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Siebenundzwanzigstes Kapitel

1

Bei einem Abendessen der Lustigen Siebzehn im August hörte Carola durch Frau Dave Dyer von »Elizabeth«.

Carola hatte Maud Dyer gern, weil diese in der letzten Zeit besonders liebenswürdig gewesen war; sie bereute offenbar die gereizte Unfreundlichkeit, die sie früher an den Tag gelegt hatte.

Frau Dyer schwatzte: »Oh, habt ihr schon von dem jungen Menschen gehört, der vor kurzem hergekommen ist, und den die Jungen ›Elizabeth‹ nennen? Er arbeitet bei Nat Hicks in der Schneiderwerkstatt. Er verdient sicher keine achtzehn Dollar in der Woche, aber weiß Gott! er ist die vollendete Dame! Er redet so fein, und, ach, wie er sich tut – Jacke mit Gürtel und Piquékragen mit 'ner goldenen Nadel, und Socken, die zur Krawatte passen, und wirklich – ihr werdet mir's nicht glauben, aber ich weiß es ganz genau – der Mensch, ihr wißt, er wohnt in der schäbigen alten Pension von Frau Gurrey, und er soll Frau Gurrey gefragt haben, ob er sich zum Abendessen einen Smoking anziehen soll! Stellt euch das mal vor! Könnt ihr das begreifen? Und er ist nichts weiter als 'n schwedischer Schneider – Erik Valborg heißt er. Aber er war 'ne Zeitlang bei 'nem Schneider in Minneapolis und will zeigen, daß er 'n richtiger Stadtmensch ist. Er soll auch den Leuten einreden wollen, daß er Dichter ist – er schleppt immer Bücher mit und tut so, als ob er drin lesen würde. Myrtle Cass sagt, sie hat ihn bei 'ner Tanzerei kennengelernt, und er hat überall rumgehimmelt und sie gefragt, ob sie Blumen und Gedichte und Musik und alles das gern hat; er hat getan wie 'n richtiger United-States-Senator; und Myrtle – das ist ein Luder, das Mädel, ha! ha! – die hat ihn zum Narren gehalten und hat ihn in Schuß gebracht, und tatsächlich, was meint ihr, hat er gesagt? Er hat gesagt, er kann keine ›geistige Kameradschaft‹ hier finden. Könnt ihr das begreifen? Stellt euch das bloß mal vor! 'n schwedischer Schneider! Die Jungens nennen ihn ›Elizabeth‹ und halten ihn an und fragen ihn nach den Büchern, die er angeblich liest, und er erzählt ihnen was, und sie ziehen ihn alle schrecklich auf, und er kapiert nie, daß sie ihn zum besten haben. Ach, das ist doch wirklich zu komisch!«

Die Lustigen Siebzehn lachten, und Carola lachte mit ihnen. Frau Jack Elder fügte hinzu, daß dieser Erik Valborg Frau Gurrey gestanden hätte, er würde »so gern Damenkleider entwerfen«. Man denke! Frau Harvey Dillon hatte ihn flüchtig gesehen, aber sie hielt ihn wirklich für schrecklich hübsch. Dem wurde augenblicklich von Frau B.J. Gougerling, der Frau des Bankiers, widersprochen. Frau Gougerling hatte sich, wie sie berichtete, diesen Valborg gut ansehen können. Sie und B.J. seien im Automobil an »Elizabeth« vorbeigekommen. Er habe schreckliche Kleider angehabt, an der Taille anliegend wie bei einem Mädel. Er hätte auf einem Felsen gesessen und habe nichts getan, als er aber das Automobil kommen hörte, habe er ein Buch aus der Tasche genommen und, um Eindruck zu schinden, so getan, als ob er läse. Und hübsch sei er gar nicht gewesen –

2

Sie war bei der Sonntagmorgen-Andacht in der Baptistenkirche und saß in einer feierlichen Reihe mit ihrem Mann, Hugh, Onkel Whittier und Tante Bessie.

