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45

An jedem der vier Tage, die die Verhandlung »Das Volk contra B. D. Dolphin« in Anspruch nahmen, saß Ann im Gerichtssaal, neben sich Malvina Wormser, deren Hand sie festhielt und verlieh von Zeit zu Zeit leise ihrer Empörung Ausdruck. Ihren eigenen Kampf vernachlässigte sie. Jetzt wünschte sie sich fast, daß Mrs. Keast etwas gegen sie unternähme. Es wäre eine Erleichterung gewesen, jemanden wie die Keast zum Abschlachten zu haben.

Die beiden Frauen, die als gute Frauenrechtlerinnen, rechtschaffene Bürger, ehrenhafte Mitglieder der arbeitenden Klasse galten und sich auch selbst dafür hielten, erstarben in Loyalität gegen einen Mann, der sich im Verlauf dieser Verhandlung in dem trübseligen und schlecht gelüfteten Raum des Gerichtsgebäudes als liebenswürdiger Gauner zu entpuppen schien.

Nicht gleich, sondern erst als sie den Fleck auf der Wand gewahr wurde, der wie eine Karte von Afrika geformt war, merkte Ann, daß sich alles in eben dem Gerichtssaal abspielte, in dem sie Richter Bernard Dow Dolphin im seidenen Talar den Leuten hatte zunicken sehen, die sich ehrfürchtig bei seinem Eintritt erhoben. Ein anderer Richter, in einem anderen Seidentalar, saß an dem gleichen hohen Pult unter den goldenen Rutenbündeln, in denen die Heiligkeit des Gesetzes symbolisiert war, und nun standen alle bei dessen Eintritt auf, waren alle zufrieden mit dessen unverletzlicher Weisheit.

Als Ann hereinkam, hatte sie eine Sekunde lang den Eindruck gehabt, der neue Richter wäre Lindsay Atwell. Er war es nicht. Dennoch tobte sie: »Das ist aber auch das einzige, was noch dazu fehlt, daß die Ironie des Schicksals vollkommen wird.«

Sie sah wenig von dem Richter. Sie betrachtete den Hinterkopf Barneys, der, anscheinend ganz gleichgültig, in der Nähe des Anwaltstisches saß; sie musterte das harte Profil Mona Dolphins an der Seite der ersten Reihe und die gummikauenden Kiefer der Schöffen – am Tage vorher noch Herren über Lebensmittelgeschäfte und Garagen, heute aber Herren über eines Menschen Ehre.

Der Fall lag betrüblich einfach. Firmen, die mit bestimmten ausgedehnten Kanalisationsbauten betraut waren, hatten einen Teil der Arbeiten an Unterkontrahenten weitergegeben, die ihrerseits später auf Nachtragszahlungen geklagt hatten. Barney, der Vorsitzende in diesem Prozeß, hatte hartnäckig Entscheidungen zugunsten der ursprünglichen Bauunternehmer getroffen und war nachher in den Aufsichtsrat der Firma gewählt worden. Zur selben Zeit hatte er auch hunderttausend Dollar in seiner Bank eingezahlt, über deren Herkunft er keine Erklärungen abgeben konnte oder wollte.

Es war eine ermüdende Aneinanderreihung von Zahlen, langweilig anzuhören – nahezu ebenso langweilig und gefährlich wie Krebs.

Ann aber war weder gelangweilt noch ermüdet, als sie sich am zweiten Nachmittag umblickte und die Entdeckung machte, daß Russell Spaulding, vor sich hinstarrend, dasaß. Sie flüsterte Malvina zu: »Du lieber Gott, Ignatz ist da! Komm nicht mit mir zusammen hinaus.« Sie gab sich Mühe, gleichgültig und gattinnenhaft auf einmal auszusehen, als sie bei Schluß der Verhandlung zu ihm trat und freundlich murmelte: »Merkwürdiger Fall. Aber ich wußte gar nicht, daß du dich dafür interessierst, Ignatz.«

Russell grunzte bloß, und sie gingen in den Korridor mit den Marmorwänden hinaus. Er hatte erst: »Sieh mal an!« gesagt, als Barney und Mona plötzlich bei ihnen waren und Barney seine Frau anhielt, indem er sie am Arm packte. Mona blickte vor sich hin, ohne zu lächeln; Russell blickte vor sich hin und runzelte die Stirn; Ann hatte den Eindruck, sie sähe aus wie ein Schulmädchen, das mit ihrem Schatz erwischt worden ist; und allein Barney schien vergnügt und nicht verlegen zu sein.

