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Dreißigstes Kapitel

1

Unerwartet kam ihre Nacht.

Kennicott war über Land gefahren. Es war kühl, aber Carola saß auf der Veranda, schaukelte, grübelte, schaukelte. Das Haus war einsam und widerwärtig, und obgleich sie seufzte: »Ich muß hineingehen und lesen – ich hab' soviel zu lesen – ich muß hineingehen«, blieb sie. Plötzlich kam Erik, öffnete die Gartentür, ging herein, berührte ihre Hand.

»Erik!«

»Ich hab' Ihren Mann aus der Stadt fahren sehen. Ich konnt's nicht aushalten.«

»Ja – Sie dürfen nicht länger als fünf Minuten bleiben.«

»Ich konnt's nicht aushalten, Sie nicht zu sehen. Jeden Tag, am Abend, hab' ich gespürt, daß ich Sie sehen muß – ich hab' Sie mir so deutlich vorgestellt. Es ist doch brav von mir gewesen, daß ich nicht gekommen bin, nicht wahr?«

»Und Sie müssen auch weiter brav sein.«

»Warum muß ich?«

»Wir sollten lieber nicht auf der Veranda bleiben. Die Howlands gegenüber sind solche Fenstergucker, und Frau Bogart –«

Sie sah ihn nicht an, aber sie konnte seine Erregung ahnen, als er hineinstolperte. Vor einem Augenblick noch war die Nacht kühl und leer gewesen; jetzt war sie unergründlich, heiß, treulos. Carola spielte die kalte Materialistin und murmelte: »Hungrig? Ich habe ein bißchen Kuchen. Essen Sie etwas davon, und dann müssen Sie nach Haus.«

»Ich möcht' hinaufgehen und sehen, wie Hugh schläft.«

»Ich glaube nicht –«

»Nur einen Blick!«

»Schön –«

Die Köpfe eng aneinander – Eriks Locken streiften angenehm ihre Wangen – betrachteten sie das Kind. Hugh war rosig vom Schlummer. Er hatte sich mit solcher Wucht ins Kissen eingegraben, daß es ihn fast erstickte.

»Sch!« machte Carola, fast mechanisch. Auf den Zehenspitzen ging sie näher, um das Kissen zu richten. Als sie zu Erik zurückkam, lächelten sie einander zu. Sie dachte nicht an Kennicott, den Vater des Kindes. Sie dachte nur, daß ein Mensch wie Erik, ein älterer und zuverlässigerer Erik, Hughs Vater sein müßte. Zu dritt würden sie spielen – unglaublich phantasiereiche Spiele.

»Carola! Sie haben mir von Ihrem Zimmer erzählt. Lassen Sie mich hineinschauen.«

»Aber Sie dürfen nicht drinbleiben, nicht eine Sekunde. Wir müssen hinuntergehen.«

Kennicott schien nie in ihr Zimmer gepaßt zu haben, doch Erik gehörte hierher, er streichelte die Bücher, besah sich die Bilder. Er streckte die Arme aus. Er kam auf sie zu. Sie war schwach, in warmer Zärtlichkeit willenlos. Sie hatte den Kopf zurückgelehnt. Ihre Augen waren geschlossen. Ihre Gedanken waren formlos, aber bunt. Sie spürte, wie er sie, scheu und ehrfürchtig, aufs Auge küßte.

Und dann wußte sie, daß das unmöglich war.

Sie schüttelte sich. Sie sprang zurück. »Bitte!« rief sie scharf.

Er blickte sie unnachgiebig an.

»Ich hab' Sie gern«, sagte sie. »Verderben Sie nicht alles. Seien Sie mein Freund.«

»Wie viele tausend und tausend Frauen haben das schon gesagt! Und jetzt Sie! Es verdirbt doch nichts. Es macht alles schön.«

»Mein Lieber, ich glaube, es ist ein ganz klein wenig vom Märchen in Ihnen – was Sie auch damit tun werden. Vielleicht wäre ich einmal dazu gekommen, das zu lieben. Aber ich werd' es nicht tun. Es ist zu spät. Freundschaft werde ich für Sie bewahren. Sie brauchen mich, nicht wahr? Nur Sie und mein Kind brauchen mich. Ich muß Menschen haben, die mich brauchen! Früher einmal wollte ich, daß man mir Liebe gibt. Jetzt werde ich zufrieden sein, wenn ich geben kann … Beinahe zufrieden!

