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Vierzehntes Kapitel

1

In diesem Dezember war sie in ihren Mann verliebt.

In ihren romantischen Träumen war sie nicht mehr die große Reformatorin, sie war die Frau des Landarztes. Die Alltäglichkeiten des Doktorhauses färbte sie mit ihrem Stolz bunt.

Spät in der Nacht ein Schritt vor der Tür, den sie schlafverwirrt hörte; die Außentür öffnete sich; ein Tappen an der Innentür, das Anschlagen der elektrischen Klingel. Kennicott brummt: »Gottverdammt noch einmal«, kriecht aber geduldig aus dem Bett, denkt daran, die Decken zurechtzuziehen, damit ihr nicht kalt wird, tastet nach Pantoffeln und Bademantel und stapft hinunter.

Dann hört sie verschlafen den Teil einer Unterredung in dem Pidgin-Deutsch der Farmer, welche die Sprache ihrer Heimat vergessen haben, ohne die neue zu lernen:

»Hallo, Barney, was wollen Sie?«

»Morgen, Doktor, die Frau ist schrecklich krank. Die ganze Nacht hat sie schreckliche Bauchschmerzen gehabt.«

»Wie lang ist das schon so?«

»Ich weiß nicht, vielleicht zwei Tage.«

»Warum sind Sie nicht gestern gekommen, statt mich aus meinem guten Schlaf zu wecken. Jetzt ist es zwei Uhr! Warum so spät, was?«

»Na ja, ich weiß, aber 's ist am Abend soviel schlimmer geworden. Ich hab' gemeint, es wird wieder vergehen, aber es ist viel schlimmer geworden.«

»Fieber?«

»Ja, ich glaub', sie hat Fieber.«

»Auf welcher Seite sitzt der Schmerz?«

»Ha?«

»Auf welcher Seite tut's weh? Hier?«

»Stimmt. Genau da ist es.«

»Ist es steif – hart?«

»Ich weiß nicht. Das hat sie mir nicht gesagt.«

»Was hat sie gegessen?«

»Na, wohl so, was wir immer essen, vielleicht Corned Beef und Kohl und Wurst und so. Doktor, sie weint immer. Die ganze Zeit schreit sie wie der Deibel. Kommen Sie doch.«

»Gut. Schön, aber das nächste Mal holen Sie mich früher. Hören Sie, Barney, Sie sollten sich ein Telephon anschaffen. Euch wird da draußen mal einer sterben, bevor ihr den Doktor kriegen könnt.«

Die Tür fiel zu. Barneys Wagen, die Räder waren im Schnee nicht zu hören, aber der Wagenkasten ratterte. Kennicott tippte auf die Hörergabel, um die Telephonistin, die Nachtdienst hatte, aufzuwecken, wartete, fluchte leise, wartete wieder und brummte schließlich: »Hallo, Gus, hier der Doktor. Hören Sie, äh, schicken Sie mir Pferde her. Der Schnee wird fürs Auto zu hoch sein. Ich muß acht Meilen nach Süden. Was? Einen Dreck werd' ich! Was? Ja, ja, das ist jetzt ganz gut. Schön, Gus. Wiedersehn!«

Sein Schritt auf der Treppe, seine stillen Bewegungen im kalten Zimmer, während er sich anzog; sein zerstreutes Husten. Er glaubte, daß sie schlafe, sie war zu herrlich schummerig, um den Zauber durch Worte zu brechen. Auf ein Stück Papier auf seinem Schreibtisch – sie konnte die Feder kratzen hören – schrieb er auf, wo er hinfahren mußte. Er ging weg, hungrig, fröstelnd, ohne zu klagen; und bevor sie wieder einschlief, liebte sie ihn wegen seiner Tapferkeit und sah die aufgeregte Fahrt durch die Nacht zu der erschrockenen Familie auf der fernen Farm; malte sich Kinder aus, die am Fenster stehen und auf ihn warten. Plötzlich war er in ihren Augen ein Held, wie der Telegraphist auf einem sinkenden Schiff; wie ein Forscher, vom Fieber gepackt, von seinen Trägern verlassen, aber weiter – Dschungel – – marschierend –