»Ach, Mona, das ist Dr. Vickers, Chef vom Stuyvesant-Arbeitshaus, einer Frauenbesserungsanstalt. Sie ist eine gute Kundin für die Damen, die ich hinschicke … hinschickte. Dr. Vickers, meine Frau.«

»Und das ist mein Mann, Richter: Russell Spaulding.«

»Ich glaube, wir haben uns einmal bei Dr. Wormser kennengelernt«, sagte Barney.

»So? Ich kann mich nicht darauf besinnen«, antwortete Russell, so beleidigend er nur konnte.

Mona Dolphin fragte herablassend, mit nachgemachtem Mayfair-Akzent: »Aber sagte der Richter nicht, Sie heißen Dr. Vickers, Mrs. Spaulding?«

»Ja. In meinem Beruf führe ich meinen Mädchennamen weiter.«

»Ach? Tatsächlich? Sehr interessant. Warum haben Sie Ihren Arztberuf aufgegeben?«

»Ich bin nicht Doktor der Medizin.«

»Ach. Gibt es auch andere Doktoren? Sehr interessant. Jetzt müssen wir aber wirklich rasch machen, glaube ich, Bernard. Guten Tag. Es hat mich ungemein gefreut.«

 

Und Russell und Ann waren allein im Korridor. Ann hatte Malvina, auf der Flucht vor dem Taifun, davoneilen sehen.

Ann ging auf die Treppe zu.

»Du wartest!« knurrte Russell. »Wir müssen noch einiges klarstellen, und zwar gleich jetzt, in dieser Minute, bevor du Zeit hast, dir neue Lügen auszudenken! Ist dieser Gauner Dolphin dein Geliebter gewesen?«

»Warum gewesen? Er ist es!«

»Ach, diesmal willst du also nicht lügen! Na, jetzt ist er es gewesen, er ist es nicht mehr! Ich verbiete dir endgültig und ein für allemal, ihn wiederzusehen, ganz egal wann und wo, und dazu gehört auch, daß du nicht mehr zu dieser ekelhaften Verhandlung gehst, um deinen süßen Schieber und Bestochenen zu bemitleiden! Verstanden?«

»O ja.« Nun klang Anns Stimme müde. »Schön. Ich werde noch vor zwölf Uhr nachts deine Wohnung verlassen haben, ich und Mat und die Gretzerel, und diesmal ist es natürlich für immer.«

»Aber Ann, Ann! Ich will nicht, daß du, ich will nicht, daß du gehst, und ich will schon gar nicht, daß Mat geht. Ich habe Mat so lieb! Auch wenn er vielleicht nicht mein Sohn ist – aber er ist's!«

Russell weinte ganz offen, ohne sich um einen verblüfften Polizeiwachtmeister zu kümmern, der vorüberschlakste.

Sie war mit Mat und der Schwester vor Mitternacht in einem Hotel.

 

Am letzten Tag der Verhandlung hatte Mona ihre beiden Töchter mit. Sie waren ebenso kalt und adlernäsig wie ihre Mutter. »Wie die mich hassen würden, wenn sie wüßten«, dachte Ann. Es lief ihr kalt über den Rücken. Aber sie befaßte sich nur wenig mit ihnen; sie studierte zu angestrengt die Gesichter der Schöffen während des Schlußplädoyers von Verteidigung und Anklage, und umklammerte verzweifelt Malvinas Hand, als sie stumpfe Blicke, gelangweiltes Gähnen, Rückenreiben an den Lehnen der Schöffenstühle sah.

»Sie werden nie begreifen – daß Barney nicht so ist – daß er schlimmstenfalls dasselbe Spiel gespielt hat wie sein ganzer Stand – daß er Geld für seine verfluchten Kristalljungfrauen gebraucht hat, nicht für sich selber – daß er, wenn er überhaupt etwas Schlechtes getan hat, es nie wieder tun wird – ach, ich könnte sie erwürgen – sie werden ihn nie verstehen«, stöhnte Ann … die Frauenrechtlerin, die professionelle Sozialarbeiterin, die Kriminologin von Fach.

