Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechsunddreißigstes Kapitel

1

Während der ganzen Fahrt dachte sie darüber nach, was für Empfindungen sie bei der Heimkehr haben würde. Sie dachte so viel darüber nach, daß sie alle Empfindungen in sich fand, die sie sich vorgestellt hatte. Sie begeisterte sich bei jeder bekannten Veranda, bei jedem herzlichen »Nanu! Nanu!« und fühlte sich geschmeichelt, für einen Tag die wichtigste Neuigkeit des Ortes zu sein. Sie lief umher, machte Besuche. Juanita Haydock plapperte von ihrer Begegnung in Washington und nahm Carola an ihren Gesellschaftsbusen. Diese alte Widersacherin schien aller Wahrscheinlichkeit nach ihre vertrauteste Freundin zu werden, denn Vida Sherwin stellte sich trotz aller Herzlichkeit in Positur und wartete auf gewichtige Ketzereien.

Am Abend ging Carola zur Mühle. Das geheimnisvolle Om-Om-Om der Dynamos in der Lichtanlage hinter der Mühle klang im Dunkel lauter. Draußen saß der Nachtwächter Champ Perry. Er streckte ihr seine sehnigen Hände entgegen: »Sie haben uns allen schrecklich gefehlt.«

Wem würde sie in Washington fehlen?

Auf wen in Washington konnte man bauen wie auf Guy Pollock? Als sie ihn auf der Straße sah, lächelnd wie immer, schien er etwas Ewiges, ein Teil ihrer selbst zu sein.

Als eine Woche um war, wußte sie, daß es sie weder freute noch betrübte, wieder da zu sein. Sie begann jeden Tag mit der sachlichen Haltung, mit der sie in ihr Amt in Washington gegangen war. Es war ihre Pflicht; es würde mechanische Einzelheiten und leeres Gerede geben; was lag schon daran?

Das einzige Problem, das sie mit einiger Rührung angefaßt hatte, erwies sich als bedeutungslos. Sie hatte sich in der Eisenbahn zu solcher Hingebung durchgearbeitet, daß sie willens war, auf ihr eigenes Zimmer zu verzichten, zu versuchen, ihr ganzes Leben mit Kennicott zu teilen.

Zehn Minuten, nachdem sie ins Haus getreten war, murmelte er: »Hör mal, ich hab' dein Zimmer so gelassen, wie's war. Ich bin dahin gekommen, jetzt ungefähr so wie du zu denken. Ich kann nicht einsehen, warum man sich auf die Nerven gehen soll, bloß weil man sich liebhat. Ich hab's jetzt auch ganz gern, 'n bißchen allein zu sein und mir so alles mögliche durchzukauen.«

2

Sie hatte eine Stadt verlassen, die in den Nächten aufsaß, um von den Umwälzungen in der ganzen Welt zu sprechen; von europäischer Revolution, von Gildensozialismus, von freien Rhythmen. Sie hatte sich eingebildet, die ganze Welt ändere sich.

Sie fand, daß das nicht geschah.

In Gopher Prairie waren die Probleme noch immer genau die, die sie vor zwei Jahren, die sie vor zwanzig Jahren gewesen waren und die sie in den kommenden zwanzig Jahren sein würden. Die Welt war vielleicht ein Vulkan, aber am Fuße des feuerspeienden Berges pflügten gelassen die Landleute. Die einzige Änderung, die ihr auffiel, war das neue Schulhaus mit seinen freundlichen Ziegelmauern und großen Fenstern. Es war das Symbol für Vidas Triumph und regte sie zu Tätigkeit an – irgendwelcher Tätigkeit. Sie ging zu Vida und rief munter: »Ich glaube, ich werde für Sie arbeiten. Und ich will ganz unten anfangen.«

Und das tat sie auch. Jetzt dachte sie nicht mehr an die Häßlichkeit der Hauptstraße, wenn sie in die Lustige Siebzehn plaudern ging.

Sie trug ihre Augengläser jetzt auch auf der Straße. Sie begann Kennicott und Juanita zu fragen, ob sie nicht jung aussähe, viel jünger als dreiunddreißig. Die Augengläser drückten sie. Sie dachte an eine Brille. Dann würde sie aber älter aussehen und hoffnungslos gesetzt. Nein! Noch wollte sie keine Brille tragen. Aber sie probierte eine in Kennicotts Büro. Es war wirklich viel angenehmer.

3

Dr. Westlake, Sam Clark, Nat Hicks und Del Snafflin unterhielten sich in Dels Friseurladen.

»Na, ich seh', jetzt macht Kennicotts Frau sich im Warteraum zu schaffen«, sagte Dr. Westlake. Er betonte das »jetzt«.

Del, der Sam rasierte, unterbrach seine Arbeit, spritzte seinen Pinsel aus und sagte scherzend:

»Was wird sie als nächstes machen? Sie soll ja immer behauptet haben, daß unser Nest hier für ein Stadtmädel wie sie nicht fein genug ist –«

Sam blies sich geärgert den Schaum von den Lippen und brummte: »Es ist schon ganz gut für die meisten von uns groben Klötzen, wenn wir 'ne gescheite Frau dahaben, die uns sagen kann, was wir mit der Stadt machen können. Ich freu' mich, daß sie wieder da ist.«

Dr. Westlake brachte sich eilig in Sicherheit. »Ich auch! Ich auch! Sie hat so 'ne nette Art, und sie versteht auch eine ganze Menge von Büchern – von Romanen wenigstens. Natürlich ist sie wie alle anderen Weiber – keine festen Grundlagen – nichts Gelehrtes – sie hat keine Ahnung von Nationalökonomie – fällt auf jede neue Idee herein, die irgendein phrasendreschender Narr von sich gibt. Aber sie ist eine nette Frau. Und jetzt, wo Frau Kennicott weggewesen ist, sieht sie vielleicht ein, daß man sie bloß auslacht, wenn sie uns erzählen will, wie alles gemacht werden soll.«