Um sechs, als das Licht hereinsickerte wie durch Milchglas und die Stühle allmählich Umrisse bekamen, hörte sie seinen Schritt vor der Tür, hörte ihn bei der Heizung; das Knirschen des geschüttelten Rostes, das langsame Herausnehmen der Asche, die Schaufel, die in die Kohlenkiste gestoßen wurde, das Klappern der Kohlen, die in den Feuerraum flogen, das Einstellen der Züge – die täglichen Geräusche im Leben Gopher Prairies, die ihr jetzt zum erstenmal den Eindruck von etwas Tapferem und Bleibendem, etwas Buntem und Freiem machten. Sie glaubte die Feuerzange zu sehen, die Flammen wurden zitronengelb und metallisch golden, während der Kohlenstaub hindurchflog, kleine züngelnde zitternde Purpurfleckchen, gespenstische Flammen, die kein Licht gaben, zwischen den schwarzen Kohlenreihen emporschlüpften.

Es war herrlich im Bett, und das Haus würde warm für sie sein, wenn sie aufstand. Was war sie doch für ein nutzloses Ding! Was waren ihre Bestrebungen neben seiner Tüchtigkeit?

Als er ins Bett stieg, erwachte sie wieder.

»Es kommt mir vor, als wären erst ein paar Minuten vergangen, seitdem du weg bist!«

»Ich war vier Stunden weg. Ich hab' in einer Küche an einer Frau eine Blinddarmoperation gemacht. Beinah wär' sie mir unterm Messer gestorben, aber ich hab' sie noch durchgebracht. Grade noch dran vorbeigerutscht. Barney sagt, am letzten Sonntag hat er zehn Kaninchen geschossen.«

Er schlief sofort ein – eine Stunde der Ruhe, bevor er aufstehen und für die Farmer bereit sein mußte, die früh kamen. Sie wunderte sich darüber, daß er in einem Zeitraum, der für sie nur ein verschwommener Augenblick der Nacht war, weit draußen gewesen sein, sich um ein fremdes Haus gekümmert, eine Frau aufgeschnitten, ein Leben gerettet haben sollte.

Kein Wunder, daß er den trägen Westlake und McGanum verachtete! Wie konnte der bequeme Guy Pollock diese Geschicklichkeit und diese Ausdauer verstehen?

Dann knurrte Kennicott: »Viertel acht! Willst du denn überhaupt nicht zum Frühstück aufstehen?« Das war kein Held der Wissenschaft mehr, sondern ein ziemlich nervöser und gewöhnlicher Mann, der sich rasieren mußte. Sie tranken Kaffee, aßen Pfannkuchen und Wurst und sprachen über Frau McGanums scheußlichen Krokodilledergürtel. Der zauberhafte Spuk der Nacht und die Ernüchterung des Morgens wurden beide unter den Wirklichkeiten und dem Alltag vergessen.

2

Ein gewohnter Anblick für die Frau des Arztes war der Mann mit dem verletzten Bein, der am Sonntagnachmittag vom Land hereingefahren und ins Haus gebracht wurde. Er saß auf einem Schaukelstuhl in einem schweren Wagen, das Gesicht bleich von den Schmerzen, die das Rütteln verursachte. Sein Bein war ausgestreckt, ruhte auf einer Kiste und war mit einer Pferdedecke zugedeckt. Seine brave Frau kutschierte und half Kennicott, ihn zu stützen, als er über die Stufen ins Haus hinaufhumpelte.

»Einer, der sich mit der Axt ins Bein gehauen hat, ziemlich schlimme Wunde, Halvor Nelson, neun Meilen draußen«, erklärte Kennicott.

Carola zog sich zitternd ans andere Ende des Zimmers zurück, war kindisch aufgeregt, wenn sie um Handtücher und ein Waschbecken mit Wasser geschickt wurde. Kennicott hob den Farmer in einen Sessel und lachte: »Na also, Halvor. In einem Monat werden Sie wieder arbeiten und Aquavit trinken können.« Die Farmersfrau saß auf dem Sofa, ausdruckslos, plump in einem Männermantel aus Hundefell.

