Automobilisten gedacht waren und, da sie weder einen Stab von Angestellten mit Berufsausbildung brauchten noch sich bemühten, große Gesellschaftsräume, abwechslungsreiche Mahlzeiten und Parkplätze zu bieten, ihre Preise so niedrig ansetzen konnten, daß sowohl das Sommerhotel wie das Kleinstadthotel an der Hauptverkehrsroute dem Bankrott gegenüber standen.

Und Myron kam im Verlauf seiner bekümmerten Überlegungen zu der Erkenntnis, daß er sein Epos gerade zu Beginn dieser Prosaepoche herausgebracht hatte.

 

Er versuchte es mit allen Mitteln der wachsenden Verzweiflung. Er setzte den niedrigsten Preis »mit voller Verpflegung« von fünfzehn Dollar täglich auf zehn herab. Er ließ einen wahren Regen von Propagandabriefen herausgehen. Um Geld zu sparen, stellte er das Schwimmbassin im Herbst nicht fertig. Er redete Dingle gut zu, der seinen Anteil um jeden Preis losschlagen wollte. Er verbrachte mit Gritzmeier Stunden damit, über Möglichkeiten nachzudenken, wie sich bei der Verpflegung ohne Minderung der Qualität Ersparnisse machen ließen. Wenn er den ganzen Tag gearbeitet hatte, ging er erschöpft nach Hause, um sich umzukleiden, und brachte dann Abend für Abend Effie May zum Tanzen mit. Er gab sich Mühe, an Stelle des ausgeschiedenen Benny Rumble als »Hausherr« zu fungieren und unter den mißtrauischen Gästen so etwas wie eine Gemeinsamkeit echter Fröhlichkeit zu schaffen.

Mit ihm tanzte Effie May recht gern, aber gegenüber den Gästen, die ihr etwas großartiger vorkamen, war sie schüchtern, und so geschah es immer öfter, daß sie, die einst so erpicht auf solche Abende gewesen war, ihm zumurmelte: »Du siehst so müde aus. Wollen wir nicht lieber nach Hause gehen?« Wenn er sie jemals für provinziell, unelastisch und etwas töricht gehalten hatte, vergaß er das wieder ganz über ihrem freundlichen Wesen, in dem er seine einzige Stütze sah … Bisweilen hatte er gemeint, er würde, bevor es zu spät wäre, mit irgendeiner strahlenden und phantastischen Frau eine »Affaire« haben. Nun stellte er die Überlegung an, daß auch dies ein Luxus sei, auf den er verzichten müsse, um Kräfte genug für die Schaffung des Vollkommenen Gasthofes zu sammeln, der, wie ihm jetzt klar wurde, keineswegs vollendet, sondern erst begonnen war.

 

Während er gegen ernsthaftere Mißgeschicke ankämpfte, hatte er auch all den Ärger, den es in jedem Sommerhotel gibt, und möge es noch so gut geführt und besucht werden. Das Personal, das auf dem Lande war, aber fast nichts von den Freuden des Landes hatte, langweilte sich. Es machte den Leuten keinen Spaß, in ihrer Freizeit zu schwimmen, wenn sie von diesen Edlen, dieser Aristokratie von Gnaden täglich bezahlter fünfzehn Dollar beobachtet wurden. Sie kündigten, bloß um etwas Unterhaltsames zu tun zu haben, und es gab nicht gleich an der nächsten Ecke ein Vermittlungsbüro für Hotelangestellte. Ständig waren ein, zwei Kellner auf ihrem Weg nach New York und ein Ersatz, wahrscheinlich, aber keineswegs sicher, auf seinem Weg zum Gasthof. Sie reagierten die Langeweile auch in Streitigkeiten ab. In Kollegen, die ihnen im Juni noch Spielgefährten gewesen waren, entdeckten sie im August Anarchisten, die sich verschworen, ihnen im Kaffee Gift zu geben.