»Freilich, sie wird schon selbst auf alles kommen«, sagte Nat Hicks, weise den Mund zusammenkneifend. »Ich persönlich muß sagen, daß sie die hübscheste Frau im ganzen Ort ist. Aber –!« sein Ton elektrisierte die anderen. »Der Schwede, der Valborg, der früher bei mir gearbeitet hat, der wird ihr wohl fehlen! Das war 'n Paar! Von Gedichten und Mondschein haben sie geredet! Wenn sie nur gekonnt hätten, wären sie schon wie Turteltäubchen –«

Sam Clark unterbrach ihn: »Quatsch, die haben nie an Liebeleien gedacht. Sie haben nur von Büchern und dem ganzen Mist geredet. Ich sag' euch, Carrie Kennicott ist 'ne kluge Frau, und die klugen gebildeten Frauen kriegen allemal komische Ideen, aber damit werden sie schon fertig, wenn sie drei oder vier Kinder haben. Klar!«

Nachdem man sich nur fünfzehn Minuten über ihre Strümpfe, ihren Sohn, über die getrennten Schlafzimmer, ihre Musik, ihr altes Interesse für Guy Pollock, ihr vermutliches Gehalt in Washington und über jede Bemerkung unterhalten hatte, die seit ihrer Rückkunft bekannt geworden war, entschied der Oberste Gerichtshof sich dahin, daß man Carola Kennicott gestatten wolle zu leben, und man ging zu Betrachtungen über Nat Hicks' neue Geschichte von dem Reisenden und der alten Jungfer über.

4

Ihr Kind kam im August auf die Welt. Es war ein Mädchen. Carola konnte sich nicht schlüssig werden, ob es eine Frauenführerin werden oder einen Gelehrten heiraten oder beides tun sollte, aber auf jeden Fall entschied sie sich für das Vassar College, für ein Trikotkleid und einen kleinen schwarzen Hut für ihren ersten Jahrgang.

5

»Es wird mir zu viel«, sagte Carola seufzend zu Kennicott. »Ich habe daran gedacht, einen alljährlichen ›Gemeinschaftstag‹ einzurichten, an dem die ganze Stadt ihre Fehden vergessen und sich amüsieren, ein großes Picknick veranstalten und tanzen sollte. Aber Bert Tybee (warum habt ihr denn den zum Bürgermeister gewählt?) hat mir meine Idee gestohlen. Er will den Gemeinschaftstag, aber er will, daß ein Politiker ›eine Ansprache hält‹. Gerade so etwas Geschraubtes wollte ich vermeiden. Er hat Vida gefragt, und die hat natürlich zugestimmt.«

Kennicott dachte darüber nach, während er die Uhr aufzog, und während sie hinaufgingen.

»Ja, es muß dich natürlich ärgern, daß Bert dazwischen kommt«, sagte er liebenswürdig. »Wirst du dich viel mit der Gemeinschaftssache aufregen? Kriegst du's nie satt, dich zu ärgern und rumzuexperimentieren?«

»Ich habe noch gar nicht angefangen. Schau her!« Sie führte ihn an die Tür des Kinderzimmers und zeigte auf den braunen Wuschelkopf ihrer Tochter. »Siehst du das dort auf dem Kissen? Weißt du, was es ist? Das ist eine Bombe, die alle Selbstzufriedenheit in die Luft sprengen soll. Wenn ihr Tories klug wäret, würdet ihr nicht die Anarchisten einsperren; ihr würdet alle diese Kinder einsperren, solange sie noch im Gitterbettchen schlafen. Denk doch nur, was dieses Kind sehen und tun wird, bevor es im Jahr zweitausend stirbt! Sie wird vielleicht eine Industrie-Union der ganzen Welt, vielleicht Flugzeuge sehen, die zum Mars fahren.«

»Ja, so 'ne Veränderungen sind ja sicher ganz gut«, gähnte Kennicott.

Sie saß auf der Kante seines Bettes, während er in seiner Kommode nach einem Kragen jagte, der dort sein mußte und durchaus nicht dort sein wollte.

»Mit mir wird es schon weitergehen. Und ich bin glücklich. Aber dieser Gemeinschaftstag zeigt mir, daß ich ganz geschlagen bin.«

»Der verdammte Kragen ist sicher für immer weg«, brummte Kennicott, dann sagte er lauter: »Ja, du wirst wohl – Ich hab' nicht ganz verstanden, was du gesagt hast, Kind.«

Sie klopfte seine Kissen zurecht, deckte das Bett auf und reflektierte dabei laut:

»Aber in einem hab' ich gesiegt: ich habe nie meine Niederlagen zu entschuldigen gesucht, indem ich mich über meine Bestrebungen lustig gemacht oder so getan habe, als ob ich über sie hinausgewachsen wäre. Ich gebe nicht zu, daß die Hauptstraße so schön ist, wie sie sein sollte! Ich gebe nicht zu, daß Gopher Prairie großartiger oder vornehmer ist als Europa! Ich gebe nicht zu, daß Geschirrwaschen für alle Frauen genug ist! Ich habe vielleicht nicht den guten Kampf gekämpft, aber ich bin meinem Glauben treu geblieben.«

»Freilich. Klar, bist du«, sagte Kennicott. »Na, gute Nacht. Ich hab' so 'ne Ahnung, als ob's morgen schneien würde. Muß dran denken, ziemlich bald die Winterfenster einzusetzen. Sag mal, hast du gesehen, ob das Mädel den Schraubenzieher zurückgelegt hat?«

Ende

 


 << zurück