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Mrs. Albert Windelskate, diese von höchstem Gemeinschaftsgeist beseelte Frau, die ihre Zeit dem Staatlichen Überwachungsausschuß für Gefängniswesen und der daraus resultierenden Pressepublizität gratis zur Verfügung stellte, besaß ein Sommerhaus in Timgad Springs, dem bekanntesten Badeort des Staates. Es lag auf dem Weg nach Olympus City, der Bahnstation für das Zuchthaus Copperhead Gap, und sie hatte Ann eingeladen, mit ihr einen Tag der Erholung und gegenseitigen charitativen Beweihräucherung zu verbringen.

Mrs. Windelskate holte Ann am Bahnhof mit einem hübschen Sedan ab, dessen Schmuck und Zier eine Vase aus Preßglas mit künstlichen Blumen war.

»Es ist so heiß! Mein Gott, das muß ja einfach schrecklich für Sie gewesen sein im Zug. Ich dachte, wir fahren hinaus in den Landklub zum Lunch. Ihr Zug nach Olympus City fährt um drei; da sind Sie gegen fünf im Zuchthaus. Oh, Miss Vickers, wir finden es alle einfach großartig, daß Sie gekommen sind, um bei uns an der Gefängnisreform mitzuarbeiten, Sie mit Ihrer Schulung und Ausbildung im Osten und all dem. Viele Leute aus New York und Boston scheinen der Meinung zu sein, daß wir nichts von den letzten Neuigkeiten in wissenschaftlicher Kriminologie wissen, und wenn Sie wieder zurückfahren, werden Sie ihnen erzählen können, was für feine Sachen wir hier gemacht haben. Was sagen Sie dazu, die haben jetzt einen Turnsaal für die weiblichen Sträflinge in Copperhead! Die Idee stammt von mir ganz allein, von meinem Mann und mir. Wir haben persönlich hundert Dollar dazu gegeben. ›Du wirst wohl denken, wir gehen pleite, mit unserer ganzen Wohltätigkeit‹, hab ich zu ihm gesagt, aber er hat bloß gelacht und gesagt: ›Ach, wir werdens wohl aushalten können.‹ So ist er immer. Sie glauben nicht, wie tüchtig er in geschäftlichen Dingen ist – er ist im Anleihe- und Hypothekengeschäft – er tut so viel Gutes – ach, ich weiß nicht, wieviel Farmer und Ladenbesitzer in Pearl County existieren könnten, wenn er ihnen nicht das Geld geben und ihnen aushelfen würde, und ich weiß genau, daß er niemals eine Sache für verfallen erklären läßt, wenn er's auf irgendeine Weise verhindern kann, er tut einfach alles, was er kann, um es zu verhindern, aber weiß der Himmel, die Leute haben so gar keine Voraussicht – kaufen sich Autos und Waschmaschinen und was weiß ich und so weiter, und dann tun sie so, als ob sie die Zinsen nicht bezahlen könnten. Aber was ich sagen wollte, wenn man ihn in seinem Büro sieht, da ist er so auf dem Quivive und so tüchtig und so, Sie würden nie auf den Gedanken kommen, daß er, wenn es sich um Kriminologie und Wohltätigkeit und all das handelt, ein Herz hat, so weich wie – so weich wie ich weiß nicht was. Und dann der Dr. Slenk – im Gefängnis, mein ich – der Direktor, Dr. Addington Slenk – daß er die Stelle als Nachfolger von dem alten Narren, den sie da vorher als Direktor hatten, bekommen hat, ist vor allem mein Werk – er ist so ein moderner wissenschaftlicher Strafrechtstheoretiker – Sie werden Dr. Slenk einfach himmlisch finden.«

Diese Orakelsprüche gab Mrs. Windelskate von sich, während sie Ann zum Indian-Mound-Landklub fuhr und auf die mit roten Ziegeln belegte Terrasse am Rand des schräg abfallenden Golfplatzes führte.

»Natürlich, wie Dr. Slenk immer sagt, es wird eine Menge albernes und sentimentales Zeug über die Gefängnisreform geredet. Gefängnisse sollen keine Landpartie sein. Wenn ein Mann mit Überlegung hingeht und stiehlt, wird man ihn nicht zur Belohnung wie einen Millionär behandeln! Wie Dr. Slenk immer sagt, zu viele Reformatoren, die reine Theoretiker sind, neigen dazu, die Tatsache aus den Augen zu verlieren, daß die Gefängnisse, wenn sie auch in erster Linie Leute, die Unrecht getan haben, wieder auf den rechten Weg bringen sollen, doch auch eine ordentliche, gesunde abschreckende Wirkung haben müssen, so daß die Verbrecher nicht so schnell zurückkommen wollen!

