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Fünfzehntes Kapitel

1

Kennicott freute sich sehr über Carolas Weihnachtsgeschenke; sie bekam von ihm eine Brillantnadel. Aber es wollte ihr nicht gelingen, sich einzureden, daß er viel Interesse für die Zeremonien des Weihnachtsmorgens zeige, für den Baum, den sie geschmückt, die drei Strümpfe, die sie aufgehängt hatte, für die Bändchen und Goldsiegel und versteckten Briefe. Er sagte nur:

»Nett, wie du die Dinger da rangemacht hast. Was meinst du, sollen wir am Nachmittag zu Jack Elder gehen und 'ne kleine Gesellschaft machen?«

Sie mußte an die Weihnachtseinfälle ihres Vaters denken, an die heilig gewordene alte Stoffpuppe an der Baumspitze, an die vielen billigen Geschenke, den Punsch und die Lieder, an die gerösteten Kastanien am Kamin und an die feierliche Ernsthaftigkeit, mit welcher der Richter die gekritzelten Briefchen der Kinder öffnete und die Wünsche nach Schlittenfahrten und nach Erklärungen über die Existenz des Weihnachtsmannes zur Kenntnis nahm. Sie mußte daran denken, wie er einen langen Schriftsatz vorlas, in dem er sich anklagte, sentimental zu sein, sich gegen den Frieden und die Würde des Staates Minnesota zu vergehen. Sie erinnerte sich, wie seine dünnen Beine vor ihrem Schlitten hin und her gegangen waren.

Sie murmelte unruhig: »Ich muß rasch hinauf, mir die Schuhe anziehen – in den Pumps ist es so kalt.« In der nicht sehr romantischen Einsamkeit des versperrten Badezimmers saß sie auf dem schlüpfrigen Rand der Badewanne und weinte.

2

Kennicott hatte fünf Steckenpferde: die Medizin, Kapitalanlagen in Grundstücken, Carola, Automobilfahren und Jagen. In welcher Reihenfolge er diesen Steckenpferden seine Liebe zuwandte, läßt sich nicht mit Gewißheit sagen. So aufrichtig seine Begeisterung für medizinische Dinge auch war – seine Bewunderung für diesen großstädtischen Chirurgen, seine Verachtung für jenen, der Landärzte hinterlistig dazu überredete, ihre chirurgischen Fälle in die Stadt zu bringen, sein Unwille über Unlauterkeiten in Honorarfragen, der Stolz auf seinen neuen X-Strahlenapparat – alles das beglückte ihn nicht so wie das Automobilfahren.

Er pflegte seinen zwei Jahre alten Buick auch im Winter, wenn der Wagen im Garageschuppen hinter dem Haus stand. Er füllte die Schmierbüchsen auf, lackierte den Kotflügel und holte unter dem Vordersitz Überreste von Handschuhen, Dichtungsringe, zerdrückte Karten, Staub und ölige Lappen hervor. An Wintermittagen stapfte er hinaus und starrte den Wagen höchst klug und weise an. Das Automobilfahren war für ihn ein Glaube, an dem nicht gezweifelt werden durfte, eine hochkirchliche Kultangelegenheit mit elektrischen Funken statt Kerzen und Kolbenringen, die so heilig waren wie Altargefäße.

Das Jagen war gleichfalls eine Andachtsübung, voll metaphysischer Begriffe, die Carola unklar waren. Den ganzen Winter über las er Sportkataloge und gedachte bedeutsamer Schüsse in der Vergangenheit: »Weißt du noch, wie ich damals die zwei Enten von ziemlich weit heruntergeholt hab', grade bei Sonnenuntergang?« Mindestens einmal im Monat zog er seine Lieblingsflinte aus ihrem verschmierten Flanellfutteral hervor; er ölte das Züngel und verbrachte Augenblicke schweigsamer Ekstase, indem er auf die Decke zielte.

Er bewahrte noch immer die Geräte zum Patronenadjustieren auf, mit denen er als Junge gespielt hatte; wenn Carola in einem Anfall von Hausfrauenwahnsinn allerlei aus dem Haus geschafft haben wollte, ärgerlich wurde und fragte: »Warum gibst du denn das nicht fort?« verteidigte er seine Geräte ernst und würdevoll: »Ja, man kann doch nie wissen; vielleicht braucht man sie einmal wieder.«

Sie wurde rot. Ob er an das Kind dachte, das sie haben würden, sobald sie, wie er sich ausdrückte, »sicher wären, sich eins leisten zu können?«

In rätselhaftem Kummer, in unklarer Traurigkeit schlüpfte sie davon, halb, aber auch nur halb überzeugt, daß es fürchterlich und widernatürlich sei, dieses Verschieben der Erfüllung ihrer Muttersehnsucht, dieses Zugeständnis an seinen Eigensinn und seinen vorsichtigen Wunsch nach Wohlhabenheit.