In fieberhafter Erregung beobachtete sie den Vorsitzenden der Schöffen, einen dicken, geringschätzig dreinblickenden Mann, der an einem Zigarrenrest kaute.

Als Barneys Hauptrechtsbeistand Barneys eigene Aussage zusammenfaßte und wiederholte, sein Klient könne »die Herkunft der hunderttausend Dollar, die er zur Zeit des Prozesses zwischen den Bauunternehmern in seiner Bank deponierte, nicht offenbaren, weil das zur Enthüllung eines wichtigen und ethisch völlig einwandfreien Grundstückgeschäftes führen und seine Partner bei diesem Geschäft nicht nur in Verlegenheit bringen, sondern de facto ruinieren würde – und darum beweist dieses entschlossene Schweigen auf Seiten Richter Dolphins nicht, wie die Anklage völlig grundlos angedeutet hat, daß er sich an Komplotten beteiligt und Bestechungsgelder angenommen hätte, sondern vielmehr, daß er ein Mann von so hohem Ehrgefühl ist, daß er jede üble Nachrede, jede ungerechte Bestrafung einem Verrat an seinen Partnern vorzieht, an seinen Partnern in Geschäften, deren wesentlicher Kern ein völlig unantastbares Geheimnis war« – als der gelehrte Anwalt in dieser Weise mit einer Stirn alabasterweißer Unschuld und Blicken verletzten Zartgefühls an seine Freunde, die Schöffen, appelliert hatte, sah Ann, wie der Schöffenälteste den Kopf schüttelte und, seinen durchnäßten Zigarrenstummel im Munde herumschiebend, vor sich hinknurrte. Als der Ankläger donnerte: »… je deutlicher Mister Dolphins großartige juristische Gaben vor Augen führen, welches Wissen und welchen Scharfsinn der Mann besaß, und in welch scheinbar unantastbarer Stellung er sich befand, desto zwingender und unabweislicher führen sie auch zu dem Schluß, daß man sich mit seiner jetzt offenbaren Schuld keineswegs abfinden könne« – da nickte der Schöffenälteste mit dem Kopf und spuckte aus.

Der Richter äußerte sich kurz, sanft, großmütig und im großen ganzen absprechend. Es war Mittag, als die Schöffen sich zur Beratung zurückzogen.

Ann wollte sich dazu überwinden, bis zum Ende der Beratung wegzugehen. Das wäre, so versicherte ihr Malvina, sehr gut für sie beide. Sie blieben also müde im Korridor, gingen auf schmerzenden Füßen auf und ab, liefen zu einer Drogerie hinüber, um etwas Malzmilch mit einem hineingeschlagenen Ei zu sich zu nehmen, und stürzten erschrocken zurück, ehe sie ausgetrunken hatten.

Barney war mit Mona und seinen Töchtern herausgekommen und wartete geduldigen Gesichts wie sie; seine Augen leuchteten auf, als er Ann und Malvina sah, und entschlossen ging er zu ihnen. »Zerbrecht euch nicht den Kopf. Ich weiß, wie der Spruch lauten wird – wozu bin ich denn ein ausgezeichneter Jurist? Er wird ›schuldig‹ lauten.«

Mona und ihre Töchter starrten Ann aus einer Entfernung von fünf Metern wie durch Lorgnons an.

Ohne sich um Malvina zu kümmern, brummte Barney achtlos: »Ach Gott, Ann, wenn ich mit dir bloß nur noch auf ein Weekend durchbrennen könnte, würde ich mir nichts aus den fünf Jahren Zuchthaus in Manawassett machen, die sie mir aufbrummen werden. Jetzt muß ich wohl wieder zu meiner Familie zurück … Ann!«

Sie sah zu, wie Barney und seine Frauen irgendwohin über die Treppe verschwanden.

Plötzlich sagte Malvina: »Barney ist wohl wirklich schuldig?«

»Ja, ich nehme an – technisch.«

»Na – –«

Mehr Worte über die ethische Seite der Angelegenheit wurden zwischen Dr. Wormser und Dr. Vickers nicht gewechselt.

Ann sah auf eine Uhr. Sie war sicher, daß einundeinhalb Stunden vergangen sein müßten, seitdem die Schöffen sich zurückgezogen hatten.

Es war genau fünfundzwanzig Minuten her.