Und hier in den Bergen haben wir eine Menge ziemlich schwere Fälle, und die zu sanft anfassen, hat keinen Zweck. Sie sind nicht dran gewöhnt; sie würden einem einfach über den Kopf wachsen, wenn man ihnen allen möglichen Luxus gewähren würde – jeden Tag Kuchen, und eine Masse Badezimmer, die sich bestimmt eine Menge anständige gesetzestreue Leute wie wir nicht im Traum leisten können! Auf eine Menge von diesen Strauchdieben hat das Gefängnis einen höchst erneuernden und erzieherischen Einfluß, wenn es von einem so vornehmen und gebildeten Menschen wie Dr. Slenk geleitet wird. Sie können sich das einfach nicht vorstellen! Nämlich, zu Hause leben diese Leute einfach von Melasse und Salzfleisch, und sie freuen sich halb tot, wenn sie im Gefängnis Backpflaumen und so was kriegen!

Nein, wie Dr. Slenk immer sagt, die große erneuernde Kraft liegt in harter, nützlicher Arbeit. In der Männerabteilung haben wir ein paar ganz großartige Anlagen – eine Gießerei, wo wir Küchengeräte herstellen, und eine Overallfabrik, und in der Frauenabteilung eine schöne Werkstatt für Hemden und Unterkleidung. Unsere Maschinen sind vielleicht nicht ganz so modern, wie wir gern möchten, aber das wird zu seiner Zeit auch noch werden. Aber es ist eine Schande, daß die Unternehmer, die uns die Fertigwaren abnehmen, nicht dazu zu bringen sind, uns einen anständigen Preis zu zahlen. Kein Bürgersinn! Wir würden den Insassen gern pro Tag einen Vierteldollar für ihre Arbeit geben, um ihnen Lust zur Arbeit zu machen, aber wir können uns nicht mehr als fünf Cent pro Tag leisten, und das macht wirklich nicht viel, selbst bei einer langen Strafzeit. Aber trotzdem, diese ganze moderne Industriearbeit lehrt eben die armen unglückseligen Wichte, wie sie ihren Platz in der Gesellschaft einnehmen können, wenn sie herauskommen. Nüchternheit! Keuschheit! Harte, unaufhörliche Arbeit! Den Vorschriften gehorchen, sofort und ohne Widerrede! Was für unbezahlbare Lehren!

Es ist Zeit, den Lunch zu bestellen. Hoffentlich gefällt Ihnen unser Klub. Hübsches kleines Klubhaus, nicht wahr! Es hat hundertfünfzigtausend Dollar gekostet, müssen Sie wissen. Aus allerbestem Material gebaut. Ich sage oft zu meinem Mann: ›Siehst du! Das ist mal ein Gebäude, das Bestand haben wird, heutzutage wo so viel schlampig gebaut wird.‹ Ich bin dafür, für die Zukunft zu bauen. Und darum arbeite ich auch so angestrengt für die armen verlorenen Lämmer im Gefängnis, obwohl der Himmel weiß, daß ich keinen Dank und keine Anerkennung davon habe, trotzdem der Gouverneur, der Gouverneur persönlich, zu mir gesagt hat: ›Mrs. Windelskate‹, hat er gesagt, ›ich weiß nicht, ob Ihnen jemals klar sein wird, was es für die Institutionen und den öffentlichen Dienst dieses Staates bedeutet, daß eine führende Frau wie Sie so viel persönlichen Anteil daran nimmt‹ – trotzdem, und das habe ich ihm auch gesagt, erhebe ich keinen Anspruch darauf, Spezialkenntnisse in allen diesen neuen soziologischen Dingen zu haben, aber ich finde einfach, man kann es sich nicht leisten, den Rat und das Interesse auch nur einer einzigen ernsthaften und für das Allgemeinwohl interessierten Frau unbeachtet zu lassen! Und Sie würden sich wundern, wieviel Geld mein Mann und ich in unsere Wohltätigkeit und so hineinstecken, und in unser kleines Heim – im Winter wohnen wir natürlich in Pearlsburg. Es ist zehnmal so groß wie Timgad Springs. Bei der letzten Zählung hatten wir siebenundzwanzigtausend Einwohner, und ich würde mich nicht im mindesten wundern, wenn wir, wenn die Zeit für die Zählung von 1930 kommt, warten Sie mal, das ist in sechs Jahren, dreißigtausend Einwohner hätten, wenn nicht fünfunddreißig!