Trotz Tante Bessies Nörgeleien gingen die Kennicotts selten in die Kirche. Der Doktor erklärte: »Freilich, die Religion ist 'ne schöne Sache – man muß sie haben, um die unteren Klassen in Ordnung zu halten – tatsächlich, sie ist das einzige, was auf diese Leute Eindruck macht und ihnen Respekt vor den Rechten des Besitzes beibringt. Und ich glaub' auch, diese Theologie ist in Ordnung; 'ne Menge gescheite alte Hühner haben sich das Ganze ausgedacht, und die haben mehr davon verstanden als wir.« Er glaubte an die christliche Religion und dachte nie an sie; er glaubte an die Kirche und kam selten in ihre Nähe; er war entsetzt von Carolas Glaubenslosigkeit und war nicht ganz sicher, was für ein Glaube es eigentlich war, der ihr fehlte.

Carola war eine unbequeme und eifernde Agnostikerin.

An diesem Augustsonntag hatte sie sich von der Ankündigung verlocken lassen, daß der Reverend Edmund Zitterel über das Thema predigen werde: »Amerika, blick deinen Problemen ins Auge!« Der Weltkrieg, in allen Völkern Arbeiter, welche die Industrie in die Hand zu bekommen wünschten, in Rußland die Möglichkeit einer Linksrevolution gegen Kerenski, das kommende Frauenstimmrecht – es schien eine Menge Probleme zu geben, zu deren Betrachtung der Reverend Herr Zitterel Amerika auffordern konnte.

Der Priester war ein magerer, brünetter, junger Mann mit Ponyfrisur. Er hatte einen schwarzen Sakkoanzug an, dazu eine lila Krawatte. Es stellte sich heraus, daß die einzigen Probleme, denen Amerika ins Auge zu schauen hatte, das Mormonentum und die Prohibition waren.

»… und hier glaube ich, müßte die Gesetzgebung einschreiten –«

Bei dieser Stelle wachte Carola auf.

Sie schlug drei Minuten tot, indem sie das Gesicht eines Mädchens vor ihr studierte und darüber nachdachte, wer das Mädchen sein könnte. Sie hatte sie bei Kirchen-Abendessen gesehen. Sie dachte daran, wie viele von den dreitausend Leuten im Ort sie nicht kannte; für wie viele von diesen der Thanatopsis und die Lustige Siebzehn Gipfel gesellschaftlicher Vornehmheit waren; wie viele unter Sorgen litten, die größer waren als die ihren – und mit mehr Mut getragen wurden.

Sie untersuchte ihre Nägel. Sie las zwei Lieder. Es befriedigte sie ein wenig, einen juckenden Knöchel zu reiben. Sie bettete den Kopf des Kindes an ihre Schulter, das jetzt, nachdem es eine Weile die Zeit auf dieselbe Weise wie seine Mutter totgeschlagen hatte, so glücklich war, einzuschlafen. Sie sah sich um. Sie dachte, es würde liebenswürdig sein, Frau Champ Perry zu grüßen.

Elektrisiert hörte ihr Kopf plötzlich auf sich zu drehen.

Auf der anderen Seite, zwei Reihen weiter hinten, saß ein fremder junger Mann, der zwischen diesen wiederkäuenden Bürgern strahlte wie ein Gast von der Sonne – blonde Locken, niedrige Stirn, schöne Nase, ein Kinn, das glatt, aber nicht aufgerauht vom Sonntagsrasieren war. Seine Lippen erschreckten sie. Die Lippen der Menschen in Gopher Prairie liegen flach im Gesicht, gerade und mürrisch. Der Mund des Fremden war gewölbt, die Oberlippe kurz. Er hatte eine braune Wolljacke an, eine leuchtend blaue Schleife, ein weißes Seidenhemd, weiße Flanellhosen.

Jemand aus Minneapolis, der aus geschäftlichen Gründen hier war? Nein. Das war kein Geschäftsmann. Das war ein Dichter. Keats stand in seinem Gesicht und Shelley, und Arthur Upson, den sie einmal in Minneapolis gesehen hatte.