Aber es wäre schlimmer, wenn er wie Sam Clark wäre – immer wieder Kinder haben wollte, überlegte sie, und dann: Wenn Will der Prinz wäre, würde ich das Kind dann nicht verlangen?

Kennicotts Landgeschäfte waren sowohl Vermögensverbesserung wie Lieblingsspiel. Wenn er über Land fuhr, beobachtete er, welche Farmen gute Ernte hatten; er hörte die Neuigkeit, daß dieser oder jener ruhelose Farmer »daran dächte, hier zu verkaufen und sich mit allen seinen Sachen nach Alberta aufzumachen«. Er erkundigte sich beim Tierarzt nach dem Wert verschiedener Viehrassen; er fragte Lyman Cass, ob Einar Gyseldson wirklich einen Ertrag von vierzig Scheffeln Weizen auf den Morgen hätte. Er beriet sich unaufhörlich mit Julius Flickerbaugh, der sich mehr mit Gütermaklerei als mit dem Gesetz beschäftigte, und mehr mit dem Gesetz als mit Gerechtigkeit. Er studierte Pläne und las Auktionsbekanntmachungen.

So war er in der Lage, hundertsechzig Morgen Land zu hundertfünfzig Dollar zu kaufen und nach ein oder zwei Jahren, wenn er den Fußboden in der Scheune zementiert und Wasser ins Haus eingeleitet hatte, zu hundertachtzig oder gar zweihundert zu verkaufen.

Diese Einzelheiten besprach er mit Sam Clark … ziemlich oft.

Carola sollte an allen seinen Spielen, an Automobilen und Flinten und Land Interesse zeigen. Aber er erzählte ihr nichts, was in ihr Interesse hätte wachrufen können. Er sprach nur von selbstverständlichen und langweiligen Dingen; nie von seinen finanziellen Zielen oder von den mechanischen Prinzipien, nach denen ein Motor arbeitet.

In diesem Monat der Romantik war sie voll Eifer, seine Steckenpferde zu verstehen. Sie zitterte in der Garage, während er eine halbe Stunde dazu brauchte, um sich zu entschließen, ob er den Kühler mit Alkohol oder mit einer nichtfrierenden Patentflüssigkeit füllen, oder ob er das Wasser ganz ablassen sollte. »Oder nein, dann würd' ich ihn nicht 'rausnehmen müssen, wenn's warm wird – trotzdem, natürlich, ich könnt' ja den Kühler wieder füllen – das würde ja gar nicht so fürchterlich lang dauern – 's sind ja nur ein paar Kannen Wasser – trotzdem, wenn's dann wieder kalt wird, bevor ich's abgelassen hab' – es gibt natürlich Leute, die Petroleum einfüllen, aber dann sollen ja wieder die Schlauchverbindungen zum Teufel gehen, und – wo hab' ich denn den Schlüssel hingetan?«

In diesem Augenblick gab sie es auf, Automobilistin zu sein, und ging ins Haus zurück.

Jetzt, da ihr Verhältnis inniger geworden war, erzählte er ihr mehr von seiner Praxis; er teilte ihr, mit dem unveränderlichen Gebot, nicht darüber zu sprechen, mit, daß Frau Sunderquist wieder ein Baby erwarte, und daß das »Dienstmädel von Howlands Pech gehabt habe«. Aber wenn sie nach technischen Dingen fragte, wußte er nicht zu antworten; wenn sie wissen wollte: »Aber wie nimmt man denn die Mandeln heraus?« gähnte er: »Mandeloperation – na, da muß man doch bloß – wenn's eitert, schneidet man. Man nimmt sie ganz einfach raus. Hast du die Zeitung gesehen? Wo hat die Bea sie denn schon wieder hingesteckt?«

Sie versuchte es nie wieder.

3

Sie waren ins Kino gegangen. Das Kino war für Kennicott und die übrigen soliden Bürger Gopher Prairies fast ebenso wichtig wie Bodenspekulation, Jagdgewehre und Automobile.

