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Vierunddreißigstes Kapitel

1

Kennicott hatte nicht die übermenschliche Geduld, immer wieder Carolas Ketzereien verzeihen zu können, sie zu umwerben wie während des kalifornischen Abenteuers. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber sie verriet sich, als es ihr mißlang, über die Propaganda in Entzücken zu geraten. Kennicott glaubte daran; er verlangte, daß sie sich patriotisch über den Weißen Weg ausspreche. Er schnauzte: »Weiß Gott, ich hab' alles getan, was ich konnte, und jetzt erwart' ich, daß du das deine tust. Jahrelang hast du dich darüber beklagt, daß wir so stumpf sind, und jetzt, wo Blausser herkommt und anfeuert und die Stadt verschönert, wie du immer wolltest, daß jemand es tut, also, jetzt sagst du, er ist 'n grober Klotz, und willst nicht mit dem Musikwagen fahren. Wenn du schon kein Interesse hast, dann könntest du dir wenigstens die Mühe machen, so zu tun.«

Im Frühherbst kam aus Wakamin die Nachricht, daß der Sheriff einem Organisator der Nationalliga der Parteilosen untersagt habe, in seiner Provinz zu sprechen. Der Organisator hatte dem Sheriff Trotz geboten und verkündet, daß er in einigen Tagen bei einem politischen Farmermeeting eine Rede halten werde. In dieser Nacht, so wurde berichtet, hatte ein Haufen von hundert Geschäftsleuten unter der Anführung des Sheriffs den Organisator in seinem Hotel ausgehoben, ihn »auf einem Brett getragen«, in einen Güterzug gesteckt und ihn davor gewarnt, wiederzukommen.

Die Geschichte wurde in Dave Dyers Apotheke durchgehechelt, es waren Sam Clark, Kennicott und Carola da.

»So muß man die Kerle behandeln – nur hätten sie ihn lynchen sollen!« erklärte Sam, und Kennicott und Dave Dyer bekräftigten es mit einem stolzen »Na klar!«

Carola entfernte sich hastig, was Kennicott nicht entging.

Während des ganzen Abendessens wußte sie, daß es in ihm kochte und bald überlaufen würde. Als das Kind im Bett war und sie bequem in Liegestühlen auf der Veranda saßen, meinte er: »Ich hab' schon gemerkt, daß du gemeint hast, Sam ist 'n bißchen roh gewesen bei der Geschichte mit dem Kerl, den sie aus Wakamin hinausgeschmissen haben.«

»War Sam nicht etwas überflüssigerweise heroisch?«

»Alle diese Organisatoren, ja, und eine Menge von den deutschen und den dickschädligen Farmern selber auch, die sind umstürzlerisch wie der Teufel – verräterische, unpatriotische, prodeutsche Pazifisten, das sind sie!«

»Hat dieser Organisator etwas Prodeutsches gesagt?«

»Gar keine Spur! Dazu hat man ihm keine Zeit gelassen!« Sein Lachen klang theatralisch.

»Dann war also der ganze Vorgang ungesetzlich – und vom Sheriff angeführt! Ja, wie wollt ihr denn, daß diese Fremden eure Gesetze befolgen, wenn der Gesetzesbeamte selbst sie lehrt, sie zu brechen? Ist das eine neue Logik?«

»Vielleicht war's nicht ganz in der Ordnung, aber was liegt denn da schon dran? Die Leute haben gewußt, daß der Kerl probieren wird, aufzuwiegeln. Sobald sich's darum handelt, den Amerikanismus und unsere verfassungsmäßigen Rechte zu verteidigen, ist es gerechtfertigt, jede ordnungsmäßige Prozedur beiseitezusetzen.«

»Du bist gegen den Organisator, nicht weil du ihn für umstürzlerisch hältst, sondern weil du Angst davor hast, daß die Farmer, die er organisiert, euch Städtern das Geld wegnehmen, das ihr mit Hypotheken, mit Weizen und mit Fabriken verdient. Natürlich, seitdem wir Krieg mit Deutschland haben, ist alles, was einer unter uns nicht mag, ›prodeutsch‹, ob's nun geschäftliche Konkurrenz oder schlechte Musik ist. Wenn wir mit England kämpften, würdet ihr die Radikalen ›proenglisch‹ nennen. Und sobald der Krieg vorüber ist, werdet ihr sie wahrscheinlich ›rote Anarchisten‹ nennen.«

So weit kam sie nur, weil Kennicott einige Zeit brauchte, um sich von seinem Respekt vor ihr zu befreien. Jetzt belferte er:

»Das ist aber genug! Ich hab' mir's gefallen lassen, wie du dich über die Stadt lustig gemacht und gesagt hast, daß sie so häßlich und stumpfsinnig ist. Ich hab' mir's gefallen lassen, daß du gute Kerle wie Sam nicht anerkennen wolltest. Ich hab' mir sogar gefallen lassen, daß du unsere Campaign ›Aufgepaßt, Gopher Prairie macht sich!‹ lächerlich gemacht hast. Aber eines werde ich mir nicht gefallen lassen: ich werd' mir nicht gefallen lassen, daß meine eigene Frau umstürzlerisch wird. Du kannst alles in schöne Worte einwickeln, aber du weißt verdammt gut, daß diese Radikalen, wie du sie nennst, gegen den Krieg sind, und jetzt, hier auf der Stelle, muß ich dir sagen, du und alle die Männer mit langen, und Weiber mit kurzen Haaren, ihr könnt quatschen, so viel ihr wollt, aber wir werden die Burschen in die Hand nehmen, und wenn sie nicht patriotisch sind, werden wir sie dazu bringen, patriotisch zu sein. Und – der Himmel weiß, daß ich mir nie hätt' träumen lassen, daß ich das meiner eigenen Frau sagen muß – aber wenn du diese Menschen verteidigst, dann gilt dasselbe auch für dich! Nächstens wirst du wahrscheinlich irgendwas von Redefreiheit quatschen. Redefreiheit! 's gibt vielzuviel Redefreiheit und Freibier und Freie Liebe und von der ganzen verdammten Maulfreiheit, und wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich euch schon dazu bringen, nach den festgelegten Gesetzen der Anständigkeit zu leben, und wenn ich euch auch –«