Aber was nun das Gefängnis angeht, da muß ich Sie vor einer Sache warnen. Der Himmel weiß, daß niemand mehr mit dem tatsächlichen Betrieb dort Bescheid weiß als ich. Und infolgedessen, wenn unzufriedene Leute behaupten, die Gefangenen bekämen nicht sehr gutes Essen und hygienische Versorgung und müßten zu schwer arbeiten – es ist einfach zu gemein, finden Sie nicht auch? Eine Masse degenerierte Verbrecher müssen tatsächlich ebenso hart wie Sie und ich und andere anständige Leute arbeiten! – und wenn ich Leute so was sagen und solche kritischen Bemerkungen machen höre – o ja, es gibt Faselhänse und Miesmacher und Gott weiß was alles – ein sogenannter liberaler Prediger, Universalist ist er, in Pearlsburg, der sagt einfach alles, wenn er damit Aufsehen erregen und von sich reden machen kann! – Leute, die nur die negative Seite sehen – keinen einzigen positiven Gedanken im Kopf!

Aber zufällig weiß ich, wer die Quelle für alle diese erlogenen Gerüchte ist, und vor der wollte ich Sie warnen. Da ist eine Gefangene in der Frauenabteilung in Copperhead, die sich Mrs. Jessica Van Tuyl nennt. Sie ist Kommunistin und Anarchistin und Labor-Agitatorin und eine Unheilstifterin allerschlimmster Sorte. Ich weiß, daß diese Person, die Van Tuyl, schuld war an allen möglichen Dynamitanschlägen und Überfällen und Schießereien aus dem Hinterhalt und allen erdenklichen Abscheulichkeiten von seiten der Streikenden bei den letzten Bergarbeiter- und Farmpächterstreiks. Sie ist wegen kriminellem Syndikalismus und Verschwörung zu drei Jahren verurteilt worden – lebenslänglich hätte sie kriegen müssen, wenn unsere Richter nicht so schlapp wären und Angst vor der öffentlichen Meinung hätten! Und dieses Frauenzimmer hat es fertiggebracht, alle möglichen lügenhaften Briefe über die Zustände im Gefängnis herauszuschmuggeln und alle möglichen falschen und schädlichen Berichte verbreiten zu lassen.

Ach, es ist eine undankbare Aufgabe, aber trotzdem bin ich der Meinung, Sie nicht auch? daß es für uns aus den besseren Familien und den gebildeteren Ständen einfach eine Pflicht ist, in die Politik zu gehen und sie nicht einer Masse von unwissenden, vorurteilsvollen, gewöhnlichen Politikern zu überlassen, meinen Sie nicht auch? Ich bin so froh, daß Sie uns helfen wollen. Achten Sie nur auf diese Van Tuyl und geben Sie ihr zu verstehen, wie anständige, korrekte, gesetzestreue Leute über sie denken. Wollen wir vor dem Lunch einen Cocktail trinken?«

 

Ann hielt sonst auf eine gewisse Gepflegtheit von Haar, Handschuhen und Schuhen, aber als die Hitze von den roten Lehmhügeln hereinstrahlte, als der Staub auf den roten Plüschsitzen des Tagwagens tanzte, und der Affennuß- und Kleinkindergestank dicker wurde, gab sie es auf, sich Sorgen darüber zu machen, daß ihr das Haar in Strähnen an der Stirn klebte.

Gedankenlos bemerkte sie eine Frau drei Sitze vor ihr, die keine Sekunde stillsaß, aus dem Fenster sah und Blicke um sich warf wie jemand, für den eine Bahnfahrt etwas Ungewöhnliches und Aufregendes ist. Es war eine aschgraue alte Negerin in einem verschlissenen Sonntagskleid aus schwarzem Satin und einem Strohhut von 1890. Ann fragte sich, warum die Negerin wohl nicht auf einem der für Neger bestimmten Plätze hinten im Wagen saß. Wahrscheinlich deswegen, weil sie in Begleitung eines Mannes war, der, obwohl er sich nicht umdrehte, dem Aussehen seines dicken Nackens nach ein Weißer zu sein schien.

Die Negerin hatte Angst vor etwas. Während sie mit offenem Mund irgendein fremdartiges Wunder anstarrte – die alte Italienerin, die riesige gläserne Ohrringe trug und aus einem Korb Salami aß; den städtischen Geschäftsreisenden im grauen Flanellanzug, mit Seidenhemd und einem großen Ring am Daumen – schien ihr Hals zwischen den Schultern zu versinken und ihr Mund sich immer wieder zitternd zu öffnen.