Kennicott zog die dicke »deutsche Socke«, die vielen anderen Socken aus grauer und weißer Wolle herunter, dann die Bandage. Das Bein hatte ein krankhaft totes Weiß, die schwarzen Haare waren schwach und dünn und plattgedrückt, der Schnitt war ein zerfetzter purpurroter Strich.

Kennicott untersuchte die Wunde, lächelte Halvor und seiner Frau zu, rief fröhlich: »Schön, wahrhaftig! Könnte gar nicht besser sein!«

Die Nelsons sahen aus, als ob sie etwas auf dem Herzen hätten. Der Farmer nickte seiner Frau zu, und diese fragte traurig:

»Ja, also, Doktor, wieviel sind wir Ihnen schuldig?«

»Na, das werden – wollen mal sehen: eine Fahrt hinaus und zwei Besuche. Es werden im ganzen so elf Dollar sein, Lena.«

»Ich weiß nicht, Doktor, ob wir Ihnen jetzt schon zahlen können.«

Kennicott ging auf sie zu, klopfte ihr auf die Schulter und brüllte: »Aber, weiß Gott, Schwester, ich werd' nicht klagen, und wenn ich's nie krieg'. Sie zahlen mir im nächsten Herbst, wenn Sie Ihre Ernte reinhaben … Carrie, du oder Bea, einer von euch kann schnell 'ne Tasse Kaffee und ein bißchen kalten Hammel für die Nelsons reinbringen. Sie haben 'ne lange, kalte Fahrt vor sich.«

3

In den Tagen der ersten Liebe hatte Kennicott ihr die Photographie von Nels Erdstroms kleinem Kind und der Blockhütte gezeigt, doch sie hatte die Erdstroms nie zu Gesicht bekommen. Sie waren bloße »Patienten« des Doktors geworden. An einem Nachmittag in der Mitte des Dezembers telephonierte Kennicott ihr: »Möchtest du dir den Mantel anziehen und mit mir zu Erdstroms hinausfahren? Es ist ziemlich warm. Nels hat die Gelbsucht.«

»O ja!« Hastig legte sie Wollstrümpfe, hohe Schuhe, Sweater, Schal, Mütze und Fäustlinge an.

Der Schnee lag zu hoch, und die Fahrgeleise waren zu hart gefroren, als daß man mit dem Automobil hätte fahren können. Sie benützten einen plumpen, hohen Wagen. Von der Prärie fuhren sie in gerodetes Land, das vor zwanzig Jahren noch Wald gewesen war. Gleichmäßig schien sich das Land bis zum Nordpol zu dehnen; niedrige Hügel, buschbewachsener Boden, schilfbestandene Wasserläufe, Bisamrattenhügel, Äcker mit gefrorenen braunen Klumpen, die durch den Schnee emporragten.

»Es wird kälter«, sagte sie.

»Ja.«

Das war die ganze Unterhaltung während dreier Meilen. Doch sie war glücklich.

Um vier kamen sie zu Nels Erdstrom, und erschüttert erkannte sie den kühnen Wagemut wieder, der sie nach Gopher Prairie gelockt hatte: die gerodeten Äcker, Furchen zwischen den Baumstümpfen, eine Blockhütte, mit Lehm verschmiert und mit trockenem Heu gedeckt. Aber Nels war hochgekommen. Er benützte die Blockhütte als Scheune; ein neues Haus erhob sich, ein stolzes, dummes Gopher-Prairie-Haus, das mit seinem weißen Verputz und den rosa Vertrumpfungen nur um so nackter und anmutloser aussah. Alle Bäume waren gefällt worden. Das Haus war so schutzlos, so dem Wind preisgegeben, so unfreundlich mitten in die rauhe Lichtung gesetzt, daß es Carola schauderte. Allein sie wurden mit warmer Herzlichkeit begrüßt, in der Küche mit der neuen Bemalung, mit dem schwarzen und nickelglitzernden Herd und der Milchzentrifuge, die in einer Ecke stand.