Mit unterdrückter Belustigung hörte er dem lärmenden Herrn Zitterel zu. Carola schämte sich, daß dieser Spion aus der großen Welt das Gefasel des Pastors hörte. Sie fühlte sich verantwortlich für den ganzen Ort. Sie ärgerte sich darüber, daß er über diese Privatriten lachte. Sie wurde rot, wandte sich ab. Aber auch dann noch fühlte sie, daß er da war.

Wie konnte sie ihn kennenlernen? Sie mußte! Um eine Stunde mit ihm zu sprechen. Er war alles, wonach es sie hungerte. Sie konnte ihn nicht gehen lassen, ohne mit ihm geredet zu haben – und doch würde sie es tun müssen.

Nach dem Gottesdienst stand sie auf, nahm sorglich Kennicotts Arm und lächelte ihm stumm zu: was immer auch geschehen sollte, sie würde ihm treu sein. Hinter den zartbraunen Wollschultern des Rätsels ging sie aus der Kirche.

Fatty Hicks, der laute und dicke Sohn Nats, zeigte mit der Hand auf den schönen Fremden und höhnte: »Was macht das Bubi? Wieder mal fein herausgeputzt, was?«

Carola hatte ein Gefühl der Übelkeit. Ihr Herold von der Außenwelt war Erik Valborg. »Elizabeth«.

3

Sie aßen bei den Smails zu Mittag. Carola fragte gleichgültig:

»Äh – Will, ob' der junge Mann in den weißen Flanellhosen heute vormittag in der Kirche nicht der Valborg war, von dem alle Leute reden?«

»Ja. Das ist er. Was der angehabt hat, was!« Kennicott kratzte einen weißen Fleck von seinem braunen Rockärmel ab.

»Ich hab's gar nicht so schlimm gefunden. Wo er wohl herkommt? Er scheint ziemlich viel in Städten gelebt zu haben. Ist er aus dem Osten?«

»Osten? Der? Nanu, der kommt von einer Farm hier oben im Norden. Seinen Vater kenn' ich flüchtig – Adolph Valborg – typischer, verdrehter, alter, schwedischer Bauer.«

»So, wirklich?«

»Ich glaub', er hat aber tatsächlich einige Zeit in Minneapolis gelebt. Hat dort sein Handwerk gelernt, und ich muß sagen, er hat auch irgend was los. Liest 'ne Menge. Pollock sagt, er holt sich mehr Bücher aus der Bibliothek als sonst wer in der Stadt.«

Onkel Whittier bemächtigte sich des Gesprächs. »Der Bursche, der bei Hicks arbeitet? 'n Schlappschwanz ist er. 's geht mir auf die Nerven, wenn ich mit ansehn muß, daß 'n junger Kerl, der im Krieg sein oder sich wenigstens draußen aufm Feld ehrlich sein Brot verdienen sollte, wie ich's als junger Mensch gemacht hab', wenn so 'n Kerl Weiberarbeit tut und sich dann noch hinstellt und anzieht wie 'n Komödiant! Du lieber Gott, wie ich in seinem Alter war –«

Carola dachte, das Tranchiermesser würde einen ausgezeichneten Dolch abgeben, um Onkel Whittier damit zu ermorden. Es würde so leicht hineingehen. Die Zeitungsüberschriften würden schrecklich aussehen.

Kennicott blieb ruhig und sagte: »Oh, ich will nicht ungerecht gegen ihn sein. Ich glaub', er hat sich gestellt und untersuchen lassen. Er hat Krampfadern – nicht schlimm, aber so, daß er untauglich ist. Trotzdem muß ich sagen, er sieht mir nicht danach aus, als ob er besonders scharf drauf war', sein Bajonett einem Hunnen in den Bauch zu jagen.«

»Will! Bitte!«

»Na, er wird ja nicht. Sieht mir 'n bißchen schlapp aus. Und er soll auch, wie er sich am Sonnabend das Haar hat schneiden lassen, gesagt haben, er würde gern Klavierspielen können.«

»Ist es nicht wunderbar, daß wir in so einem Ort wie hier alles voneinander wissen«, sagte Carola unschuldig.

