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Neuntes Kapitel

1

Im Haus spukte es schon lange vor dem Abend. Schatten glitten die Wände herab und warteten hinter jedem Stuhl.

Bewegte sich die Tür?

Nein. Sie würde nicht zur Lustigen Siebzehn gehen. Sie hatte nicht Kraft genug, vor ihnen Männchen zu machen, freundlich zu Juanitas Ungezogenheit zu lächeln. Heute nicht. Aber sie mußte Gesellschaft haben. Jetzt! Wenn heute nachmittag nur jemand käme, jemand, der sie gern hatte – Vida oder Frau Sam Clark oder die alte Frau Champ Perry oder die freundliche Frau Dr. Westlake. Oder Guy Pollock! Sie würde anrufen –

Nein. Das wäre nicht das richtige. Sie mußten von selbst kommen.

Vielleicht würden sie kommen.

Warum nicht?

Sie würde auf jeden Fall Tee bereit haben. Kamen sie – ausgezeichnet. Wenn nicht – was lag ihr daran? Sie wollte nicht der Stadt nachgeben, keine Konzessionen machen. Sie wollte am Tee festhalten, der für sie immer das Symbol eines behaglich noblen Daseins gewesen war. Und es würde genau so nett sein, auch wenn es kindisch war, allein Tee zu trinken und so zu tun, als hätte sie kluge Menschen bei sich. Jawohl!

Sie setzte den glänzenden Gedanken in die Tat um. Sie eilte in die Küche, machte ein Holzfeuer, sang Schumann, während sie das Wasser im Kessel kochen ließ, wärmte Rosinenbackwerk auf dem mit einer Zeitung bedeckten Bratrost im Herd auf. Sie sprang hinauf, um ihr feinstes Teetuch herunterzuholen. Sie richtete ein Silbertablett her. Stolz trug sie es in das Wohnzimmer und stellte es auf den langen Kirschholztisch, schob einen Stickrahmen zur Seite, einen Band Conrad aus der Bibliothek, Nummern der »Saturday Evening Post«, des »Literary Digest« und Kennicotts »National Geographical Magazine«.

Sie rückte das Tablett vor und zurück und betrachtete die Wirkung. Sie schüttelte den Kopf. Sie klappte eifrig den Nähtisch auf, stellte ihn ans Fenster in den Erker, strich das Teetuch glatt, trug das Tablett hin. »Ich werd' schon einmal einen Teetisch aus Mahagoni haben«, sagte sie zufrieden.

Sie hatte zwei Tassen und zwei Teller hereingebracht. Für sich einen geraden Stuhl, für den Gast aber den großen Ohrenstuhl, den sie keuchend zum Tisch schleppte.

Sie war mit allen Vorbereitungen fertig, an die sie denken konnte. Sie setzte sich und wartete. Sie lauschte auf die Türklingel, auf das Telephon. Ihr Eifer war vorbei. Ihre Hände sanken herab.

Ganz bestimmt würde Vida Sherwin den Ruf hören.

Sie blickte das zweite Gedeck an. Sie blickte den Ohrenstuhl an. Er war so leer.

Der Tee in der Kanne war kalt. Verdrossen probierte sie es mit den Fingerspitzen. Ja. Ganz kalt. Sie konnte nicht länger warten.

Die zweite Tasse war eiskalt sauber, glitzernd leer.

Einfach lächerlich, zu warten. Sie schenkte sich eine Tasse Tee ein. Sie saß da und starrte sie an. Was hatte sie denn nur jetzt tun wollen? Ach ja; idiotisch; ein Stück Zucker nehmen.

Sie wollte den ekelhaften Tee nicht.

Sie sprang auf. Sie lag auf dem Ruhebett und schluchzte.