Der Hauptfilm schilderte einen wackeren jungen Yankee, der eine südamerikanische Republik eroberte. Er riß die Eingeborenen aus ihren barbarischen Gewohnheiten des Singens und des Lachens heraus und brachte sie zur gesunden und rüstigen Vernunft, zum Grips und Pfiff und Schwung des Nordens. Sogar die Natur verwandelte er. Ein Berg, auf dem es nur Lilien und Zedern und faule Wolken gegeben hatte, wurde von seiner Geschäftigkeit so gepackt, daß er lange Holzschuppen und Unmengen von Eisenerz hervorbrachte; das Eisenerz diente dazu, in Dampfer verwandelt zu werden, die Eisenerz transportieren sollten, das wieder dazu diente, in Dampfer verwandelt zu werden, die wieder Eisenerz transportieren sollten.

Die geistige Anstrengung, die der Meisterfilm verursacht hatte, wurde von einem fröhlicheren, lyrischeren und weniger philosophischen Stück entspannt: Mack Schnarken und die Badenymphen in einer Sittenkomödie, »Der geplagte Ehemann«. Herr Schnarken war abwechselnd Koch, »Lebensretter« im Bad, Komiker und Bildhauer. Polizisten stürmten einen Korridor entlang, einzig zu dem Zweck, von Gipsbüsten, die aus zahllosen Türen flogen, betäubt zu werden. Der Handlung fehlte es vielleicht an Klarheit, aber das Doppelmotiv, Beine und Backwerk, war einwandfrei deutlich. Baden und Modellieren boten gleich günstige Gelegenheiten für Beine; die Hochzeitsszene war nichts weiter als eine Vorbereitung für den unerhörten Höhepunkt, an dem Herr Schnarken dem Geistlichen einen Windbeutel in die Gehrocktasche steckte.

Das Publikum im Filmpalast Rosenknospe kreischte und wischte sich die Augen; sie tappten unter den Sitzen nach Überschuhen, Fäustlingen und Schals, während auf der Leinwand die Ankündigung erschien, Herr Schnarken könne in der nächsten Woche in einem neuen flotten Lustspiel, »Unter Mollys Bett«, gesehen werden.

»Ich freue mich sehr,« sagte Carola zu Kennicott, während sie sich gegen den Nordweststurm, der durch die Straße fegte, vorwärts arbeiteten, »daß wir in einem moralischen Land leben. Wir lassen diese eklig freimütigen Romane nicht zu.«

»Ja. Die Lastergesellschaft würde sich so etwas nicht gefallen lassen. Das amerikanische Volk hat nichts für schmutzige Sachen übrig.«

»Ja. Es ist schön. Ich freue mich, daß wir so nette Romane haben wie ›Der geplagte Ehemann‹.«

»Sag' mal, worauf willst du denn schon wieder hinaus? Willst du mich aufziehen?«

Sie schwieg. Sie wartete auf einen Zornausbruch. Er lachte aber, und das verwirrte sie. Als sie zu Hause waren, lachte er wieder. Er sagte:

»Ich muß dir ja sagen, konsequent bist du wirklich. Ich hätte gemeint, nachdem du jetzt eine ganze Menge braver Farmer gesehen hast, würdest du deinen Kunstfimmel loswerden, aber du bleibst dabei.«

»Also –« Bei sich selbst sagte sie: »Er mißbraucht es, daß ich nett sein wollte.«

»Paß mal auf, Carola: 's gibt ganz einfach drei Arten Menschen: Leute, die überhaupt nicht denken; Verrückte, die über alles schimpfen müssen; und richtige Kerle, die Menschen, die was schaffen und sehen, daß die Welt weiterkommt.«

»Dann bin ich wahrscheinlich eine Verrückte.« Sie lächelte gleichgültig.

»Nein. Das kann ich nicht zugeben. Du redest gern, aber wenn's drauf ankommt, ist dir Sam Clark lieber als alle verdammten Künstler mit ihren langen Haaren.«

»Ach – na ja –«

»Ach, na ja!« spöttisch. »Du lieber Gott, wir wollen ja alles ändern, nicht wahr! Wir wollen den Leuten, die seit zehn Jahren Filme machen, erzählen, wie sie's machen sollen; den Architekten wollen wir sagen, wie sie Häuser bauen sollen; und die Magazine sollen nichts anderes als eine Menge obergescheite Geschichten über alte Jungfern drucken und über Weiber, die nicht wissen, was sie wollen. Ach, wir sind schrecklich! … Ich versteh' dich nicht. Pass' einmal auf –«

Als er schon schlief, lag sie wach«.