»Will!« Jetzt war sie nicht ängstlich. »Bin ich auch prodeutsch, wenn ich's nicht zuwege bringe, mich für den Ehrlichen Jim Blausser zu begeistern?«

Er brummte: »Das Ganze paßt ausgezeichnet zu deinem ewigen Gekrittel! Ich hätt' mir ja denken können, daß du jeder anständigen wirklichen Arbeit für die Stadt oder für –«

»Du hast recht. Alles, was ich getan habe, paßt zueinander. Ich gehöre nicht zu Gopher Prairie. Das soll keine Verurteilung Gopher Prairies sein, vielleicht ist es eine Verurteilung meiner selbst. Schön! Von mir aus! Ich gehöre nicht hierher, und ich werde gehen. Jetzt bitte ich nicht mehr um Erlaubnis. Ich gehe einfach.«

Er knurrte: »Willst du mir sagen, wenn's dir nicht zuviel Mühe macht, für wie lange du weg willst?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht für ein Jahr. Vielleicht fürs ganze Leben.«

»Aha. Na ja, natürlich, es wird ja ein Heidenspaß für mich sein, meine Praxis zu verkaufen und überall hinzugehen, wohin du willst. Möchtest du vielleicht, daß ich mit dir nach Paris komme und Kunst lerne und Samthosen und 'ne Weibermütze trag' und Spaghetti fress'?«

»Nein, ich glaube, wir können dir diese Mühe ersparen. Du verstehst nicht ganz. Ich gehe – ich gehe wirklich – und zwar allein! Ich muß herausfinden, was meine Arbeit ist –«

»Arbeit? Arbeit? Freilich! Das ist das ganze Malheur mit dir! Du hast nicht genug Arbeit. Wenn du fünf Kinder hätt'st und kein Dienstmädel und im Haus helfen und die Sahne separieren müßtest wie die Frauen auf den Farmen, dann wärst du nicht so mißvergnügt.«

»Ich weiß. Zufällig habe ich lauter solche Sachen getan. Es ist sehr oft vorgekommen, daß wir kein Mädchen hatten, und dann hab' ich die ganze Hausarbeit gemacht und Hugh betreut und bin ins Rote Kreuz gegangen, und hab' das alles sehr tüchtig gemacht. Ich bin eine gute Köchin und ein gutes Stubenmädchen, du darfst dir nicht erlauben, zu sagen, daß ich's nicht bin! Aber, ich weiß ja, es ist ein hoffnungsloser Fall mit uns mißvergnügten Frauen! Ja, wozu wollt ihr uns denn dann bei euch haben? Damit wir euch behelligen? Es geschieht also für dich, wenn ich gehe!«

»Und so 'ne Kleinigkeit wie Hugh spielt natürlich gar keine Rolle?«

»O ja, die Hauptrolle. Deshalb werde ich ihn auch mitnehmen.«

»Und wenn ich mich weigere?«

»Das wirst du nicht!«

Ganz ratlos: »Ach – Carrie, Teufel noch einmal, was willst du denn eigentlich überhaupt?«

»Ich hab' ein Recht auf mein eigenes Leben.«

»Das hab' ich auch!«

»Und?«

»Ich habe ein Recht auf mein Leben – und das bist du, du bist mein Leben.«

»Du hast ein Recht darauf, wenn du mich halten kannst. Kannst du das?«

2

Das letzte, was sie auf dem Bahnsteig sah, war Kennicott, getreu mit der Hand winkend, das Gesicht so voll verständnisloser Einsamkeit, daß er nicht lächeln, nur krampfhaft den Mund verziehen konnte. Sie winkte ihm, solange sie konnte, und als er nicht mehr zu sehen war, wäre sie am liebsten aus dem Zug gesprungen und zu ihm zurückgelaufen. Sie dachte an hundert Zärtlichkeiten, um die sie sich nicht gekümmert hatte.

Sie hatte ihre Freiheit, und die war leer. Dieser Augenblick war nicht der höchste in ihrem Leben, sondern der niedrigste und verzweifeltste, und das war schließlich doch ausgezeichnet, denn statt abwärtszugleiten, begann sie emporzusteigen.

Sie seufzte: »Ich könnte das nicht tun, wenn Will nicht so freundlich wäre, wenn er mir nicht das Geld gäbe.« Doch eine Sekunde später: »Ich bin neugierig, wieviel Frauen wohl immer zu Hause bleiben würden, wenn sie das Geld hätten?«

Hugh klagte: »Mammi!« Er saß neben ihr auf der roten Plüschbank im Personenwagen; ein dreieinhalbjähriger Junge. »Ich mag nicht mehr Eisenbahn spielen. Spielen wir was anderes.«


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