Das Abendessen war der Schmaus zweier Mädchen. Carola saß in einem schwarzen Satinkleid mit Goldeinfassung im Speisezimmer, und Bea, in blauem Kattun und Schürze, aß in der Küche. Aber die Tür war offen, Carola fragte: »Haben Sie heute bei Dahl im Fenster Enten gesehen?« und Bea sang zurück: »Nein, Ma'am. Hören Sie, wir haben uns heute nachmittag fein amüsiert. Tina hat Kaffee und Knäckebröd gehabt und ihr Schatz war da, und wir haben immer nur gelacht und gelacht, und ihr Schatz hat gesagt, er ist Präsident, und er wird mich zur Königin von Finnland machen, und ich hab' mir 'ne Feder ins Haar gesteckt und gesagt, ich bin in den Krieg gegangen – oh, wir waren so dumm und haben so gelacht!«

Als Carola wieder am Klavier saß, dachte sie nicht an ihren Mann, sondern an den in Büchern vergrabenen Eremiten Guy Pollock.

»Wenn ihn ein Mädchen wirklich küßte, würde er aus seinem Loch herauskriechen und ein Mensch werden. Wenn Will so literarisch wäre wie Guy, oder Guy so energisch wie Will, dann, glaub' ich, könnte ich's sogar in Gopher Prairie aushalten.

Es ist so schwer, Will zu bemuttern. Mit Guy könnt' ich mütterlich sein. Fehlt mir das, etwas zum Bemuttern, ein Mann oder ein Kind oder eine Stadt? Ich will ein Kind haben. Einmal. Aber wenn es dann gerade in den eindrucksvollsten Jahren hier eingesperrt sein muß –«

Und so ins Bett.

»Ist Bea und der Küchenklatsch wirklich das richtige für mich?

Oh, du fehlst mir, Will. Aber es wird angenehm sein, wenn ich mich im Bett umdrehen kann, so oft ich will, ohne Angst zu haben, daß ich dich aufwecken werde.

Bin ich wirklich das, was man eine ›verheiratete Frau‹ nennt? Ich komme mir heute abend so unverheiratet vor, so frei. Zu denken, daß es einmal eine Frau Kennicott gegeben hat, die sich von einer Stadt namens Gopher Prairie hat ärgern lassen, wo doch eine ganze Welt draußen war!

Natürlich wird Will auch gern Gedichte lesen.«

2

Der zweite Tag von Kennicotts Abwesenheit.

Sie floh aus dem gruseligen Haus und machte einen Spaziergang. Es waren dreißig Grad unter Null, viel zu kalt, um sie fröhlich zu stimmen. An den offenen Stellen zwischen den Häusern packte sie der Wind. Er stach, er biß in Nase, Ohren und schmerzende Wangen, und sie eilte von einer schützenden Stelle zur anderen, kam von einer Scheune gedeckt wieder zu Atem, war dankbar für den Schutz eines Anschlagbrettes, das mit zerfetzten Plakaten bedeckt war.

Das Eichengehölz am Ende der Straße erweckte Gedanken an Indianer, Jagden und Schneeschuhe, und sie eilte weiter, ins offene Land hinaus zu einer Farm und einem niedrigen Hügel, auf dem sich harter Schnee wellte. In ihrem weiten Nutriamantel, mit dem Sealbarett, mit den mädchenhaften Wangen, paßte sie auf diesen unfreundlichen Hügel wie ein prächtiger bunter Vogel auf ein Eisfeld. Ihr Herz zitterte in dieser stillen Einsamkeit, wie ihr Leib im Wind zitterte.

Sie lief zurück in den Ort und wollte sich den ganzen Weg nicht eingestehen, daß sie sich nach dem gelben Licht städtischer Schaufenster und Restaurants sehnte, oder nach den primitiven Wäldern mit seinen Pelzkapuzen und Flinten, oder nach einem warmen, dunstigen Scheunenhof, in dem Geflügel und Vieh lärmte, aber bestimmt nicht nach diesen düsteren Häusern, nach diesen Straßen mit schmutzigem Schnee und Klumpen gefrorenen Kotes. Das Schöne des Winters war vorbei. Drei Monate noch bis zum Mai konnte die Kälte bleiben, konnte der Schnee immer schmutziger, der geschwächte Körper weniger widerstandskräftig werden. Sie wunderte sich darüber, daß die guten Bürger sich nicht davon abbringen ließen, es durch ihre Vorurteile noch kälter zu machen, daß sie nicht die Häuser ihrer Seelen wärmer und leichter machten, wie die klugen Plauderer in Stockholm und Moskau.

