Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechsundzwanzigstes Kapitel

1

Raymie Wutherspoon schrieb aus Frankreich, er sei an die Front geschickt, leicht verwundet und zum Hauptmann ernannt worden. An Vidas Stolz suchte Carola sich aus ihrer eigenen Depression aufzurichten.

Miles hatte seine Molkerei verkauft. Er besaß einige tausend Dollar. Carola sagte er mit ein paar kurzen gemurmelten Worten und einem festen Händedruck Adieu: »Ich will mir 'ne Farm in Nord-Alberta kaufen – so weit weg von den Menschen, wie nur möglich.« Er wandte sich scharf um, aber er ging nicht mit seiner früheren Elastizität. Seine Schultern sahen alt aus.

Man erzählte sich, vor seinem Gehen hätte er die Stadt verflucht. Es war die Rede davon, ihn zu verhaften, ihn »auf einem Brett zu tragen«. Es ging das Gerücht, auf dem Bahnhof habe der alte Champ Perry sich ihn vorgenommen. »Kommen Sie lieber nicht hierher zurück. Wir haben Achtung vor Ihren Toten, aber wir haben gar keine Achtung vor einem Lästerer und Verräter, der nichts für sein Vaterland tun will und nur eine einzige Freiheitsanleihe gekauft hat.«

Einige von denen, die auf dem Bahnhof gewesen waren, erklärten, Miles habe eine fürchterlich revolutionäre Antwort gegeben: so etwas, wie daß er deutsche Arbeiter mehr liebe als amerikanische Bankiers; andere aber versicherten, er hätte nicht ein Wort der Erwiderung für den alten Veteranen gefunden; er hätte sich ganz einfach in den Zug geschlichen. Er müsse ein Schuldgefühl gehabt haben, sagten übereinstimmend alle, denn als der Zug ausfuhr, sah ein Farmer ihn im Wagenkorridor stehen und hinausblicken.

Sein Haus – mit dem Anbau, den er vor vier Monaten errichtet hatte – stand ganz nahe am Eisenbahndamm.

Als Carola das letztemal hinkam, sah sie Olafs Wägelchen mit seinen Rädern aus roten Spulen in der sonnigen Ecke neben dem Stall stehen. Sie mußte darüber nachdenken, ob ein rasches Auge es von einem Zug aus erblicken könnte.

An diesem Tag und in der ganzen nächsten Woche ging sie widerwillig an ihre Rote-Kreuz-Arbeit; sie heftete und packte schweigend, während Vida die Kriegsberichte vorlas. Sie sagte auch nichts, als Kennicott die Bemerkung machte: »Nach dem, was Champ sagt, scheint Bjornstam doch ein schlechter Kerl gewesen zu sein. Trotz Bea, ich weiß nicht, ob das Bürgerkomitee ihn nicht hätte dazu zwingen sollen, patriotisch zu sein – 's sieht so aus, als hätt' man ihn ins Kittchen stecken können, weil er von der Freiheitsanleihe und von der Young Men's Christian Association nichts wissen wollte. Bei all den deutschen Farmern hat das wunderschön gewirkt.«

2

Bei Frau Westlake fand sie zuverlässige Freundlichkeit, und schließlich ließ sie sich gehen und erleichterte sich, indem sie ihr schluchzend die Geschichte von Bea erzählte.

Auf der Straße traf sie oft Guy Pollock, aber er war nichts weiter als eine angenehme Stimme, die etwas von Charles Lamb und von Sonnenuntergängen redete.

Ihr stärkstes Erlebnis war die Entdeckung Frau Flickerboughs, der großen, mageren, nervösen Frau des Anwalts. Carola traf sie in der Drogerie.

»Zu Fuß?« fragte Frau Flickerbough barsch.

»Wieso, ja.«

»Hm. Sie werden wohl die einzige Frau in der Stadt sein, die noch ihre Füße gebraucht. Kommen Sie mit, trinken Sie 'ne Tasse Tee bei mir.«

Carola ging mit, weil sie nichts anderes zu tun hatte. Aber sie fühlte sich unbehaglich unter den belustigten Blicken, die Frau Flickerboughs Kostüm auf sich zog. Heute, an einem glutheißen Augusttag, trug sie eine Männermütze, einen abgeschabten Pelz, der aussah wie eine tote Katze, ein falsches Perlenhalsband, eine zerlumpte Satinbluse und einen schweren Tuchrock, der vorne schleppte.