Wir Frauen möchten immer etwas für die Männer tun. Ihr armen Männer! Wir fallen über euch her, wenn ihr euch nicht verteidigen könnt, und machen uns mit euch zu schaffen und wollen euch immer bessern. Ach, das sitzt so erbärmlich tief in uns. Sie sollen das einzige sein, das mir nicht mißlungen ist. Tun Sie etwas Klares! Und wenn es auch nur Stoffeverkaufen sein sollte … Schöne Stoffe verkaufen – Karawanen aus China –«

»Carola! Hören Sie auf! Sie lieben mich!«

»Nein! Es ist nur – Können Sie denn nicht verstehen? Alles preßt mich so ein, alle diese stumpfen, glotzenden Menschen, und ich suche einen Ausweg – Bitte, gehen Sie. Ich kann es nicht länger aushalten. Bitte!«

Er war gegangen. Und die Stille im Hause erlöste sie nicht. Sie war leer, das Haus war leer, sie brauchte ihn. Sie wollte weiterreden und eine vernünftige Freundschaft aufbauen. Sie schwankte ins Wohnzimmer hinunter und sah zum Erkerfenster hinaus. Er war nicht zu sehen, wohl aber Frau Westlake. Sie ging vorbei, und im Licht der Bogenlampe an der Ecke warf sie schnell einen forschenden Blick auf Veranda und Fenster. Carola ließ den Vorhang fallen, stand da, gelähmt, unfähig, zu denken. Mechanisch, ohne Überlegung, murmelte sie: »Ich will ihn bald wiedersehen und ihm beibringen, daß wir Freunde sein müssen. Aber – Im Haus ist es so leer. Es hallt so.«

2

Zwei Abende später hatte Kennicott beim Essen nervös und zerstreut ausgesehen. Er ging im Wohnzimmer umher, dann knurrte er: »Sag' mal, was hast du eigentlich Ma Westlake erzählt?«

Carolas Buch raschelte. »Was meinst du?«

»Ich hab' dir gesagt, daß Westlake und seine Frau eifersüchtig auf uns sind, und dann hast du dich mit ihnen angefreundet und – Nach dem, was Dave mir erzählt, ist Ma Westlake in der Stadt rumgegangen und hat gesagt, du hast ihr erzählt, daß dir Tante Bessie ekelhaft ist, und daß du dir ein eigenes Zimmer eingerichtet hast, weil ich schnarche, und dann sollst du gesagt haben, Bjornstam ist zu gut für Bea, und außerdem noch, erst unlängst, daß du auf die ganze Stadt bös bist, weil wir nicht alle in die Knie sinken und den Kerl, den Valborg, auffordern, mit uns Abendbrot zu essen. Weiß der liebe Himmel, was sie sonst noch von dir geredet hat.«

»Das ist nicht wahr, nicht ein Wort davon! Ich hab' Frau Westlake gern gehabt, und hab' sie besucht, und jetzt scheint sie alles verdreht zu haben, was ich gesagt habe –«

»Freilich. Es war ja natürlich auch nicht anders zu erwarten. Hab' ich dir's nicht gesagt? Sie ist eine alte Katze, genau so wie ihr schleichender, händedrückender Mann. Herrgott, wenn ich krank wär', würd' ich lieber 'nen Gesundbeter kommen lassen als Westlake, und sie ist vom selben Schinken abgeschnitten. Was ich aber trotzdem nicht begreifen kann –«

Sie wartete, erstarrt.

»Was hat dich denn geritten, daß du dich von ihr hast ausholen lassen, so ein gescheites Mädel wie du? Mir ist ganz egal, was du ihr erzählt hast – wir haben alle mal böse Launen und wollen Dampf ablassen, das ist natürlich – aber wenn du's nicht unter die Leute kommen lassen wolltest, warum hast du's denn dann nicht als Inserat in den ›Unverzagten‹ gesetzt oder dir 'n Megaphon genommen und dich aufs Hoteldach gestellt und es rausgebrüllt oder sonst was getan, statt es ihr unter die Nase zu reiben?«

»Ich weiß, du hast mir's gesagt. Aber sie war so mütterlich. Und ich hatte gar keine Frau – Vida ist so verheiratet geworden und hat gar kein Verständnis mehr für andere.«

»Na, das nächste Mal wirst du schon vernünftiger sein.«

Er streichelte ihr den Kopf, verschwand hinter seiner Zeitung und sagte kein Wort mehr.

Feinde beobachteten sie durch die Fenster, belauerten sie. Sie hatte niemand außer Erik. Dieser freundliche gute Mann, Kennicott – das war ein älterer Bruder. Zu Erik, der ein Ausgestoßener war wie sie, zu ihm drängte es sie. Aber ihr Schmerz über Frau Westlakes Verrat wurde zu wirklicher Furcht. Was hatte dieses Weib über sie und Erik gesprochen? Was wußte sie? Was hatte sie gesehen? Wer noch würde sich an der kläffenden Jagd beteiligen?