Sie umging den Rand der Ortschaft und sah die Kneipe, die »Schwedenloch« hieß. Überall, wo mehr als drei Häuser beisammen stehen, gibt es in mindestens einem Haus eine Kneipe. In Gopher Prairie prahlten die Sam Clarks: »Hier gibt's nichts von der Armut, die man in den Städten findet, immer viel Arbeit – Armenpflege ist gar nicht notwendig – ein Kerl muß schon verdammt ungeschickt sein, wenn er nicht vorwärts kommt«. Aber jetzt, da die sommerliche Laub- und Grasmaske weg war, entdeckte Carola Elend und tote Hoffnungen. In einer armseligen mit Dachpappe gedeckten Bretterbude sah sie die Wäscherin, Frau Steinhof, in grauem Dampf arbeiten. Draußen hackte ihr sechsjähriger Junge Holz. Er hatte eine zerrissene Jacke an, und ein Halstuch, das blau war wie abgerahmte Milch. Seine Hände staken in roten Fäustlingen, aus denen die aufgesprungenen rauhen Knöchel hervorschauten. Er machte Pausen im Hacken, um sich auf die Hände zu blasen, um gleichgültig zu weinen.

Eine vor kurzem angekommene finnische Familie hauste in einem verlassenen Stall. Ein achtzigjähriger Mann sammelte auf der Straße Kohlen auf.

Sie wollte durch das Kneipenviertel nach Hause gehen. Vor einer Dachpappbude, an einem türlosen Eingang, stand ein Mann in derbem braunen Hundefellmantel und schwarzer Mütze mit Ohrenklappen, der sie beobachtete. Sein viereckiges Gesicht sah selbstsicher aus, sein fuchsroter Schnurrbart gab ihm etwas Räuberhaftes. Er stand aufrecht da, die Hände in den Manteltaschen, und zog langsam an seiner Pfeife. Er war wohl fünf- oder sechsundvierzig Jahre alt.

»Tag, Frau Kennicott«, sagte er langsam.

Sie erinnerte sich seiner – das Stadtfaktotum, das zu Anfang des Winters ihren Ofen in Ordnung gebracht hatte.

»Oh, guten Tag«, rief sie unsicher.

»Ich heiße Bjornstam. ›Den roten Schweden‹ nennen mich die Leute. Erinnern Sie sich noch? Ich hab' immer schon gedacht, ich möcht' Ihnen mal wieder Guten Tag sagen.«

»Ja – ja – ich habe mir ein bißchen die äußeren Stadtteile angesehen.«

»Ja. Schöne Schweinerei. Keine Kanalisierung, keine Straßenreinigung, und der Lutheranergeistliche und der Pfaff vertreten Künste und Wissenschaften. Na, Donnerwetter, wir elendes Zehntel hier draußen im Schwedenloch sind doch auch nicht schlechter als ihr. Gott sei Dank, wir brauchen uns nicht hinzustellen und in der Lustigen Siebzehn vor Juanita Haydock zu katzbuckeln.«

Die Carola, die meinte, daß sie sich überall anpassen könnte, empfand es unangenehm, daß ein nach Pfeifenrauch stinkender Tagelöhner sie zu seiner Kameradin machte. Wahrscheinlich war er ein Patient ihres Mannes, aber sie mußte ihre Würde wahren.

»Ja, auch in der Lustigen Siebzehn ist es nicht immer amüsant. Heute ist's wieder sehr kalt, nicht? Also –«

Bjornstam verabschiedete sich nicht respektvoll. Er traf keine Vorbereitungen dazu, an der Stirnlocke zu zupfen. Seine Augenbrauen bewegten sich, als hätten sie ein eigenes Leben. Mit einem leichten Grinsen fuhr er fort:

»Vielleicht hätt' ich über Frau Haydock und ihre feierliche Siebzehn nicht so frech reden sollen. Ich glaub', es wär' ein Heidenspaß für mich, wenn man mich einladen würde, mal zu der Bande zu gehen. Ich bin wohl das, was die 'nen Paria nennen. Ich bin der schwarze Mann von der Stadt, Frau Kennicott. Der Stadtatheist, und wahrscheinlich muß ich auch Anarchist sein. Jeder, der die Bankiers und die Große Alte Republikanische Partei nicht liebt, ist ein Anarchist.«