»Kommen Sie rein. Nehmen Sie Platz. Setzen Sie das Kind in den Schaukelstuhl dort. Hoffentlich macht's Ihnen nichts, daß das Haus aussieht wie 'n Rattennest. Sie können den Ort nicht leiden. Ich auch nicht«, sagte Frau Flickerbough.

»Wieso –«

»Natürlich können Sie ihn nicht leiden!«

»Na also, nein! Aber ich bin überzeugt, daß ich einmal eine Lösung dafür finden werde. Wahrscheinlich bin ich ein sechseckiger Zapfen. Lösung: das sechseckige Loch finden.« Carola war sehr munter.

»Woher wissen Sie, daß Sie überhaupt eines finden werden?«

»Nehmen Sie Frau Westlake. Das ist natürlich eine Großstadtdame – sie müßte ein hübsches altes Haus in Philadelphia oder Boston haben – aber sie rettet sich ins Lesen.«

»Würde es Sie befriedigen, nie etwas anderes zu tun, als zu lesen?«

»Nein, aber – Himmel, man kann doch nicht ununterbrochen eine Stadt hassen!«

»Warum nicht? Ich kann's! Ich hasse sie seit zweiunddreißig Jahren. Ich werde hier sterben, und ich werde sie hassen – bis ich sterbe. Ich hätt' Geschäftsfrau werden müssen. Ich hab' einen ziemlich ausgeprägten Zahlensinn gehabt. Alles vorbei jetzt. Manche Leute glauben, ich bin verrückt. Bin ich wohl auch. Ich sitz' da und brumm'. Geh' in die Kirche und sing' Hymnen. Die Leute glauben, ich bin fromm. Unsinn! Ich will nur das Waschen und Bügeln und Sockenstopfen vergessen. Ich brauch' meinen eigenen Laden und müßte Sachen verkaufen. Julius hat nie was davon wissen wollen. Zu spät.«

Carola saß auf dem alten Sofa und versank in Furcht. Konnte diese Öde des Lebens also ewig dauern? Würde sie einmal sich selbst und ihre Nachbarn so verachten, daß auch sie als altes, mageres, exzentrisches Weib in einem schäbigen Katzenpelz durch die Hauptstraße gehen würde? Während sie sich nach Hause schlich, fühlte sie, daß die Falle endgültig zugeklappt war. Sie ging ins Haus, eine kleine zarte Frau, noch hübsch, aber schon Hoffnungslosigkeit im Blick, während sie unter dem Gewicht des schläfrigen Kindes in ihrem Arm taumelte.

Am Abend dieses Tages saß sie allein auf der Veranda. Kennicott hatte anscheinend eine ärztliche Visite bei Frau Dave Dyer machen müssen.

Unter den stillen Zweigen und dem schwarzen Schleier der Dunkelheit war die Straße in Schweigen gehüllt. Nur einige Straßengeräusche, das rhythmische Zirpen der Grillen, das Surren der Mücken – Laute, die das Schweigen vertieften. Es war eine Straße hinter dem Ende der Welt, hinter den Grenzen der Hoffnung. Und wenn sie auch in alle Ewigkeit hiersitzen würde, nichts Tapferes, kein wirklicher Mensch würde vorüberkommen. Es war greifbar gewordene Langeweile, eine aus Verschlafenheit und Nutzlosigkeit gebaute Straße.

Myrtle Cass tauchte mit Cy Bogart auf. Sie kicherte und schrie, als Cy sie am Ohr kitzelte. Sie schlenderten im halbtanzenden Schritt Liebender, sie warfen die Beine oder machten einen langsamen Tanzschritt, und der feste Weg erklang in gebrochenem Zweivierteltakt. In ihren Stimmen war verschleierte Verwirrung. Plötzlich wurde für die Frau, die auf der Veranda des Doktorhauses schaukelte, die Nacht lebendig, und sie fühlte, daß überall im Dunkel ein glühendes Begehren keuchte, das sie sich entgehen ließ, als sie zurücksank, um zu warten, auf – Es mußte etwas sein.


 << zurück weiter >>