»Ich muß weiterarbeiten. An meinen ›verrückten Ideen‹, wie er sagt. Ich dachte, ihn zu bewundern, ihm beim Operieren zuzusehen, würde genügen. Es genügt nicht. Nach der ersten Begeisterung nicht mehr.

Ich will ihm nicht weh tun, aber ich muß weiterarbeiten.

Es genügt nicht, dabeizustehen, wenn er einen Kühler füllt und mir ab und zu eine Erklärung hinwirft.

Wenn ich lang genug dabeistände und ihn bewunderte, wäre ich zufrieden. Ich würde eine ›nette kleine Frau‹ werden. Der Dorfbazillus. Schon – Ich lese nichts. Seit einer Woche hab' ich das Klavier nicht angerührt. Ich will nicht! Ich will nicht unterliegen!

Aber wie? Alles ist mir mißlungen. Jetzt will ich nicht mehr ›die Stadt reformieren‹. Ich will nur meine Seele retten.

Will Kennicott, der hier schläft, vertraut mir, glaubt, er hält mich fest. Und ich verlasse ihn. Alles in mir hat ihn verlassen, wie er mich ausgelacht hat. Es war ihm nicht genug, daß ich ihn bewundert habe; ich sollte mich ändern und werden wie er. Er treibt Mißbrauch. Nie wieder. Es ist vorbei. Ich will weiterarbeiten.«

4

Sie sehnte sich danach, Guy Pollock zu sehen, sich an dem Bruder im Glauben zu stärken. Aber Kennicotts Herrschaft lag schwer auf ihr. Sie wußte nicht recht, ob die Angst vor ihm oder ihre eigene Trägheit sie lähmte – der Widerwille vor der Gefühlsanstrengung der »Szenen«, welche die Verkündigung ihrer Unabhängigkeit nach sich gezogen hätte. Sie war wie der Revolutionär von fünfzig Jahren: er hat keine Angst vor dem Tod, aber die Aussicht auf schlechtes Essen, auf schlechte Luft und das Verbringen einer ganzen Nacht auf zugigen Barrikaden ekelt ihn.

Am zweiten Abend nach dem Kino lud sie spontan Vida Sherwin und Guy zu Röstmais und Apfelwein ein. Im Wohnzimmer debattierten Vida und Kennicott über den »Wert des Handfertigkeitsunterrichtes in den unteren Klassen«, während Carola mit Guy am Eßtisch saß und den Röstmais fertig machte. Die Nachdenklichkeit in seinen Augen weckte sie auf. Sie murmelte:

»Guy, wollen Sie mir helfen?«

»Meine Liebe! Wie?«

»Ich weiß nicht!«

Er wartete.

»Ich glaube, Sie müssen mir finden helfen, wie eigentlich diese Dunkelheit über uns Frauen gekommen ist. Graue Dunkelheit und Schatten von Bäumen. Wir alle sind drin, zehn Millionen Frauen, junge Frauen mit guten, wohlhabenden Männern, Geschäftsfrauen mit Hemdblusen und steifen Kragen, Großmütter, die zu Tees gehen, Frauen von unterzahlten Bergarbeitern, und Bauernfrauen, die wirklich gern Butter machen und in die Kirche gehen. Was wollen – und brauchen wir denn? Will Kennicott würde sagen, daß wir einen Haufen Kinder und viel Arbeit brauchen. Aber das ist es nicht. Es ist dieselbe Unzufriedenheit bei Frauen, die acht Kinder haben und eines erwarten – immer eines erwarten! Und Sie sehen sie an Stenotypistinnen und Frauen, die sich abrackern, genau so wie an Collegeabsolventinnen, die darüber nachdenken, wie sie ihren freundlichen Eltern davonlaufen können. Was wollen wir?«

»Ich glaube, Carola, Sie sind im wesentlichen wie ich; Sie wollen zurück in ein Zeitalter voll Stille und entzückender Sitten. Sie wollen den guten Geschmack wieder auf den Thron setzen.«