»Olllllllympus Ciiiiity!« rief der Schaffner.

Ann konnte von der Seite sehen, wie die Lippen der Negerin die Worte »O mein Gott!« formten. Dann wandte die Frau sich um und Ann vergaß sie, während sie ihre Koffer aus dem Gepäcknetz nahm, sehr schwere Koffer, die ganz angefüllt waren mit Statistiken über die Tücken der menschlichen Natur, über Psychologie – eine Sache, von der die aschfahle Negerin da vorn niemals etwas verstehen konnte.

Die Station, auf die Ann jetzt hinauswankte – der Schaffner half ihr ritterlich mit ihren Koffern – war eine offene Bretterbude, von der die rote Farbe abblätterte; der Bahnsteig glich einem Gluten ausstrahlenden Hochofen. An der Wand des Bahnhofsgebäudes lehnte ein Halbdutzend Eckensteher, barfuß, zerfetzte Strohhüte auf dem Kopf. Aber vor ihnen stand eine Gestalt, die keineswegs schlapp aussah; ein Mann, groß wie eine Tanne, resolut und furchteinflößend; ein Mann mit langem gelbem Pferdegesicht, stechenden kleinen roten Augen, und Händen, die aussahen wie aufgedunsene Tausendfüßer. Drei Vorderzähne fehlten; die übrigen waren schwarz. Er hatte ein graues Hickoryhemd an, rote Hosenträger, einen Stetsonhut so groß wie ein Zirkuszelt und einen Gürtel, an dem der Halfter eines langläufigen Revolvers hing.

Er machte seinen dünnlippigen Mund auf wie eine Schnappschildkröte. Ein kurzer breiter Mann mit einem Gesicht, das wie ein Beefsteak aussah und ebenso ausdruckslos war, zerrte die Negerin, die Ann aufgefallen war, zu ihm hin, und Ann sah jetzt – im Zug hatte die Lehne des Sitzes es verdeckt – daß die alte Frau mit Handschellen an ihren weißen Begleiter gefesselt war.

»Hallo, Sheriff«, brüllte die riesige Tanne dem Mann mit der Negerin entgegen. »Das ist also das alte Negeraas. Hat ihren Mann mit der Axt umgebracht, eh? Wir werden ihr schon was Besseres zeigen als ne Axt!«

Die Eckensteher, der Sheriff, der große Mann selber kreischten vor Lachen; es hörte sich an wie die schleifenden Bremsen eines alten Autos.

»Jawoll, Cap'n, hier ist sie – Schwester Lil Hezekiah. Schwester, darf ich Ihnen den Herrn vorstellen, der das Vergnügen haben wird, Ihnen einen Strick um Ihren dürren Hals zu legen, du mordlustige alte Satanskatze! Wahrhaftig, Cap'n, ich kann's beschwören, da bei uns hat sie mich beinah gebissen!«

»Mich wird sie nicht beißen!« Der große Mann streckte einen Arm aus und spreizte die Finger: der Arm eines Ungeheuers in einem Angsttraum. Die Finger krochen langsam auf die Negerin zu, sie schienen nach ihren Augen zu stoßen, krallten sich in ihre Schulter, und sie fiel in die Knie auf den blasenziehenden Planken der Plattform, wobei ihr der stämmige Sheriff das immer noch gefesselte Handgelenk umdrehte. Sie hatte Schaum vor dem Mund und schrie in panischer Angst auf wie ein Dschungeltier. Der große Mann hielt sie fest, während die Handschellen abgenommen wurden, stieß sie zu einem Lastauto, auf dem »Zuchthaus Copperhead« stand, schob sie hinein und drehte sich halb um. Ihr spinnwebengraues Gesicht schaute heraus. Er holte aus und schlug sie – es klang, als wenn ihr dünner Schädel zerknackt wäre – sie verschwand wieder im Wagen, und die Eckensteher kicherten.

»Schwester Hezekiah soll mächtig beten können, ne richtige Pfingst-Betschwester, wenn sie auch mal so aus Versehen ihren Alten mit der Axt rasiert hat!« gluckste der Sheriff.

»Ja die soll auch ordentlich beten! Warum habt Ihr sie nicht gelyncht, wie sich's gehört hätte, und dem Staat die ganzen Kosten erspart?« grollte der Große.