Kennicott war mißtrauisch, aber Tante Bessie, die gerade den Flammerie mit Himbeersauce auftischte, stimmte zu: »Ja, es ist wunderbar. In den fürchterlichen Großstädten können die Leute mit ihren Gemeinheiten und Sünden weiterkommen, aber hier nicht. Heute vormittag hab' ich beobachtet, daß der Schneider, wie Frau Riggs ihm angeboten hat, mit ihr in ihr Gesangbuch zu schauen, den Kopf geschüttelt hat, und während wir gesungen haben, hat er die ganze Zeit dagestanden wie ein Holzklotz und hat den Mund überhaupt nicht aufgemacht. Alle sagen, er bildet sich ein, daß er weiß Gott wieviel bessere Manieren und so weiter hat als wir, aber wenn er das gute Manieren nennt, na, dann weiß ich nicht!«

Carola betrachtete wieder das Tranchiermesser, Blut auf dem schneeweißen Tischtuch müßte wunderschön aussehen.

Dann: »Gans! Hysterische Phantastin! Sich Märchen erzählen – mit dreißig … Du lieber Gott, bin ich wirklich dreißig? Der Junge kann nicht älter sein als fünfundzwanzig.«

4

Sie machte einen Besuch.

Bei der Witwe Bogart wohnte Fern Mullins, ein Mädchen von zweiundzwanzig Jahren, das im kommenden Schuljahr Englisch-, Französisch- und Turnunterricht geben sollte. Fern Mullins war schon früher hergekommen, um dem Sechswochen-Kurs für Landlehrer beizuwohnen. Carola hatte sie auf der Straße gesehen und über sie fast ebensoviel gehört wie über Erik Valborg. Die neue Lehrerin war schlank, fast etwas dürftig, hübsch und unverbesserlich salopp. »Sie sieht aus, wie 'n ganz leichtfertiges Ding«, sagten alle Frau Sam Clarks mißbilligend und alle Juanita Haydocks neidvoll.

An diesem Sonntagnachmittag saßen die Kennicotts in breiten Liegestühlen neben dem Haus und sahen Fern mit Cy Bogart lachen, der wohl noch in der Hochschule, aber schon ein ganzer Mannskerl war, nur zwei oder drei Jahre jünger als Fern. Cy mußte wegen wichtiger Angelegenheiten, die mit dem Billardzimmer zu tun hatten, in die Stadt. Fern saß wieder niedergeschlagen auf ihrer Veranda, das Kinn in die Hand gestützt.

»Sie sieht 'n bißchen einsam aus«, sagte Kennicott.

»Wirklich, das arme Ding. Ich denke, ich geh' hinüber und unterhalt' mich ein bißchen mit ihr. Ich hab' sie bei Dave kennengelernt, aber noch nicht besucht.« Carola glitt über den Rasen, eine weiße Gestalt in der Dämmerung, über das tauige Gras huschend. Erik fiel ihr ein, sie dachte daran, daß sie nasse Füße bekam, ihr Gruß klang uninteressiert: »Hallo! Der Doktor und ich haben gemeint, Sie fühlen sich vielleicht einsam.«

Verdrießlich: »Das bin ich auch!«

Carola wurde wärmer. »Meine Liebe, man hört's Ihnen auch an! Ich weiß, wie das ist. Ich war auch immer müde, wie ich noch in Stellung war – ich war Bibliothekarin. In welchem College waren Sie? Ich war im Blodgett.«

»Ich war an der Universität von Minnesota.« Dann etwas interessierter: »Wo waren Sie Bibliothekarin?«

»In St. Paul – an der Hauptbibliothek … Haben Sie im College einen Theaterverein gehabt? Ich hab' hier mal versucht, etwas mit einer Kleinbühne zu machen. Es war schauderhaft. Davon muß ich Ihnen erzählen –«

Als Kennicott zwei Stunden später über den Rasen kam, Fern begrüßte und gähnte: »Hör mal, Carrie, meinst du nicht, wir sollten ans Schlafengehen denken? Ich hab' morgen 'nen ziemlich schweren Tag«, sprachen die beiden so eifrig, daß sie einander beständig unterbrachen.