Carola sah einen Jungen von vier oder fünf Jahren, der sie neugierig anstarrte. Ihr fiel etwas ein – was war es nur? Ja – Kennicott saß neben ihr am Fort Snelling und drängte: »Sieh doch, wie verschüchtert das Kleine ist, es braucht eine Frau wie dich.«

Dann klingelte das Telephon, zweimal lang, einmal kurz. Frau Erdstrom lief ins Zimmer und schrie ins Mikrophon: »Hallo? Ja, ja, hier Erdstrom. He? Ach so, Sie wollen den Doktor?«

Kennicott kam und knurrte ins Telephon:

»Ja, was gibt's? Ah, hallo, Dave; was wollen Sie? Welcher Morgenroth? Adolph? Gut. Amputieren? Aha, verstehe. Hören Sie, Dave, Gus soll einspannen und mir mein chirurgisches Besteck hinbringen. Chloroform soll er auch mitbringen. Ich fahr' direkt von hier hin. Vielleicht komm' ich heute nicht mehr nach Haus. Sie können mich bei Adolph erreichen. Wie? Nein, Carrie kann die Narkose machen, glaub' ich. Wiedersehn. Wie? Nein; erzählen Sie mir das morgen – auf den Farmerlinien hören zuviel Leute mit.«

Er wandte sich zu Carola um. »Adolph Morgenroth, Farmer, zehn Meilen südwestlich der Stadt. Er hat sich den Arm zerschmettert – hat seinen Kuhstall gesprengt, ein Pfosten ist auf ihn gefallen – hat ihn ziemlich übel zermalmt – ich werd' vielleicht amputieren müssen, sagt Dave Dyer. Wir werden direkt von hier hin müssen. Tut mir leid, daß ich dich so weit mit mir rumschleppen muß –«

»Du brauchst gar keine Rücksicht auf mich zu nehmen.«

»Glaubst du, daß du eine Narkose machen könntest? Sonst macht sie immer mein Fahrer.«

»Du mußt mir nur sagen, wie ich's machen soll.«

»Schön … Also, Bessie, machen Sie sich keine Sorgen über Nels, der rappelt sich schon wieder hoch. Morgen fahren Sie oder einer von den Nachbarn hinein und lassen das Rezept da bei Dyer machen. Geben Sie ihm alle vier Stunden einen Teelöffel voll. Auf Wiedersehn.«

Der Weg zu Morgenroths Farm war kalt und holprig, und als sie hinkamen, war Carola eingeschlafen.

Hier gab es kein schimmerndes neues Haus mit einem stolzen Grammophon, hier war eine niedrige, getünchte Küche, die nach Milch und Kohl roch. Adolph Morgenroth lag auf einem Sofa in dem selten benützten Eßzimmer. Seine schwere, abgearbeitete Frau rang ängstlich die Hände.

Carola meinte, Kennicott würde etwas Großartiges und Erhebendes tun. Aber er war gleichgültig. Er begrüßte den Mann: »Also, also, Adolph, ich muß Sie wieder in Ordnung bringen, was?« Dann fragte er ruhig die Frau: »Hat die Drogerie meine schwarze Tasche hergeschickt? So, schön. Wieviel Uhr ist's? Sieben? Na, zuerst wollen wir ein bißchen essen. Haben Sie noch was von dem guten Bier?«

In vier Minuten hatte er gegessen. Ohne Rock, mit aufgerollten Hemdsärmeln, bürstete er seine Hände in einem Zinnbecken im Ausguß, mit der gelben Küchenseife.

Carola hatte nicht gewagt, ins andere Zimmer zu blicken, während sie das auf den Küchentisch gesetzte Abendessen, Bier, Roggenbrot, feuchtes Corned Beef und Kohl, herunterwürgte. Der Mann dort drinnen stöhnte. Er lag wie eine Leiche unter einem Leintuch, auf dem sein rechter Arm, in blutgetränkte Handtücher gehüllt, ruhte.