»Aber, Cap'n!« stammelte der Sheriff überrascht und gekränkt. »Man kann doch nicht einen Nigger lynchen, bloß weil er einen andern Nigger umgebracht hat! Deswegen hätten wir sie nicht mal hängen brauchen! Aber sie hat mich beinah gebissen! Weiß Gott, am liebsten würd ich sie selber runterschubsen! Vergessen Sie bloß nicht, daß ich beim Hängen zusehen will. Ich hab noch nie jemand hängen sehen, Cap'n. Ist das nicht komisch – noch nicht mal nen Nigger. Sagen Sie, ist das wahr, daß die manchmal beim Fallen richtig die Köpfe abgerissen kriegen?«

 

Eine Hand berührte Ann am Ärmel. Sie hatte in ihrer Benommenheit nicht bemerkt, daß ein schlaksiger, von der Hitze taumeliger Negerchauffeur schon eine Weile murmelte: »Taxi, die Dame, Taxi?«

»Oh. Taxi? Ach ja, ich will ein Taxi«, flüsterte sie.

»Wohin, die Dame?«

Sie konnte nicht sagen, daß sie ins Gefängnis wollte – daß sie eine Kollegin des »Cap'n« war, des Großen mit dem langen gelben Gesicht.

Aber vielleicht hielt der Chauffeur sie nur für die Frau oder die Freundin eines Sträflings.

»Ins Gefängnis«, keuchte sie, und wirklich schloß der Fahrer aus dem angstvollen Haß, den sie in das Wort hineinlegte, daß sie eine von den Frauen wäre, die noch mehr als die Gefangenen für die Verbrechen ihrer Männer büßen.

 

Die Charakteristika der Hauptstraße von Olympus City waren zusammengewehte Haufen von rotem Staub, in denen Hunde schliefen oder sich träge die durchaus nicht lebhaften Flöhe kratzten, ein- oder zweistöckige Fachwerkläden mit keineswegs frischem Anstrich, vor denen in hochgekippten Stühlen auf dem hölzernen Fußsteig die Besitzer schliefen, und verstaubte Platanen, in denen die Spatzen schlummerten.

Die Straße von Olympus zum Zuchthaus führte über eine lehmige Hochfläche, die von Hügeln umrahmt war. Die Straße ging unbarmherzig geradeaus und lief zwischen Farmen hin, die aus ungestrichenen kleinen Hütten und ungestrichenen großen Schweineställen bestanden, durch Maisfelder und etwas verdorrt aussehende Tabakpflanzungen. Es war eine Wüste; sie bestand nicht aus Sand, sondern aus roter Erde und gelblich-grünen Blättern, aber trotzdem war es eine Wüste, und heiß wie das Todestal in Kalifornien.

»Das kann ich nicht ertragen! Die arme alte geisteskranke Frau zu schlagen! Ich fahr zurück!« quälte sich Ann, zu gelähmt, um ihren Entschluß auszuführen. Ihr war ganz elend vor Scham, daß sie den Sheriff und den Cap'n nicht zur Rede gestellt hatte.

Sie hatte sich das Zuchthaus Copperhead Gap restlos häßlich vorgestellt. Aber da sah sie, majestätisch hinter roten Feldern, einen prunkvollen Kalksteinbau mit hohen Säulen. Der Wagen wackelte einen niedrigen Hügel hinauf durch ein Platanenwäldchen. Am Fuß des Hügels floß ein Bach, an dessen Ufer frischgrüne Weiden standen. Die Auffahrt zu dem Säulenportal war von Rasenflächen und Rosenbeeten eingefaßt.

»Aber das ist ja ein Palast! Vielleicht war dieser entsetzliche Mensch, dieser ›Cap'n‹, gar nicht typisch für hier. Den werd ich schon wegkriegen!« redete Ann sich selber zu.

Ein kriechend höflicher Negerportier (ein Sträfling mit guter Führung) in sauberem schwarzem Alpaka öffnete die Bronzetüren des Hauptgebäudes und führte sie mit überschwenglichen Gebärden in eine Halle mit weißem Marmorfußboden, rosafarbenen Marmorsäulen und gelber Marmortreppe, die nicht im entferntesten nach Gefängnis aussah.