Carola war, ohne es zu merken, aus ihrer Abschiedshaltung in eine lauschende Haltung gerutscht, sie hatte ihm ihr Gesicht ganz zugewandt, den Muff gesenkt. Sie stammelte:

»Ja, das wird schon so sein.« Ihr eigener Groll machte sich Luft. »Ich seh' nicht ein, warum Sie die Lustige Siebzehn nicht kritisieren sollen, wenn Sie Lust dazu haben. Die sind auch nicht heilig.«

»O ja, das sind sie! Das Dollarzeichen hat das Kruzifix von überall verdrängt. Aber übrigens, mir hat keiner was gesagt. Ich tu', was ich will, und da sollt' ich wohl die anderen auch tun lassen, was sie wollen.«

»Was meinen Sie damit, Sie sind ein Paria?«

»Ich bin arm und beneide die Reichen doch nicht, wie sich's gehört. Ich bin ein alter Junggeselle. Ich verdien' genug Geld, um mich satt zu essen, na, und dann sitz' ich bei mir und drück' mir die Hand und rauch' ein bißchen und lese Geschichte, und ich trag' auch nichts zum Reichtum von Bruder Elder oder Papa Cass bei.«

»Sie – Sie lesen wohl ziemlich viel.«

»Ja. Was mir grad' in die Hände kommt. Wissen Sie, ich bin ein einsamer Wolf. Ich handle mit Pferden und säge Holz und arbeit' im Holzfällerlager – ich bin ein erstklassiger Wegebauer. Ich hab' mir immer gewünscht, ich könnt' ins College gehen. Aber ich würd's wohl recht langweilig finden und wahrscheinlich auch rausgeschmissen werden.«

»Sie sind wirklich ein merkwürdiger Mensch, Herr –«

»Bjornstam. Miles Bjornstam. Halb Yankee und halb Schwede. Gewöhnlich bekannt als »die verdammte faule, großmäulige Unke, die nicht zufrieden damit ist, wie wir alles machen«. Nein, ich bin nicht merkwürdig – was Sie auch damit gemeint haben! Ich bin bloß ein Bücherwurm. Wahrscheinlich les' ich mehr, als ich verdauen kann.«

Sie fragte:

»Sie sagen, die Lustige Siebzehn ist blöd. Warum meinen Sie das?«

»Ach, Sie können sich drauf verlassen, daß wir, die die Grundlagen der wohlhabenden Klassen untergraben, Bescheid wissen. Tatsache, Frau Kennicott, ich will Ihnen sagen, soviel ich sehen kann, sind in dieser Männerstadt die einzigen Leute, die überhaupt Verstand haben – ich meine keinen Kladdenverstand oder Entenjagdverstand oder Verstand zum Kinderverhauen, sondern wirklichen Denkverstand – die einzigen sind Sie und ich und Guy Pollock und der Vorarbeiter in der Mühle. Der ist Sozialist, der Vorarbeiter. Erzählen Sie das aber nicht Lym Cass! Lym würde 'nen Sozialisten schneller an die Luft setzen als 'nen Pferdedieb!«

»Nein, nein, ich werde ihm bestimmt nichts erzählen.«

»Der Vorarbeiter und ich streiten uns mächtig rum. Er ist 'n richtiges Parteimitglied von der alten Schule. Zu dogmatisch. Er glaubt immer, er kann alles vom Ausforsten bis zum Nasenbluten reformieren, wenn er Phrasen wie »Mehrwert der Arbeit« daherredet. Ist genau so, wie wenn er aus 'm Gebetbuch vorlesen würde. Aber trotzdem, er ist ein Plato J. Aristoteles im Vergleich zu Leuten wie Ezra Stowbody oder Professor Mott oder Julius Flickerbaugh.«

»Das ist sehr interessant, was Sie von ihm erzählen.«

Er bohrte mit dem Fuß in einem Schneehaufen herum wie ein Schuljunge. »Quatsch. Sie meinen, ich red' zuviel. Na ja, das tu' ich auch, wenn ich jemand wie Sie in die Finger krieg'. Sie wollen wahrscheinlich weiterlaufen und schauen, daß Ihnen die Nase nicht erfriert.«