Als Carola zum Haus hinüberging, vom Gatten geleitet, die Röcke zierlich geschürzt, jubelte es in ihr: »Alles ist anders geworden! Ich habe zwei Freunde, Fern und – Aber wer ist denn der andere? Das ist komisch; ich dachte, es wäre noch – Ach, wie abgeschmackt!«

5

Sie begegnete Erik Valborg oft auf der Straße; die braune Wolljacke war kein ungewöhnlicher Anblick mehr. Als sie einmal am frühen Abend mit Kennicott Automobil fuhr, sah sie ihn am Seeufer; er las in einem dünnen Buch, das ein Bändchen Lyrik zu sein schien. Es fiel ihr auf, daß er der einzige Mensch in dieser automobilisierten Stadt war, der noch lange Spaziergänge machte.

Sie sagte sich, sie sei die Tochter eines Richters, die Frau eines Arztes, und es liege ihr nichts daran, einen exzentrischen Schneider kennenzulernen. Sie sagte sich, sie reagiere nicht auf Männer … nicht einmal auf Percy Bresnahan. Sie sagte sich, daß eine Frau von dreißig Jahren, die sich mit einem fünfundzwanzig jährigen Jungen beschäftige, lächerlich sei. Und am Freitag, als sie sich eingeredet hatte, der Gang sei notwendig, begab sie sich in Nat Hicks' Werkstatt, höchst unromantisch ein Paar Hosen ihres Mannes über dem Arm. Hicks war im Hinterraum. Sie erblickte den griechischen Gott, der in einem Zimmer mit verschmierten weißgetünchten Wänden ein wenig ungöttlich an der Nähmaschine saß und an einem Rock arbeitete.

Sie sah, daß seine Hände nicht gerade zu einem hellenischen Antlitz paßten. Sie waren dick, schwielig von Nadel, Bügeleisen und Pflugsterz. Aber sogar in der Werkstatt ließ er nicht von seinem Putz. Er hatte ein Seidenhemd an, eine topasbraune Krawatte, leichte braune Schuhe.

Das alles bemerkte sie, während sie kurz fragte: »Kann ich die Hosen gebügelt bekommen, bitte?«

Ohne von der Nähmaschine aufzusehen, streckte er die Hand aus und murmelte: »Wann brauchen Sie sie?«

»Ach, Montag.«

Das Abenteuer war vorüber. Sie ging hinaus.

»Auf welchen Namen?« rief er ihr nach.

Er war aufgesprungen, und obgleich die zerdruckten Hosen Dr. Will Kennicotts ein wenig komisch aussahen, hatte er eine gewisse Anmut.

»Kennicott.«

»Kennicott. Oh! Oh, sagen Sie, Sie sind also Frau Doktor Kennicott, nicht wahr?«

»Ja.« Sie stand an der Tür. Jetzt, da sie ihrem absonderlichen Impuls nachgegeben und sich davon überzeugt hatte, wie er aussah, war sie kühl, war sie ebenso bereit wie das tugendhafte Fräulein Ella Stowbody, Vertraulichkeiten abzulehnen.

»Ich hab' von Ihnen gehört. Myrtle Cass hat mir erzählt, daß Sie einen Theaterverein eingerichtet und eine blendende Aufführung gemacht haben. Ich hab' mir immer schon eine Gelegenheit gewünscht, zu einer kleinen Bühne zu gehören und gute Stücke zu spielen.«

Carola nickte, so wie eine große Dame, die nett zu kleinen Leuten sein will, und etwas in ihr höhnte: »Ja, unser Erik ist wirklich ein verirrter John Keats.«

Er flehte: »Glauben Sie, es könnte möglich sein, im nächsten Herbst wieder einen Theaterverein zusammenzubekommen?«

»Na, das könnte man sich überlegen.« Sie verzichtete auf ihre verschiedenen einander bekämpfenden Posen und sagte einfach: »Wir haben eine neue Lehrerin da, Fräulein Mullins, die hat vielleicht ein bißchen Talent. Damit wären wir schon drei für den Anfang. Wenn wir ein halbes Dutzend aufbringen können, sind wir vielleicht imstande, eine anständige Aufführung mit kleiner Besetzung zustande zu bringen. Haben Sie schon etwas Erfahrung?«