»Miss Vickers, Ma'am, jawoll, Miss Vickers. Wir haben Sie schon erwartet, Miss Vickers. Das Büro vom Herrn Direktor ist gleich hier rechts, Ma'am.«

»An all dem«, sagte Ann zu sich, »ist nichts Scheußliches und Gemeines. Wenn überhaupt was dran auszusetzen ist, mein Kind, dann sieht's für dich ein bißchen zu geleckt aus. Ach, vermutlich muß sich Dr. Slenk mit den scheußlichen Inspektoren abfinden, die ihm die Politiker auf den Hals schicken!«

Zögernd ging sie in das Direktionsbüro und wurde von der hübschen jungen Sekretärin in Dr. Slenks Privatbüro geleitet. Es war ein schöner hoher Raum, mit Eichenpilastern, einem Kamin aus geschnitzter Eiche und Porträts von Robert E. Lee, von John William Golightly, dem jetzigen Gouverneur des Staates, und dem Guten Hirten, der sich barmherzig zu seinen Lämmern neigte. Durch die offenen Schiebefenster sah man die prächtigen Rasenflächen und Rosenbeete.

Dr. Slenk erhob sich zur Begrüßung und streckte ihr fast liebevoll die Hand entgegen. »Miss Vickers! Es ist wirklich eine Ehre für uns, Sie bei uns zu sehen! Ich hoffe, Ihre Arbeit hier wird Ihnen Freude machen. Das hoffe ich. Ach, es gibt hier traurige Tragödien. Und wir machen so viele Fehler. Aber was kann es Schöneres geben, als dem Unglücklichen helfen zu wollen, dem Sünder wieder auf den rechten Weg zu helfen? Ihre Arbeit hier bei uns wird Ihnen hoffentlich Freude machen. Ja, hoffentlich! Hatten Sie es heiß in der Bahn? Und wie ging es Mrs. Windelskate? Ich weiß nicht, was wir machen sollten ohne ihre Hilfe und ihre Ratschläge. Aber das Klügste, was sie je getan hat, war entschieden, Sie hierherzubringen. Ja, ganz entschieden!«

Er war ein so reizender kleiner Mann, der Dr. Slenk – so hübsch und sauber wie ein Foxterrier – ein so hübscher kleiner Leinenkragen, blaue Schleife mit Pünktchen, weißes Hemd und kleine schwarze Oxfordschuhe – so hübsche und ganz intellektuelle Pincenez mit Schildpattrand, die er beim Sprechen munter zusammenklappte und wieder aufspringen ließ.

»Ja, es war ziemlich heiß. Ja …« Sie sprach weiter, aber sie wußte nicht, was sie sagte; sie wußte nicht recht, was für einen Eindruck sie machte; sie dachte: »Ob ich mich wohl trau, ihm von diesem Vieh auf dem Bahnhof zu erzählen?«

»Ah, Sie sind also mit Mrs. Windelskate im Landklub gewesen! Ach, da beneide ich Sie, an einem heißen Tag wie heute! Es ist hübsch da, nicht wahr, im Klub – ich wollte, wir könnten unsern armen Jungs und den Frauen hier auch so etwas bieten, aber es würde leider wahrscheinlich nicht recht abschreckend wirken, hi, hi, hi! Hier kommt meine rechte Hand – der Oberinspektor und Hauptmann der Wache – Captain Waldo Dringoole.«

Ins Zimmer trat mit den Bewegungen eines schlaksigen Elefanten der große Mann mit dem Pferdegesicht, der auf dem Bahnhof die Negerin geschlagen hatte. Er trug jetzt einen blauen Uniformrock, aber den schirmartigen Stetsonhut hatte er immer noch auf.

»Ja«, girrte Direktor Slenk, »eigentlich könnte man wohl sagen, Cap'n Waldo hier ist der wirkliche Boss im Gefängnis. Ich bin nur der Hansdampf, könnte man sagen. Ich empfange die Bürger unseres guten Staates, und ich rede mit den Beamten und finde heraus, was sie von uns wollen, aber Cap'n Waldo hier führt es wirklich aus … Miss Vickers, Captain Waldo Dringoole! … Cap'n, Miss Vickers ist wegen des verhältnismäßig geringfügigen Verbrechens eingeliefert, Soziologin zu sein, also behandeln Sie sie milde – sperren Sie sie nicht in die Dunkelzelle – vorläufig nicht! Hi, hi, hi.«

Er war ein lustiger kleiner Mann, der Doc Slenk – außer bei Revolten. Er war stets so, scherzhaft und freundlich, und dabei schnappte er immer seine Pincenez auf und zu.