Doch Kennicott schritt munter ins andere Zimmer, und sie folgte ihm. Mit einer zarten Geschicklichkeit, die an seinen plumpen Fingern überraschte, nahm er die Handtücher ab und entblößte einen Arm, der vom Ellbogen abwärts eine Masse aus Blut und rohem Fleisch war. Der Mann schrie auf. Das Zimmer um sie wurde trübe; es war ihr sehr schlecht; sie floh zu einem Stuhl in der Küche. Durch den Nebel ihrer Übelkeit hörte sie Kennicott brummen: »Wird leider runter müssen, Adolph. Was haben Sie gemacht? Auf ein Mähmaschinenmesser gefallen? Wir werden die Sache schon in Ordnung bringen. Carrie! Carola!«

Sie konnte nicht – sie konnte nicht aufstehen. Dann stand sie, ihre Knie waren wie Wasser, der Magen drehte sich ihr tausendmal in einer Sekunde um, ihre Augen verschleierten sich, in ihren Ohren toste es. Sie konnte nicht bis ins Speisezimmer kommen. Sie mußte ohnmächtig werden. Dann war sie im Speisezimmer, lehnte an der Wand, wollte lächeln, an Brust und Seiten überlief es sie heiß und kalt, während Kennicott murmelte: »Hör mal, hilf Frau Morgenroth und mir ihn auf den Küchentisch tragen. Nein, zuerst geht hinaus, schiebt die zwei Tische dort aneinander und legt eine Decke und ein sauberes Leintuch drauf.«

Es war eine Erlösung, die schweren Tische zu schieben, sie zu säubern, das Leintuch sorgfältig glatt zu legen. Ihr Kopf wurde klarer; sie war imstande, ruhig zuzusehen, wie ihr Mann und die Frau den jammernden Mann auszogen, ihn in ein reines Nachthemd bekamen und seinen Arm abwuschen. Kennicott kam seine Instrumente herrichten. Sie begriff, daß ihr Mann – ihr Mann – ohne die Hilfsmittel einer Klinik, ohne sich darum zu bekümmern, eine chirurgische Operation durchführen würde, eine jener wunderbaren Heldentaten, von denen man in Büchern über berühmte Chirurgen las.

Sie half ihnen, Adolph in die Küche zu schaffen. Der Mann hatte solche Angst, daß er seine Beine nicht gebrauchen wollte. Er war schwer und roch nach Schweiß und Stall. Allein sie legte ihm den Arm um die Taille, ihr Kopf war an seiner Brust; sie schleppte ihn.

Als Adolph auf dem Tisch lag, breitete Kennicott ein halbkugelförmiges Gestell aus Stahl und Baumwolle über sein Gesicht und sagte zu Carola: »Jetzt setzt du dich hierher an seinen Kopf und läßt den Äther tropfen – ungefähr in der Geschwindigkeit, siehst du? Ich beobachte seinen Atem. Na, sieh mal! Eine richtige Assistentin! Ochsner hat keine bessere gehabt! Klasse, was? … Na, na, Adolph, nur ruhig. Das tut Ihnen gar nicht weh. Das wird Ihnen wohltun und Sie einschläfern und wird Ihnen gar nicht weh tun. Nicht reden! Bald schläft man wie ein Kind. So! So! Gleich ist es besser!«

Während sie den Äther tropfen ließ und sich aufgeregt Mühe gab, den Rhythmus einzuhalten, den Kennicott gezeigt hatte, starrte sie ihren Mann in überströmender Heldenverehrung an.

Er schüttelte den Kopf. »Schlechtes Licht – schlechtes Licht. Hier, Frau Morgenroth, Sie stellen sich hierher und halten diese Lampe. Hierher, und diese Lampe – diese Lampe halten – so!«

Bei dieser ungleichmäßigen Beleuchtung arbeitete er, rasch und leicht. Im Zimmer war es still. Carola bemühte sich, nur ihn anzusehen, nicht das fließende Blut, den roten Schnitt, das grausame Skalpell. Die Ätherdünste waren süß, benahmen den Atem. Der Kopf schien ihr vom Körper wegzuschweben. Ihr Arm war schwach.

Nicht das Blut, sondern das Knirschen der Knochensäge auf dem lebendigen Knochen gab ihr den Rest, und sie wußte, daß sie mit der Übelkeit gekämpft hatte, daß sie von ihr besiegt war. Es schwindelte ihr. Sie hörte Kennicotts Stimme:

»Schlecht? Geh für ein paar Minuten an die Luft. Adolph bleibt jetzt schon unter Narkose.«