Sie konnte Lindsay anrufen, den Richter Atwell. Ja, das könnte sie tun. Keine schlechte Idee. Dabei würde Zeit vergehen. Und es wäre höflich. Ja, das könnte sie tun … Ach, ein andermal; nicht gerade jetzt.

»Wir könnten um den Park herumgehen«, meinte Malvina.

»Ja. Könnten wir.«

Sie machten nicht einen Schritt auf die Treppe zu.

Sie setzten sich auf ein breites Fensterbrett.

»Ich sollte wirklich rasch in die Stadt und nach einer Patientin sehen und dann zurückkommen«, sagte Malvina.

»Oh.«

Malvina ging nicht.

Einunddreißig Minuten waren verstrichen.

Als glücklich eine Stunde um war, als sie einen Vorstoß in die Drogerie gemacht hatten und wieder zurück waren, murmelte Ann: »Ich möcht mir nur rasch einmal das Gebäude ansehen, du kannst ja hier warten.« Sie mußte allein sein. Allein würde sie imstande sein, etwas Kluges auszudenken, das von Hilfe sein könnte.

Sie dachte sich nichts aus. Sie kam sich auch weiterhin im Expreßzug des Gesetzes so hilflos vor wie Lil Hezekiah in den Händen Cap'n Waldos.

Dann sah sie Barney und seine Frau. Sie saßen in einem leeren Gerichtsraum mit dem Rücken zur halb offenen Tür. Als Ann hineinblickte – ohne sich recht klar zu machen, daß sie lauschte, so sehr fühlte sie sich als Teil der Familie – hörte sie Mona mit ihrer hohen, ruhigen Stimme sagen: »Die wirklichen Leiden werden die Mädchen und ich tragen – wir werden der Schmach ins Gesicht sehen müssen, die du über uns gebracht hast, während du in Sicherheit verborgen bist. Aber wir werden darauf warten, daß du dein Kreuz auf dich nimmst, wenn du herauskommst, und werden uns Mühe geben, so vergebungsvoll zu sein – –«

»Na ja«, sagte Barney heiser.

Ann floh.

 

Die Schöffen traten sieben Minuten nach vier wieder ein. Der Gerichtssaal füllte sich so verwirrend schnell, daß Ann von der trostreichen Malvina getrennt und neben Mona, auf deren anderer Seite Barney war, eingekeilt wurde.

»Wie lautet Ihr Spruch: Schuldig oder unschuldig?« leierte der Gerichtsschreiber.

Der Schöffenälteste brummte: »Schuldig«.

Ann warf einen Blick auf Mona. Ihre Lippen bewegten sich. Sie betete. Ann sah zu Barney hin. Er betete. Aber davon merkte sie wenig, denn sie betete selbst.

Als zwei Sheriffstellvertreter aus dem abgeteilten Raum hinter der Barriere hervorkamen, stand Barney auf, nickte ihnen zu und folgte ihnen, um sich, ein verurteilter Delinquent, zwischen ihnen niederzusetzen.

Der Richter zögerte nicht mit der Urteilsverkündung, auf die er anscheinend schon längst vorbereitet war. Er schloß seine erhebende Predigt mit den Worten:

»… damit Sie bereuen und womöglich Vergebung erlangen können, damit Sie Tag um Tag nachdenken können, um zur Erkenntnis zu kommen, daß noch niemals ein Verbrechen begangen worden ist, das unentschuldbarer wäre, verurteile ich Sie zu sechs Jahren Schwerer Arbeit.«

 

Sie führten Barney durch ein Hintertürchen hinaus. Ann mußte zu ihm laufen, ihm Lebewohl sagen. Und sie konnte nicht. In ihrer Verzweiflung, in ihrer Qual, ohne zu wissen, was sie tat, ohne irgend etwas anderes zu wissen, als daß diese Frau neben ihr auch ein Teil Barneys, und er ein Teil von ihr war, faßte sie nach Monas Hand.

Mona machte ihre Hand mit einem Ruck frei, sprang auf und blickte auf Ann herab; dabei stöhnte sie: »Oh!« als wäre sie auf eine Klapperschlange getreten. Sie drängte sich aus dem Gerichtssaal heraus, während Ann gebeugt sitzenblieb; aller Stolz, alle Würde, aller Mut hatten sie verlassen.


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