Am nächsten Nachmittag kam Vida. Sie war ernst, aber zärtlich.

»Oh, da sind Sie, Liebste, ich freu' mich so, daß ich Sie zu Hause finde; setzen Sie sich, ich möchte mit Ihnen reden.«

Gehorsam setzte Carola sich.

Dann legte Vida los:

»Ich habe unbestimmte Gerüchte gehört, daß Sie sich für diesen Erik Valborg interessieren. Ich wußte, daß Sie nicht schuldig sein können, und jetzt bin ich noch überzeugter davon als früher.«

»Was haben Sie gehört?«

»Eigentlich nichts. Ich hörte nur Frau Bogart sagen, sie hätte Sie mit Valborg oft spazierengehen sehen.« Vida hörte auf zu zirpen. Sie betrachtete ihre Nägel. »Aber – Ich habe den Verdacht, daß Sie Valborg gern haben. Oh, ich meine es nicht schlecht. Aber Sie sind jung; Sie wissen nicht, wohin es mit einer unschuldigen Zuneigung kommen kann. Sie tun immer, als ob Sie so abgebrüht wären, und sind doch nur ein Kind. Gerade weil Sie so unschuldig sind, wissen Sie nicht, was für böse Gedanken im Hirn dieses Menschen lauern können.«

»Sie meinen doch nicht, daß Valborg wirklich daran denken könnte, mich zu lieben?«

Plötzlich schrie Vida mit verzerrtem Gesicht: »Was wissen Sie denn von den Gedanken in Menschenherzen? Sie spielen ja nur mit dem Reformieren der Welt. Sie wissen nicht, was Leiden heißt.«

Zwei Beleidigungen kann kein Mensch ertragen: die Behauptung, daß er keinen Sinn für Humor habe, und die doppelt unverschämte Behauptung, daß er nie Kummer gekannt habe. Carola sagte wütend: »Sie glauben, daß ich nicht leide? Sie glauben, ich habe immer ein leichtes –«

»Nein, nein. Ich will Ihnen etwas sagen, was ich noch keiner lebenden Menschenseele erzählt habe, nicht einmal Ray.« Der Damm, den Vida jahrelang um ihre Phantasie gebaut hatte, an dem sie jetzt, da Raymie im Krieg war, wieder baute, gab nach. »Ich war – ich hab' Will schrecklich gern gehabt. Einmal, bei einer Unterhaltung – oh, natürlich, bevor er Sie kennengelernt hatte – aber wir haben uns bei den Händen gehalten und waren so glücklich. Aber ich hab' gespürt, daß ich nicht ganz zu ihm passe. Ich hab' ihn gehen lassen. Bitte, glauben Sie nicht, daß ich ihn noch hebe! Ich weiß jetzt, daß Ray dazu bestimmt war, mein Gefährte zu werden. Aber weil ich ihn gern hatte, weiß ich, wie lauter und rein und edel Will ist, und seine Gedanken weichen nie vom rechten Wege ab, und – Wenn ich ihn schon für Sie aufgegeben habe, müssen Sie ihn wenigstens zu würdigen wissen! Wir haben zusammen getanzt und soviel gelacht, und ich habe ihn aufgegeben, aber – Das ist wirklich meine Angelegenheit! Ich misch' mich nicht ein! Ich sehe das Ganze wie er, wegen allem, was ich Ihnen erzählt habe. Vielleicht ist es schamlos, mein Herz so zu entblößen, aber ich tu's für ihn – für ihn und für Sie!«

Sie war in Tränen ausgebrochen: eine unbedeutende, erhitzte, anmutlos weinende Frau.

Carola konnte es nicht ertragen. Sie lief zu Vida, küßte sie auf die Stirn, tröstete sie mit taubenähnlichen Gurrtönen, suchte sie mit verworrenen, hastig aufgegriffenen Worten zu beruhigen: »Oh, ich verstehe das ja so gut«, »Sie sind so lieb und gut«, »Sie können mir glauben, daß an allem, was Sie gehört haben, nicht das geringste ist«, »Oh, wirklich, ich weiß, wie lauter Will ist, und wie Sie sagen, so – so lauter …«

Während ihrer Trostreden fand Carola plötzlich eine große philosophische Erkenntnis, eine Erklärung für die Hälfte aller vorsichtigen Reformen in der Geschichte. »Man muß nach dem Moralkodex der Masse leben, wenn man daran glaubt; aber wenn man nicht daran glaubt, dann muß man erst recht danach leben!«

»Der Meinung bin ich durchaus nicht«, sagte Vida unsicher. Sie begann gekränkt auszusehen, und Carola ließ sie orakeln.


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