Ehe Ann ausweichen konnte, hatte Cap'n Waldo schon ihre Hand in seiner ungeheuren Klaue zerdrückt und brüllte von schwindelnder Höhe herab: »Willkommen in unserer Stadt, wie man so sagt, kleine Dame! Ich hab Sie an der Bahn gesehen, aber ich war sozusagen beschäftigt. Ich hab keine Ahnung, was der Deibel ne ›Soziologin‹ ist, aber wenn Sie's sind, ist es mir schon recht! Aber es wird Ihnen nicht gefallen! Wir haben ein paar ziemlich schwere Jungens hier. Wir geben uns Mühe, sie gerecht zu behandeln, aber gnade uns Gott, die wachsen einem ja einfach übern Kopf. Also, das beste wird sein, Sie bleiben einen Monat oder so hier – wird eine gute Erfahrung für Sie sein – und dann verschwinden Sie wieder zu Ihren Colleges und Besserungsanstalten und all dem weichlichen Zeug. Hören Sie, wenn Sie mal frei haben, würden meine Alte und ich uns riesig freuen, wenn Sie uns besuchen würden und eine Flasche Coca-Cola mit uns trinken.« Ann merkte, daß der Mann sich Mühe gab, herzlich zu sein. Aber das zahnlückige Lächeln, mit dem er auf sie herabsah, war schreckenerregend. »Kleine Dame, lassen Sie sich jetzt, wo Sie grade anfangen, von mir warnen. Es gibt ne ganze Menge Narren und gefühlsduslige Theoretiker – Theoretiker! – besonders da, wo Sie herkommen, die anscheinend die Idee ausgebrütet haben, man könnt nen Haufen schwere Jungs, die einen für ein Butterbrot über den Haufen schießen würden, behandeln, indem man sie bittet, sie sollen gute Kinder sein, und sie verwöhnt und ihnen Badewannen und Champagner und Tombolabälle und Gott weiß was für Narrenkram gibt! Das ist alles recht schön und gut für sone Theoretiker, die an nem richtigen ehrlichen Gefängnis nie näher drangewesen sind als n Collegegarten. Aber ich, ich bin erst zweiundfünfzig, aber ich bin seit zweiunddreißig sterblichen Jahren im richtigen praktischen Gefängnisbetrieb, als Sheriff und all so was, und ich sage Ihnen, die einzige Art, Verbrecher zu behandeln – es sind einfach keine Menschen, was wir Menschen nennen, und die einzige Art, sie zu behandeln, ist, ihnen die Furcht des Herrn beibringen, daß sie sich anständig benehmen, solang sie im Kasten sitzen, und keine Lust haben wiederzukommen, wenn sie rauskommen. Man muß sie natürlich gerecht behandeln. Aber man muß sie fühlen lassen, daß man im Ernst der Herr ist und keine Angst davor hat, sie richtig zu bestrafen, wenn sie versuchen, irgendwas auszufressen! Ich hab keine Angst vor ihnen, und das wissen sie. Solang sich einer gegen mich richtig benimmt und ganz genau bis auf die kleinste Kleinigkeit tut, was ich ihm befehle, ohne Gerede, warum und wieso, behandel ich ihn gerecht, und die verdammten Zuchthäusler wissen das auch!«

(Sie hatten sich mittlerweile gesetzt; Dr. Slenk saß strahlend und nickend an seinem Tisch; Cap'n Waldo füllte einen Armstuhl aus und machte zu seiner Rede entsprechende Gesten; Ann saß wie hypnotisiert da, nur ihre Finger tanzten einen nervösen Galopp auf ihrem Knie.)