»Nur guter Geschmack? Verwöhnte Leute? Oh – nein! Ich glaube, wir alle wollen das gleiche – wir alle miteinander, die Industriearbeiter und die Frauen und die Bauern und die Negerrasse und die asiatischen Kolonien – und sogar ein paar von den Wohlanständigen. Es ist ganz derselbe Aufruhr, in allen Klassen, die gewartet haben und immer guten Ratschlägen gefolgt sind. Vielleicht wollen wir ein bewußteres Leben, denke ich. Wir haben es satt, uns zu plagen, zu schlafen und zu sterben. Wir haben es satt, nur ganz wenig Leute zu sehen, die es verstehen, Individualisten zu sein. Wir haben es satt, die Hoffnung bis zur nächsten Generation zu verschieben. Wir haben es satt, den Politikern und Priestern und vorsichtigen Reformatoren (und den Ehemännern!) zuzuhören, die uns immer einlullen wollen: ›Seid ruhig! Habt Geduld! Wartet! Wir haben die Pläne für die Utopie schon fertig; laßt uns nur noch ein bißchen Zeit, und sie wird dasein; habt Vertrauen zu uns; wir sind klüger als ihr.‹ Zehntausend Jahre lang sagen sie das schon. Wir wollen unsere Utopie jetzt – und wir werden dafür arbeiten. Wir wollen nur – alles für jeden von uns! Für jede Hausfrau und jeden Hafenarbeiter und jeden nationalistischen Hindu und jeden Lehrer. Wir wollen alles. Wir werden es nicht kriegen. Und so werden wir nicht zufrieden sein –«

Sie wußte nicht recht, warum er zusammenfuhr. Er unterbrach sie:

»Hören Sie, meine Liebe, ich will wirklich hoffen, daß Sie sich nicht in eine Reihe mit einem Haufen unruhestiftender Arbeiterführer stellen! Die Demokratie ist theoretisch etwas sehr Schönes, und ich will auch zugeben, daß es Ungerechtigkeiten in der Industrie gibt, aber diese sind mir immer noch lieber als eine Welt, die auf ein totes Durchschnittsniveau reduziert wäre. Ich weigere mich zu glauben, daß Sie auch nur das geringste mit einem Haufen Arbeiter gemeinsam haben, die um höhere Löhne kämpfen, um sich miserable Stinkkarren und scheußliche Pianolas kaufen zu können –«

In diesem Augenblick erkannte Carola, daß Guy sie trotz all seiner Liebe für ausgestorbene feine Sitten in seiner Ängstlichkeit ebenso bedrückte wie Sam Clark in seiner Wuchtigkeit. Sie erkannte, daß er kein Rätsel war, wie sie begeistert geglaubt hatte; kein romantischer Bote aus der Welt da draußen, der ihr zur Flucht verhelfen könnte. Er gehörte zu Gopher Prairie, ganz und gar. Sie wurde aus einem Traum von fernen Ländern geschleudert und fand sich in der Hauptstraße.

Er brachte seinen Protest zu Ende: »Sie wollen sich doch nicht in dieses Tohuwabohu sinnloser Unzufriedenheit einlassen?«

Sie beruhigte ihn. »Nein, das will ich nicht. Ich bin nicht heroisch. Ich habe Angst vor all den Kämpfen, die es in der Welt gibt. Ich will Vornehmheit und Erlebnisse, vielleicht will ich noch lieber mit einem Menschen, den ich gern habe, am Herd sitzen.«

»Würden Sie –«

Er beendete den Satz nicht. Er nahm Röstmais in die Hand, ließ ihn durch die Finger laufen und blickte sie sehnsüchtig an.

In der Einsamkeit eines Menschen, der die Möglichkeit einer Liebe abgetan hat, sah Carola, daß er ein Fremder war. Sie sah, daß er nie etwas anderes gewesen war als ein Gestell, das sie mit schimmernden Gewändern behängte. Wenn sie zugegeben hatte, daß er ihr schüchtern den Hof machte, so war das nicht deshalb, weil ihr etwas daran lag, sondern weil ihr nichts daran lag, weil es ihr gleichgültig war.

Sie lächelte ihm mit dem aufreizenden Takt einer Frau zu, die einem Flirt ein Ende macht; mit einem Lächeln, das wie ein leichter Schlag auf den Arm war. Sie seufzte: »Es ist sehr lieb von Ihnen, daß Sie sich meine eingebildeten Sorgen von mir erzählen lassen.« Sie sprang auf und rief; »Sollen wir den Röstmais jetzt zu ihnen hineinbringen?«

Guy blickte ihr trostlos nach.

