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Dreiunddreißigstes Kapitel

1

Sie reisten dreieinhalb Monate. Sie sahen das Grand Canyon, Santa Fé, kamen von El Paso auch nach Mexiko. Sie fuhren von San Diego und La Jolla nach Los Angeles, Pasadena, Riverside, durch Ortschaften mit dickbäuchigen Missionstürmen und Orangenhainen; sie sahen sich Monterey und San Francisco und einen Mammutbaumwald an. Sie badeten in der Brandung, kletterten auf Berge und tanzten, sie sahen Polowettspiele und Filmaufnahmen, sie schickten einhundertsiebzehn Ansichtskarten nach Gopher Prairie, und einmal, auf einer Düne am dunstigen Meer, als sie allein spazieren ging, stieß Carola auf einen Künstler, er sah auf zu ihr und sagte: »Es ist zu grauslich naß zum malen; setzen Sie sich her, reden wir miteinander«, und so lebte sie zehn Minuten in einem Roman.

An einem Apriltag lachte Kennicott: »Was wird Hugh wohl sagen, wenn er uns sieht?«

Drei Tage später kamen sie in einem Schneesturm nach Gopher Prairie.

2

Sie gab sich Mühe, zufrieden zu sein – ein Widerspruch in sich selbst. Mit fanatischem Eifer reinigte sie den ganzen April hindurch das Haus. Sie strickte einen Sweater für Hugh. Sie arbeitete eifrig im Roten Kreuz. Sie schwieg, wenn Vida tobte, obwohl Amerika den Krieg ebensosehr hasse wie immer, müßte man doch in Deutschland eindringen und jeden einzelnen Mann totschlagen, weil jetzt bewiesen sei, daß es im deutschen Heer keinen einzigen Soldaten gebe, der nicht Gefangene kreuzige und Kindern die Hände abschneide.

Carola war freiwillige Krankenpflegerin, als Frau Champ Perry plötzlich an einer Lungenentzündung starb.

Champ brach zusammen. Sein Rheumatismus wurde schlimmer. In den Zimmern über dem Kaufmannsladen schwieg alles. Er konnte seine Arbeit als Einkäufer am Speicher nicht versehen. Farmer, die mit Schlittenladungen Weizen hereinkamen, klagten darüber, daß Champ nicht ablesen könne, daß er immer jemand hinter sich im Dunkel der Kisten zu beobachten scheine. Man sah ihn durch Seitengassen schleichen, wie er mit sich selbst redete, ungesehen bleiben wollte, sich endlich zum Friedhof hinausschleppte. Einmal ging Carola ihm nach und fand den rauhen, phantasielosen, alten Mann auf dem Schnee des Grabes liegen, die dicken Arme über den rohen Erdhügel gebreitet, als wollte er sie vor der Kälte schützen, sie, die er sechzig Jahre lang jede Nacht sorgfältig zugedeckt hatte, die jetzt allein war, unbehütet.

Die Speichergesellschaft, deren Direktor Ezra Stowbody war, ließ ihn gehen. Die Gesellschaft, so erklärte Ezra Carola, hatte keinen Pensionsfond.

Sie bemühte sich, ihm die Postmeisterstellung zu verschaffen, die, weil die ganze Arbeit von Hilfskräften getan wurde, der einzige Ruheposten in der Stadt war, der einzige Lohn für politische Makellosigkeit. Doch es stellte sich heraus, daß Herr Bert Tybee, der frühere Mixer, Ansprüche auf die Postmeisterstellung erhob.

Zu ihrem Trost gab Lyman Cass Champ Unterkunft als Nachtwächter. Die kleinen Jungen spielten Champ viele Streiche, wenn er vor der Mühle einschlief.

3

Etwas Ähnliches wie Freude empfand sie, als Major Raymon Wutherspoon zurückkehrte. Er war gesund, aber noch schwach von seiner Gasvergiftung; er war entlassen worden und kam als erster Kriegsveteran heim. Man erzählte sich, er habe Vida mit seinem unvorhergesehenen Kommen überrascht, Vida sei ohnmächtig geworden, als sie ihn gesehen hätte, und eine Nacht und einen Tag lang wollte sie ihn nicht mit der Stadt teilen. Als Carola die beiden sah, hatte Vida nur für Rayniie Augen und ging nie so weit von ihm weg, daß sie seine Hand hätte auslassen müssen. Ohne zu begreifen warum, fühlte Carola sich durch diese heftige Leidenschaftlichkeit belästigt. Und Raymie – nein, das war nicht er, das war ein strengerer Bruder Raymies, dieser Mann mit der knappsitzenden Bluse, mit den Achselstücken und den Stiefeln. Sein Gesicht sah anders aus, sein Mund war gestraffter. Das war nicht Raymie; das war Major Wutherspoon.