»Ja, ich muß wohl gehen. Aber sagen Sie: warum haben Sie Fräulein Sherwin von der Hochschule in Ihrer Liste der Stadtintelligenz nicht genannt?«

»Ich glaub', sie gehört eigentlich nicht dazu. Nach allem, was ich hör', ist sie überall dabei und überall hinterher, wo's nach Reform aussieht, viel mehr als die Leute glauben. Sie läßt Frau Reverend Warren, die Vorsitzende von dem Thanatopsisklub, glauben, daß sie alles leitet, aber der heimliche Boss ist Fräulein Sherwin, und sie plagt alle bequemen Damen, bis sie was tun. Aber so wie ich mir die Sache vorstell' – wissen Sie, ich halt' nichts von den feinen Reformen. Fräulein Sherwin will die Löcher in dem verfaulten Schiff von Stadt reparieren, indem sie recht fleißig Wasser ausschöpft, und Pollock will sie reparieren, indem er der Masse Gedichte vorliest! Ich, ich möcht' es aufs Dock raufbringen und den armseligen Trottel von Schuster rausschmeißen, der's so gebaut hat, daß es besoffene Fahrt macht, und dann möcht' ich's, richtig vom Kiel auf, neu bauen lassen.«

»Ja – das – das wäre besser. Aber ich muß nach Haus laufen. Meine arme Nase ist fast ganz erfroren.«

»Hören Sie, kommen Sie doch lieber rein, sich wärmen, und sehen Sie sich an, wie 'ne alte Junggesellenbude aussieht.«

Sie warf zweifelnde Blicke auf ihn, auf die niedrige Hütte und den Hof, in dem Brennholz, verfaulte Bohlen und ein reifenloser Waschzuber herumlagen. Sie war etwas unruhig, aber Bjornstam gab ihr keine Gelegenheit, lange zu wählen … Er streckte den Arm mit einer willkommenheißenden Bewegung aus, die versicherte, daß sie ihre eigene Herrin, daß sie nicht eine wohlanständige Ehefrau, sondern ein ganzes Menschenwesen sei. Mit einem unsicheren: »Also, nur auf einen Augenblick, um mir die Nase zu wärmen«, blickte sie die Straße entlang, um sich davon zu überzeugen, daß sie nicht beobachtet wurde, und ging rasch in die Hütte.

Sie blieb eine Stunde; sie hatte noch keinen rücksichtsvolleren Gastgeber kennengelernt als den »Roten Schweden«.

Er hatte nur einen Raum: kahler Tannenfußboden, eine kleine Werkbank, eine Schlafnische mit einem erstaunlich nett gehaltenen Bett, eine Bratpfanne und ein Kaffeetopf auf einem Regal hinter dem dickbäuchigen Kanonenofen, Hinterwäldlerstühle – der eine war aus einem halben Faß zurechtgebaut, der andere aus einer alten Bohle – und eine Reihe unglaublich zusammengestellter Bücher: Byron und Tennyson und Stevenson, ein Handbuch für Gasmaschinen, ein Buch von Thorstein Vehlen und ein abgegriffener Band, »Pflege, Fütterung, Krankheiten und Aufzucht von Geflügel und Vieh«.

Nur ein Bild war da – eine kolorierte Tafel aus einem Magazin mit einem Dörfchen steilgiebliger Häuser im Harz, dessen Anblick an Kobolde und goldblonde Jungfrauen denken ließ.

Bjornstam machte keine Umstände mit ihr. Er schlug vor: »Sie können sich den Mantel aufmachen und die Füße auf die Kiste vor dem Ofen legen.« Er schleuderte seinen Hundefellmantel in die Nische, hockte sich auf den Faßstuhl und näselte:

»Ja, wahrscheinlich bin ich ein ganz verkommenes Subjekt, aber, weiß Gott, ich bewahr' mir meine Unabhängigkeit durch meine Taglöhnerarbeit, und das ist mehr, als so geschliffene Bengel wie Bankangestellte zuwege bringen. Wenn ich mit irgend 'nem Affen grob bin, so kommt das vielleicht zum Teil daher, daß ich's nicht besser versteh' (und der Himmel weiß, daß ich nicht sehr viel davon versteh', wie man mit feinem Besteck umgeht und was für Hosen man zu 'nem Cutaway trägt), aber meistens geschieht's, weil ich damit was sagen will. Ich bin so ziemlich der einzige Mensch in der Johnson-Provinz, der den Köder in der Unabhängigkeitserklärung erkennt, daß Amerikaner angeblich das Recht haben auf ›Leben, Freiheit und Streben nach dem Glück‹.