Clark Cleaver, der makellose Empfangschef, kam zu Myron und jammerte ihm vor, ein anderer Empfangsherr mache »krumme Sachen«; er war sehr aufgebracht und erklärte, »einer von uns beiden« werde gehen müssen. Der einstmals so wohlwollende Myron tobte und überraschte seinen Jünger, indem er brüllte: »Ich hätte gute Lust, euch beide an die Luft zu setzen! Ich bin kein Kindermädchen! Gehen Sie und erledigen Sie Ihre Angelegenheiten selber!«

»Jawohl, Mr. Weagle!« antwortete zitternd der getreue Cleaver.

Und die hübschen jungen Zimmermädchen waren in den Mondnächten immer mit den hübschen jungen Kellnern draußen im Wald, und die alten, weniger hübschen Zimmermädchen fanden diese ländlichen Freuden sehr gemein und häßlich, und dann drohten sie damit, zu gehen, und Myron mußte sich immer wieder Mühe geben, nicht daran zu denken, wie er einstmals in der Tippecanoe Lodge Luft gemacht hatte und wie schön es wäre, sein ganzes geschultes Personal bis auf den letzten Mann zu entlassen, alle Gäste mit einem Schießprügel hinauszujagen und glückselig allein inmitten der Ruinen sitzen zu bleiben.

 

Wie in jedem Sommerhotel waren die Gäste, mit denen man am schwersten fertig werden konnte, nicht die Gauner, nicht die Erpresser, die behaupteten, ein Kästchen mit Edelsteinen verloren zu haben, und mit einer Klage drohten, auch nicht die lärmenden Säufer, sondern die anständigen Leute, die ganz einfach unerträglich waren: die Ferienekel, die Miesepeter, die phantasievollen alten Herren, die den Mond wünschten, die ihn gebraten wünschten, und zwar rasch.

Die entschlossene junge Dame, die den ganzen Nachmittag im Tanz- und Sonnensaal Klavier spielte und so schlecht spielte, daß ihre Mitgäste erblichen und daran dachten, fortzugehen. Die entschlossene alte Dame, die, voll Seligkeit spionierend, Böses sah, wo es nicht war, und auch – was bedeutend mehr Scherereien verursachte – wo es war. Die anderen alten Damen, die bloß schaukelten und zusahen und schaukelten und zusahen, bis weniger bewegungsfrohe Menschen verrückt wurden. Der Mann, der vom Portier unmögliche Ferngespräche an seine Adresse verlangte und seine Post haben wollte, noch bevor sie Black Thread erreicht hatte; und sein Vetter, der Mann, der in Bellows Falls oder Augusta oder Tacoma eine überaus wichtige Persönlichkeit war und erwartete, auch hier bekannt zu sein und mit Ehrfurcht behandelt zu werden – und schmeichelhafte Preisermäßigungen zu bekommen. Die Damen in mittleren Jahren, die den ganzen lieben Tag lang unglücklichen Fremden mit fester, ruhiger, gelassener, niemals erschlaffender Stimme von ihren Verwandten erzählten, ganz besonders darüber, was Professor Pibkik – natürlich kennen Sie seinen Namen, Sie wissen ja, was für eine Autorität er ist, also er hat mir gesagt, Mrs. Snodbody, hat er gesagt, meiner Meinung nach, und ich gründe meine Urteile auf eine dreißigjährige Lehrtätigkeit, hat Ihr Sohn einen so außerordentlichen Verstand, wie ich es nur ganz selten beobachtet habe, und ich prophezeie ihm eine ganz außerordentliche – – Eine feste, ruhige, gelassene, unbarmherzige Stimme, und Myron, der sie durch sein offenes Bürofenster hörte, sehnte sich nach einem anständigen Betrunkenenquartett, das ein Lied gröhlte.

Doch das waren bloß die normalen Freuden seines Gewerbes. Bald kamen auch ganz außergewöhnliche Kümmernisse dazu.


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