Nach einer Woche wurde Major Wutherspoon zum Leiter des Bon Ton gemacht. Harry Haydock wollte sich dem halben Dutzend Filialen widmen, die er in Landstraßensiedlungen errichtete. Harry würde in der nächsten Generation der reichste Mann der Stadt sein, Major Wutherspoon würde mit ihm hochkommen, und Vida jubilierte, obgleich sie es bedauerte, den größten Teil ihrer Roten-Kreuz-Arbeit aufgeben zu müssen. Ray brauchte noch Pflege, erklärte sie.

Als Carola ihn ohne Uniform sah, in einem Pfeffer-und-Salz-Anzug, mit einem neuen braunen Filzhut, war sie enttäuscht. Er war nicht Major Wutherspoon; er war Raymie.

Einen Monat lang liefen ihm die Jungen in der Straße nach, nannte jedermann ihn Major, aber das wurde bald in Maje verkürzt, und die kleinen Jungen sahen nicht mehr von ihren Murmeln auf, wenn er vorüberging.

4

Die Kriegspreise für Weizen brachten es mit sich, daß die Stadt aufblühte.

Das Geld für den Weizen blieb nicht in den Taschen der Farmer; die Städte waren dazu da, dafür zu sorgen. Farmer in Iowa verkauften ihr Land zu vierhundert Dollar für den Morgen und kamen nach Minnesota. Aber wo immer man kaufte oder verkaufte oder Hypotheken aufnahm, luden die Städter sich selbst zum Schmaus ein – Müller, Grundstückmakler, Anwälte, Kaufleute und Dr. Will Kennicott. Sie kauften Land zu hundertfünfzig, verkauften es am nächsten Tag zu hundertsiebzig und kauften wieder. In drei Monaten verdiente Kennicott siebentausend Dollar, fast viermal soviel, als die Gesellschaft ihm für das Heilen der Kranken bezahlte.

Im Frühsommer begann ein Propagandafeldzug. Der Handelsklub entschied, Gopher Prairie sei nicht nur ein Weizenzentrum, sondern auch der ideal gelegene Ort für Fabriken, Sommervillen und staatliche Institute. Geleitet wurde der Feldzug von Herrn James Blausser, der vor kurzem in die Stadt gekommen war, um Landspekulationen zu treiben. Herr Blausser war als betriebsamer Mann bekannt. Er ließ sich gern »Ehrlicher Jim« nennen. Er war ein plumper, linkischer, unmanierlicher Mann, der gern Spaße machte, er hatte kleine Augen, ein gesundes, derbes Aussehen, große rote Hände und auffallende Anzüge. Er hatte ein Auge für alle Frauen. Er war der erste Mann in der Stadt, der nicht empfindsam genug war, Carolas Isoliertheit zu fühlen. Er legte ihr den Arm um die Schulter, während er zu Kennicott mit freundlicher Herablassung sagte: »Nettes kleines Weibchen, muß ich sagen, Doktor«, und als sie kühl antwortete: »Vielen Dank für die Anerkennung«, blies er ihr in den Hals und wußte nicht, daß er beleidigt worden war.

Die Stadt begrüßte Herrn Blausser ebenso herzlich, wie Carola ihn abfallen ließ. Er war Ehrengast bei dem Bankett, das der Handelsklub im Minnimashie-Hotel gab. Harry Haydock, als Vorsitzender, stellte den »Ehrlichen Jim Blausser« vor. »Und mit Stolz kann ich sagen, meine Mitbürger, daß Herr Blausser während seines kurzen Aufenthaltes in unserer Stadt mein warmer persönlicher Freund ebensowohl wie mein Kamerad in der Propaganda geworden ist, und ich möchte Ihnen allen den Rat geben, sorgfältig auf die Äußerungen eines Mannes zu hören, der weiß, wie man zu Erfolg kommt.«

Herr Blausser erhob sich wie ein Elefant mit einem Kamelhals – mit rotem Gesicht, roten Augen, schweren Fäusten, ein wenig rülpsend – ein geborener Führer, der von Gott dazu bestimmt war, Abgeordneter zu werden, sich aber den einträglicheren Ehren des Grundstückshandels zugewandt hatte. Er lächelte seinen warmen persönlichen Freunden und Kameraden in der Propaganda zu und hielt eine dröhnende Rede, die in einem Panegyrikus auf Gopher Prairie ausklang.