»Ach, nur von einem dummen Klub, den wir in Minneapolis gegründet haben, wie ich dort auf Arbeit war. Aber einen guten Mann hatten wir, einen Innenarchitekten – vielleicht war er 'n bißchen weibisch und verweichlicht, aber er war wirklich ein Künstler, und wir haben 'ne blendende Vorstellung gegeben. Aber ich – Ich hab' eben immer hart arbeiten und immer ganz allein lernen müssen, und wahrscheinlich bin ich schlampig, und ich würd' mich so freuen, wenn ich beim Probieren was lernen könnte – ich meine, je besessener der Regisseur wäre, desto lieber wär' mir's. Wenn Sie mich nicht als Schauspieler brauchen können, würde ich gern die Kostüme entwerfen. Ich bin ganz verrückt mit Stoffen – mit Material und Farben und Mustern.«

Sie wußte, daß er sie aufhalten wollte, zeigen wollte, daß er etwas mehr sei als ein Mensch, dem man Hosen zum Bügeln bringt. Er redete weiter:

»Hoffentlich komm' ich einmal los von dieser dummen Flickarbeit, wenn ich genug Geld gespart hab'. Ich möcht' in den Osten gehen, für einen großen Damenschneider arbeiten und zeichnen lernen und Muster entwerfen. Oder glauben Sie, daß das ein zu verstiegener Ehrgeiz ist? Ich bin auf 'ner Farm aufgewachsen. Und dann mit Seide rumspielen! Ich weiß nicht. Was meinen Sie? Myrtle Cass sagt, Sie sind schrecklich gebildet.«

»Ja. Schrecklich. Sagen Sie: hat man sich über Ihren Ehrgeiz lustig gemacht?«

Sie war siebzig Jahre alt, geschlechtslos und noch mehr »Beraterin« als Vida Sherwin.

»Na ja, das hat man schon. Die Leute haben mich schon ziemlich aufgezogen, hier und in Minneapolis auch. Sie sagen, Damenschneiderei ist Weiberarbeit. (Aber ich wollte ja in den Krieg! Ich hab's ja probiert. Aber man hat mich abgewiesen. Aber probiert hab' ich's!) … Komm' ich Ihnen auch komisch vor?«

»Was liegt Ihnen denn an der Ansicht von Stadtflegeln oder Bauernlümmeln! Aber andererseits dürfen Sie auch nicht gleichgültige Fremde wie mich nach ihrem Urteil über Sie fragen.«

»Also – Sie sind keine Fremde, sozusagen. Myrtle Cass – Fräulein Cass müßt' ich sagen – hat so oft von Ihnen geredet. Ich wollte Sie – und den Doktor – besuchen, aber ich hab' mich nicht recht getraut. Einmal bin ich am Abend an Ihrem Haus vorbeigegangen, aber Sie haben mit Ihrem Mann auf der Veranda gesprochen und haben so behaglich und glücklich ausgesehen, daß ich mich nicht getraut hab', hineinzuplatzen.«

Mütterlich: »Ich finde es sehr nett, daß Sie lernen wollen. Vielleicht könnte ich Ihnen helfen. Ich bin eine ganz solide und nüchterne Schulmadame, von Natur aus; ganz hoffnungslos erwachsen.«

»Das sind Sie nicht!«

Es gelang ihr nicht allzu gut, seine Glut mit der Geste einer belustigten Weltdame aufzunehmen, aber es klang einigermaßen sachlich, als sie sagte: »Danke schön. Wollen wir sehen, ob wir wirklich einen neuen Theaterverein auf die Beine kriegen können? Wissen Sie was: Kommen Sie heute abend, so gegen acht, zu uns. Ich werde Fräulein Mullins bitten, herüberzukommen, und dann können wir alles besprechen.«

6

»Er hat gar keinen Sinn für Humor. Noch weniger als Will. Aber hat er nicht – Was ist denn ›Sinn für Humor‹? Ist das, was ihm fehlt, nicht eigentlich die derbe Spaßhaftigkeit, die hier für Humor gilt? Auf jeden Fall – Armer Kerl, ich sollte unbedingt dort bleiben und mit ihm spielen! Armer Kerl, so einsam! Wenn er von Leuten wie Nat Hicks, von Menschen, die ›blendend‹ sagen, frei sein könnte, ob er sich dann entwickeln würde?