Während sie Vida und Kennicott aufzog, wiederholte sie sich: »Ich muß weiterarbeiten.«

5

Miles Bjornstam, der Paria und »Rote Schwede« hatte seine Kreissäge und kleine Gasolinmaschine ins Haus gebracht, um die Pappelholzklötze für den Küchenherd zu schneiden. Den Auftrag hatte Kennicott gegeben; Carola wußte nichts davon, bis sie das Klingen der Säge hörte, aus dem Fenster sah und Bjornstam erblickte, der, in schwarzer Lederjacke, mit ungeheuren zerrissenen, roten Fäustlingen, Holzstücke gegen das wirbelnde Sägeblatt drückte und die geschnittenen Stücke auf einen Haufen warf. Das Singen der Säge steigerte sich, bis es klang wie das Gellen einer Feueralarmsirene in der Nacht, aber immer wieder gab es dann ein munteres metallisches Klingen, und in der Stille hörte sie das Poltern, mit dem das abgeschnittene Stück auf den Stapel fiel.

Sie warf einen Automobilmantel über und lief hinaus. Bjornstam begrüßte sie: »Ja, ja, ja! Da haben wir den alten Miles, frisch wie immer. Na also, es stimmt schon alles; er hat noch nicht einmal angefangen, frech zu werden; im nächsten Sommer wird er Sie auf seinen Pferdehandeltrip nach Idaho mitnehmen.«

»Ja, und vielleicht komm' ich auch mit!«

»Was ist denn los? Schon wild auf die Stadt?«

»Nein, aber wahrscheinlich werde ich es einmal sein.«

»Lassen Sie sich nicht unterkriegen. Immer 'nen Schlag ins Gesicht!«

Er unterhielt sich laut mit ihr, während er weiterarbeitete. Der Holzstapel wuchs erstaunlich rasch. Die helle Rinde des Pappelholzes war mit salbeigrünen und schmutziggrauen Flechten gesprenkelt; die frisch gesägten Enden leuchteten. In die unfruchtbare Winterluft brachte das Holz einen Duft von Märztrieben.

Kennicott telephonierte, er müsse über Land. Bjornstam war zu Mittag mit seiner Arbeit noch nicht fertig, sie forderte ihn auf, mit Bea in der Küche zu essen. Gern wäre sie selbständig genug gewesen, um zusammen mit ihnen zu essen. Sie dachte an die Freundlichkeit der beiden, sie lachte höhnisch über »soziale Unterschiede«, sie tobte über ihre eigenen Tabugesetze – sie betrachtete die beiden weiter als Untergebene und sich als Herrin. Sie saß im Eßzimmer und hörte durch die Tür Bjornstam polternd erzählen und Bea kichern. Sie kam sich nur um so lächerlicher vor, wenn sie daran dachte, daß sie, sobald sie zeremoniell allein gegessen hätte, in die Küche hinausgehen, sich an den Ausguß lehnen und mit ihnen sprechen könnte.

Sie fühlten sich zueinander hingezogen: ein schwedischer Othello und eine schwedische Desdemona, nützlicher und liebenswürdiger als ihre Vorbilder. Bjornstam erzählte von seinen Heldentaten: vom Pferdehandel in einem Bergarbeiterlager in Montana, wie er ein festgefahrenes Floß wieder freigemacht hatte, wie er mit einem »ganzen Kerl« von Holzmillionär unverschämt gewesen war. Bea gluckste: »Ach, Herrjeses, nein!« und füllte ihm immer wieder die Kaffeetasse.

Er ließ sich Zeit mit seiner Arbeit. Er mußte häufig in die Küche gehen, um sich zu wärmen. Carola hörte, wie er zu Bea sagte: »Sie sind ein verdammt nettes Schwedenmädel. Ich glaub', wenn ich 'ne Frau hätte wie Sie, wär' ich nicht so 'n Brummschädel. Herrgott, ist Ihre Küche sauber; 'n alter Junggeselle kommt sich da ganz verschlampt vor. Wissen Sie, hübsches Haar haben Sie. Ha? Ich frech? Meine Liebe, wenn ich frech werd', dann merken Sie's schon. Ich könnt' Sie ja mit einem Finger aufheben und in der Luft halten, bis Sie den ganzen Robert J. Ingersoll ausgelesen haben. Ingersoll? Ach, das ist 'n frommer Schriftsteller. Klar. Würde Ihnen ausgezeichnet gefallen.«

Als er ging, winkte er Bea; und Carola, die einsam an ihrem Fenster oben war, beneidete die beiden um ihr Idyll.

»Und ich – Aber ich will weiterarbeiten.«


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