Sie tappte an einem Türschloß herum, das sich in wahnsinnigen Kreisen herumdrehte; sie war auf der Schwelle, keuchte, atmete gewaltsam Luft in die Brust, ihr Kopf wurde klarer. Als sie zurückkam, sah sie das Bild als Ganzes: die kellerähnliche Küche, zwei Milchkannen an der Wand, Schinken, die an einer Stange baumelten, Lichtstreifen an der Ofentür, und in der Mitte, im Licht einer kleinen Küchenlampe, die eine erschrockene, untersetzte Frau hielt, beugte sich Dr. Kennicott über einen Körper unter einem Leintuch – der Chirurg, die nackten Arme mit Blut beschmiert, seine Hände mit den hellgelben Gummihandschuhen lockerten die Aderpresse, sein Gesicht zeigte nur dann Bewegung, wenn er den Kopf hochhob und der Farmersfrau beruhigend zurief: »Halten Sie das Licht nur noch eine Sekunde ruhig – nur noch ein wenig.«

»Er spricht ein gemeines, gewöhnliches, unkorrektes Deutsch von Leben und Tod und Geburt und Dreck. Ich lese das Französisch und das Deutsch der sentimentalen Liebespaare. Und mich hab' ich für die Gebildete gehalten!« dachte sie anbetungsvoll, während sie auf ihren Platz zurückkehrte.

Nach einer Weile sagte er kurz: »Das genügt. Gib ihm keinen Äther mehr.« Seine Gedanken waren beim Abbinden einer Arterie. Seine Barschheit kam ihr heroisch vor.

Als er den Fleischlappen zurechtlegte, murmelte sie: »Ach, du bist wirklich wundervoll!«

Er war überrascht. »Nanu, das ist doch eine Kleinigkeit. Ja, wenn es so gewesen wär' wie vorige Woche – gib mir noch Wasser. Also – vorige Woche hatt' ich 'n peritonitisches Exsudat, und, weiß der liebe Himmel, dann war's 'n perforierter Magen, auf den ich gar nicht gefaßt war, und – So. Hör mal, ich bin wirklich schläfrig. Bleiben wir hier. Es ist zu spät zum Nachhausefahren. Außerdem sieht mir's so aus, als ob ein Sturm käme.«

4

Sie schliefen auf einem Federbett, mit ihren Pelzmänteln zugedeckt; am Morgen mußten sie das Eis im Waschkrug aufschlagen.

Kennicotts Sturm war nicht gekommen. Als sie aufbrachen, war es neblig und wurde wärmer. Nach einer Meile sah sie, daß er eine dunkle Wolke im Norden studierte. Er trieb die Pferde an. Allein in ihrem Staunen über die tragische Landschaft vergaß sie seine ungewohnte Eile. Der helle Schnee, die Stacheln der alten Stoppelfelder und die Klumpen zerfetzten Gebüschs verschwammen in finsteres Grau. Unter den Anhöhen lagen kalte Schatten. Die Weiden um ein Farmhaus wurden von dem lebhafter werdenden Wind bewegt, und die Flecken nackten Holzes an den Stellen, wo die Rinde sich abgeschält hatte, waren weiß wie das Fleisch eines Aussätzigen. Das ganze Land war grausam, und eine aufsteigende schwarze Wolke mit grauen Rändern beherrschte den Himmel.

»Das sieht nach einem Blizzard aus«, meinte Kennicott. »Aber bis zu Ben McGonegal können wir auf jeden Fall noch kommen.«

»Ein Blizzard? Wirklich? Und als ich ein Mädchen war, hat es uns immer Spaß gemacht! Papa mußte zu Haus bleiben und konnte nicht aufs Gericht, und wir haben am Fenster gestanden und dem Schnee zugesehen.«

»Auf der Prärie ist es kein Spaß. Man verirrt sich. Erfriert und stirbt. Wir dürfen nichts riskieren.« Er lockte die Pferde. Diese flogen jetzt dahin, der Wagen schaukelte in den harten Fahrgeleisen.

Die ganze Luft kristallisierte sich plötzlich in große feuchte Schneeflocken. Die Pferde und die Büffelhautdecke wurden von den Flocken zugedeckt. Ihr Gesicht wurde naß; der dünne Peitschenstiel bekam einen spitzen weißen Rand. Die Luft wurde kälter. Die Schneeflocken waren härter; sie schossen in horizontalen Linien heran, schnitten ihr ins Gesicht.