Ob Whitman als Junge nicht auch gassenjungenshaft gesprochen hat?

Nein. Nicht Whitman. Er ist Keats – er hat Gefühl für Seide und schöne Dinge … Und dazu Gopher Prairie mit seinen berühmten elf Meilen zementierter Wege …«

7

Kennicott war liebenswürdig zu Fern Mullins, zog sie ein wenig auf, erzählte ihr, er sei »berühmt dafür, mit hübschen Schullehrerinnen durchzubrennen«, und versprach ihr, wenn der Schulausschuß etwas gegen ihr Tanzen einwenden sollte, würde er »den Leuten eins über den Kopf ziehen und ihnen sagen, was für'n Glück sie haben, daß sie endlich mal 'n Mädel bei sich haben, an dem was dran ist«.

Aber zu Erik Valborg war er nicht liebenswürdig. Er gab ihm flüchtig die Hand und sagte: »'n Abend.«

Nat Hicks war gesellschaftsmöglich; er war seit Jahren hier und besaß seine eigene Werkstatt; aber dieser Mensch war lediglich Nats Arbeiter, und der Grundsatz vollständiger Demokratie, dem der Ort huldigte, war nicht dazu da, unterschiedslos angewendet zu werden.

Theoretisch nahm Kennicott an der Beratung über den Theaterverein teil, aber er saß zurückgelehnt da, gähnte öfters heimlich, betrachtete Ferns Fesseln und lächelte liebenswürdig zur Spielerei der Kinder.

Fern wollte von ihren Sorgen erzählen; Carola wurde immer wieder wütend, wenn sie an »Das Mädchen von Kankakee« dachte; Erik aber machte Vorschläge. Er hatte erstaunlich viel mit erstaunlicher Urteilslosigkeit gelesen. Er gebrauchte zu oft das Wort »herrlich«. Er sprach ein Zehntel der Worte, die er aus Büchern kannte, falsch aus, aber er wußte es. Er war hartnäckig und doch gleichzeitig schüchtern.

Als er sagte: »Ich würde gern ›Unterdrückte Wünsche‹ von Cook und Fräulein Glaspell inszenieren«, hörte Carola auf, die Gönnerin zu spielen. Er war kein sentimentaler Schwätzer; er war der seiner Vision sichere Künstler. »Ich würd' es ganz einfach machen. Ein großes Fenster im Hintergrund, mit einem blauen Rundprospekt, der einem einfach in die Augen knallt, und nur ein Zweig, der den Park unten andeuten soll. Den Frühstückstisch auf einer Estrade. Die Farben müßten 'n bißchen unnatürlich und teeraumartig sein – orangerote Stühle, orangeroter und blauer Tisch, und blaues japanisches Frühstücksservice, und irgendwo ein großer platter Klecks Schwarz – päng! Oh. Ein anderes Stück, das wir spielen sollten, ist ›Die schwarze Maske‹ von Tennyson Jesse. Ich hab's nie gesehen, aber – herrliches Ende, wo die Frau den Mann ansieht, dem das ganze Gesicht weggeschossen ist, und da stößt sie bloß einen fürchterlichen Schrei aus.«

»Du guter Gott, so stellen Sie sich 'n herrliches Ende vor?« rief Kennicott.

»Das klingt scheußlich! Ich liebe künstlerische Dinge, aber nicht die fürchterlichen«, ächzte Fern Mullins.

Erik war verwirrt; er warf Carola einen Blick zu. Sie nickte ihm ermutigend zu. Als die Beratung zu Ende war, hatten sie nichts beschlossen.


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