Eine halbe Stunde später sprach der Vorsitzende Haydock ein Dankvotum für Herrn Blausser aus.

Der Propagandafeldzug hatte begonnen.

Die Stadt suchte jene tüchtige moderne Abart des Ruhms, die als »Publizität« bekannt ist. Die Musikkapelle wurde wieder ins Leben gerufen und vom Handelsklub mit purpur- und goldschimmernden Uniformen ausgerüstet. Die Amateur-Baseballmannschaft engagierte einen Halbprofessional aus Des Moines und verabredete mit allen Städten im Umkreis von fünfzig Meilen Wettspiele. Die Bürger begleiteten die Mannschaft als »Stimmungsmacher«, in einem Sonderwagen mit Bannern, auf denen zu lesen war: »Aufgepaßt! Gopher Prairie macht sich!«, und die Kapelle spielte: »Lach, lach, lach«. Ob die Mannschaft siegte oder verlor, der »Unverzagte« tobte getreulich: »An die Arbeit, Jungens – alle an die Arbeit – Gopher Prairie muß auf die Landkarte – Fabelhafter Erfolg Unserer Unvergleichlichen Mannschaft.«

Dann, Herrlichkeit der Herrlichkeiten, leistete die Stadt sich einen »Weißen Weg«. Weiße Wege waren im Mittelwesten Mode. Sie bestanden aus verzierten Kandelabern mit einer Anzahl hochkerziger elektrischer Lampen, die alle zwei oder drei Blocks in der Hauptstraße aufgestellt wurden. Der »Unverzagte« verkündete: »Der Weiße Weg Ist Da – Die Stadt Beleuchtet Wie Der Broadway – Hon. James Blausser Hält Eine Ansprache – Ran, Ihr Zwillingsstädte – Unser Handschuh Ist Geworfen«.

Der Handelsklub gab ein Büchlein heraus, das von einer großartigen und kostspieligen literarischen Persönlichkeit aus einem Reklamebüro in Minneapolis herausgegeben war, von einem rotköpfigen jungen Mann, der Zigaretten aus langer Bernsteinspitze rauchte. Carola las das Büchlein mit einigem Erstaunen. Sie erfuhr, daß der Regenpfeifer- und der Minnimashiesee in der ganzen Welt wegen ihrer schönen waldigen Ufer, wegen ihrer prächtigen Hechte und Barsche berühmt seien, die nirgends im ganzen Land ihresgleichen haben; daß die Wohnhäuser Gopher Prairies Vorbilder der Würde, Behaglichkeit und Kultur seien, mit Rasenplätzen und Gärten, die weit und breit berühmt sind; daß die Schulen und die Bibliothek Gopher Prairies in ihrem hübschen und gemütlichen Gebäude im ganzen Staat berühmt seien; daß die Mühlen Gopher Prairies das beste Mehl im Lande machen; daß die Farmländereien in der Umgebung überall, wo Menschen Brot und Butter essen, für ihren unvergleichlichen Ia Hartweizen und für ihr unvergleichliches Ia Holsteinisch-Friesisches Vieh bekannt seien; und daß die Läden in Gopher Prairie sehr wohl den Vergleich mit Minneapolis und Chicago ertragen können, sowohl was ihren Reichtum an Luxus- und Bedarfsgegenständen betreffe, als auch die immer höfliche Aufmerksamkeit des geschulten Verkaufspersonals. Kurz, sie erfuhr, daß dies hier der einzig vernünftige Ort für Fabriken und Engrosfirmen sei.

»Dahin wollte ich ja immer; in diese Musterstadt Gopher Prairie«, sagte Carola.

Farmer setzten sich zur Ruhe und zogen in die Stadt. Die Bauplatzpreise waren um ein Drittel gestiegen. Aber es gelang Carola nicht, etwas Interessantes, anregende Unterhaltung oder suchende Geister zu finden. Sie konnte, so versicherte sie sich, eine schäbige, aber bescheidene Stadt ertragen; eine schäbige und größenwahnsinnige Stadt aber konnte sie nicht ertragen. Sie konnte Champ Perry pflegen und sich an der Nachbarfreundlichkeit Sam Clarks erwärmen, aber sie konnte nicht dem Ehrlichen Jim Blausser applaudieren. In den Tagen der ersten Liebe hatte Kennicott sie gebeten, die Stadt der Schönheit zuzuführen. Wenn der Ort jetzt so schön war, wie Herr Blausser und der »Unverzagte« sagten, dann war ihre Arbeit getan, und sie konnte gehen.


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