Sie konnte keine hundert Fuß vor sich sehen.

Kennicott war ernst. Er beugte sich vor, die Zügel fest in den Waschbärhandschuhen. Sie war sicher, daß er durchkommen würde. Er kam immer durch.

Nur er blieb, sonst verschwand die Welt und alles gewöhnliche Leben. Sie waren in wirbelndem Schnee verloren. Er beugte sich zu ihr, um ihr zuzuschreien: »Ich werd' den Pferden ihren Willen lassen. Die bringen uns schon nach Hause.«

Mit einem fürchterlichen Stoß kamen sie von der Straße herunter, schleiften mit zwei Rädern im Graben, aber sofort wurden sie wieder zurückgeworfen, als die Pferde weiterflogen. Sie schnappte nach Luft. Sie bemühte sich, tapfer zu sein, als sie die Wolldecke ums Kinn zog, aber es gelang ihr nicht.

Rechts von ihnen schoß etwas vorbei, das wie eine dunkle Mauer aussah. »Den Schuppen kenn' ich!« brüllte er. Er zog an den Zügeln. Aus den Decken hervorlugend, sah sie, daß er sich auf die Unterlippe biß, während er immer wieder die galoppierenden Pferde aufzuhalten suchte, indem er an den Zügeln scharf riß und ruckte. Sie blieben stehen.

»Dort ist ein Farmhaus. Nimm die Decke um und komm«, rief er.

Aus dem Wagen zu steigen, war wie ein Sprung in eiskaltes Wasser; als sie aber auf dem Boden stand, lächelte sie ihm zu, mit dem kleinen und kindlichen, geröteten Gesicht über der Büffelhautdecke, die sie um die Schultern geworfen hatte. In einem Wirbel von Flocken, die an ihren Augen kratzten, als wäre das Dunkel wahnsinnig geworden, machte er die Schnallen des Geschirrs auf. Er drehte sich um und ging mühsam rückwärts, eine wuchtige verschwommene Gestalt, die Zügel haltend; Carola hängte sich an seinen Ärmel und ließ sich mitschleppen.

Sie kamen zu einer plumpen Scheune, deren Außenwand direkt an der Straße stand. Sich entlang tappend, fand er ein Tor, führte sie in einen Hof, in den Schuppen. Drinnen war es warm. Die schlaffe Stille betäubte sie.

Sorgfältig brachte er die Pferde unter.

Ihre Zehen glühten vor Schmerz. »Laufen wir zum Haus«, sagte sie.

»Unmöglich. Noch nicht. Wir würden vielleicht nie hinfinden. Zehn Fuß von hier könnten wir uns verirren. Setz dich nur dort in den Stall, ganz nahe zu den Pferden. Zum Haus wollen wir, wenn der Schneesturm nachläßt.«

»Ich bin so steif! Ich kann nicht gehen!«

Er trug sie in den Stall, nahm ihr Überschuhe und Schuhe ab und hörte auf, sich die roten Finger zu blasen, während er an ihren Schnürsenkeln herumarbeitete. Er rieb ihr die Füße und hüllte sie in die Büffelhautdecke und in Pferdedecken von dem Stapel auf der Futterkiste ein. Sie war verschlafen, ganz im Sturm verloren. Sie seufzte: »Du bist so stark und doch so geschickt und hast keine Angst vor Blut oder Schnee oder –«

»Ich bin dran gewöhnt. Unangenehm war mir nur gestern abend, daß die Ätherdämpfe jeden Augenblick explodieren konnten.«

»Das versteh' ich nicht.«

»Ja, Dave, der verdammte Trottel, hat mir Äther geschickt statt Chloroform, wie ich ihm gesagt hatte, und du weißt, Ätherdämpfe sind kolossal leicht entzündbar, besonders wenn die Lampe direkt am Tisch ist. Aber ich hab' natürlich operieren müssen – die Wunde war ja ganz voller Schmutz vom Scheunenhof.«

»Du hast die ganze Zeit gewußt, daß – Du und ich, wir beide hätten in die Luft fliegen können? Das hast du gewußt, während du operiert hast?«

»Freilich. Du nicht? Na, was ist denn schon dabei?«


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