Einmal treff ich den alten Ezra Stowbody auf der Straße. Er sieht mich an, so als ob er mich dran erinnern möchte, daß er ein großmächtiges Tier und zweihunderttausend Dollar wert ist, und sagt: ›Äh, Bjornquist –‹

›Ich heiß' Bjornstam, Ezra‹, sag' ich. Er weiß recht gut, wie ich heiße.

›Na, wie Sie auch heißen,‹ sagt er, ›ich hab' gehört, daß Sie eine Gasolinsäge haben. Sie sollen mal zu mir rüberkommen und mir vier Klafter Ahorn sägen‹, sagt er.

›Also mein Gesicht gefällt Ihnen‹, sag' ich, 'n bißchen unschuldig.

›Darauf kommt's doch nicht an. Sägen Sie mir das Holz noch vor Sonnabend‹, sagt er, richtig scharf. 'n gewöhnlicher Arbeiter stellt sich her und wird mit 'ner Fünftelmillion Dollar, die in einem alten Pelzmantel rumgeht, frech!

›Ja, darauf kommt's aber an‹, sag' ich, nur um ihn zu piesacken. ›Woher wissen Sie denn, ob mir Ihr Gesicht gefällt?‹ Na, der hat vielleicht wild ausgesehen. ›Ne, ne, wenn ich mir's recht überleg', paßt mir Ihr Kreditgesuch nicht. Gehen Sie damit zu 'ner anderen Bank. Bloß gibt's keine‹, sag' ich und laß ihn stehen.

Freilich. Wahrscheinlich war's ekelhaft und dumm. Aber ich hab' mir gedacht, es soll doch wenigstens einen Mann in der Stadt geben, der unabhängig genug ist, den Bankier aufzuziehen!«

Er kroch aus seinem Stuhl heraus, kochte Kaffee, gab Carola eine Tasse und sprach weiter, in halb trotzigem und halb entschuldigendem Ton, teils voll Sehnsucht nach Freundlichkeit, und teils belustigt von ihrer Überraschung, daß sie da einen Proletarierphilosophen entdeckt hatte. An der Tür fragte sie noch: »Herr Bjornstam, wenn Sie an meiner Stelle wären, würden Sie sich drüber ärgern, daß die Leute Sie für affektiert halten?«

»Was? 'nen Tritt ins Gesicht! Hören Sie, wenn ich 'ne Möwe wär', und ganz aus Silber, glauben Sie, ich würd' mich drum scheren, was 'n Haufen dreckiger Seehunde über mein Fliegen denkt?«

Nicht der Wind in ihrem Rücken, die Kraft von Bjornstams Verachtung war es, die sie durch die Stadt trug. Sie sah Juanita Haydock ins Gesicht, warf bei Maud Dyers kurz genicktem Gruß den Kopf zurück und kam strahlend zu Bea nach Hause. Sie rief Vida Sherwin an und bat sie, »heute abend zu ihr zu schauen«. In glänzender Laune spielte sie Tschaikowsky – die machtvollen Akkorde waren ein Echo des roten lachenden Philosophen in der Dachpapphütte.

(Als sie Vida nebenbei fragte: »Ist nicht ein Mann hier, der sich damit amüsiert, den Stadtgöttern keine Ehrfurcht zu bezeugen, Bjornstam, oder so irgendwie heißt er?« erwiderte die Reformführerin: »Bjornstam? Ach ja. Der repariert alles mögliche. Das ist ein schrecklich impertinenter Kerl.«)

Um Mitternacht kam Kennicott zurück. Am nächsten Morgen sagte er beim Frühstück viermal, daß sie ihm alle Augenblicke gefehlt hätte.


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