»Das ist richtige ›wissenschaftliche Kriminologie‹, was? Ursache und Wirkung! Mach Stunk und du kriegst Stunk! Kann etwas wissenschaftlicher sein? Und weil wir grade von Psychologie reden (das war natürlich nur Spaß, wie ich sagte, ich wüßte nichts von Soziologie; ich wette, ich hab ne ganze Masse mehr richtige tiefgründige, gelehrte Bücher gelesen als die meisten von diesen Kerlen, die sich für so weise halten, ich reiß bloß nicht das Maul darüber auf) – und was also die Psychologie angeht, will ich Ihnen mal sagen, was es damit wirklich auf sich hat. Warum sind Verbrecher Verbrecher? Weil sie denken, sie sind zu gut dazu, den Gesetzen zu gehorchen. Was soll also ein Aufseher mit ihnen tun? Ganz einfach, sie schleifen! Ihnen zeigen, daß sie nichts Besseres sind als die andern Leute – das heißt, ihnen zeigen, daß sie überhaupt nichts wert sind, und daß es nur eine Möglichkeit für sie gibt, durchzukommen, im Gefängnis oder draußen: nämlich, alle Gesetze halten, ganz egal, was drinsteht, und zwar sofort und ohne Widerrede! Wirklich, es ist ne gute Methode, den Leuten sinnlose Verordnungen zu geben, die überhaupt keinen Sinn haben, eben bloß, damit sie lernen müssen, zu tun, was ihnen gesagt wird, ganz egal, was es ist! Und wenn sie's nicht tun – schleifen! Ich mach das! Ich scheu mich nicht, sie zu peitschen (nach dem Gesetz soll das ja nicht sein, aber wir reden ja jetzt unter uns, und nicht vor der blöden Höheren Dienststelle.) Mir macht's nichts aus, sie zwei Monate lang im Loch zu halten, wenn's not tut, ohne Kleider und ohne Bett und ohne Licht, und sehr wenig Brot, und nur grade so viel Wasser, daß sie immerzu Durst haben, Tag und Nacht. Ich mach mir auch nichts draus, sie in der Schlummerrolle – so nennen wir hier die Zwangsjacke – einzuschnüren, bis sie denken, sie platzen. (Der Direktor darf von diesen Sachen nichts wissen, also sagen Sie ihm nichts davon!)«

Sie lachten wissend, die beiden Männer – lachten in schriller Lustigkeit, wie Onkels, die ihre Freude an den Schelmenstreichen eines kleinen Kindes haben.

»Sehen Sie, Miss – Vickers, nicht wahr? – darauf kommt's an. Es ist nicht nur bedeutend leichter für uns, sondern auch bedeutend menschenfreundlicher gegen die Sträflinge selber, ihnen zu zeigen, daß es für sie keinen Sinn hat, aufzumucken. Mein Gott, es ist richtig, wie's in der Bibel steht: ›Wer die Rute spart, verzieht das Kind!‹ Je schneller sie wissen, woran sie sind, um so besser haben sie's. Sie müssen Disziplin lernen. Disziplin! Das ist das größte Wort in unserer Sprache! Ich sage Ihnen, wenn die Leute das nur wüßten, die größte Gemeinheit, die man je gegen diese armen Teufel begangen hat, war das, was diese blödsinnigen Theoretiker ›Gefängnisreform‹ nennen! Idioten wie dieser Windbeutel Osborne und dieser Schulmeister Kirchwey! Ach, wenn ich nur ein paar von den guten alten Strafmitteln hätte, wenn ich die Unverbesserlichen brandmarken könnte, damit die Leute sehen können, was das für Stinktiere sind, wenn ich sie auspeitschen könnte, nicht klammheimlich, sondern öffentlich, daß es dann für alle ne Warnung und Abschreckung wäre, ihnen fünfhundert mit ner richtigen neunschwänzigen Katze geben – aufhören, wenn sie ohnmächtig werden, und dann wieder weitermachen, und ordentlich viel Salz nachher in die Striemen – also, ich sage Ihnen, wenn ich das könnte, würd ich alles Verbrechen im Handumdrehen kurieren! Jawoll, es ist ne Schande, daß man durch die Zeitungen und diese verdammten sogenannten Reformatoren an dem gehindert wird, was, wie die Erfahrung lehrt, aus diesen ganzen elenden Verbrechern gute, aufrechte, gottesfürchtige Menschen machen würde! Na also, Schwester, ich wollt keine Nationalfeiertagsrede halten! Aber ich dachte bloß, es war gut, wenn Sie gleich zu Anfang die Sache von innen her, wie sie wirklich ist, kennenlernen, daß Sie nachher nicht rausgehen und sich beklagen, wir hätten Ihnen was vorgemacht. Ich sage Ihnen, ich mit meiner Erfahrung kann Ihnen in fünf Minuten mehr richtige, ehrliche, praktische Strafrechtstheorie beibringen, als Sie in diesen Colleges und läppischen Besserungshäusern in fünf Jahren lernen könnten. Was, Direktor?«

»Ja, Cap'n Waldo, Sie wissen, daß ich in vielen Dingen nicht Ihrer Meinung bin. Aber es ist viel dran an dem, was er sagt, Miss Vickers. Wir alle möchten nach neuen psychologischen Theorien arbeiten, aber wie Shakespeare oder wer es sonst war, sagt: ›Das Arbeitspferd Praxis kann nicht mit dem Traber Theorie Schritt halten‹. Also, Cap'n, wollen Sie bitte Miss Vickers hinausbegleiten und sie mit Mrs. Bitlick und den Mädchen bekanntmachen und ihr zeigen, wo sie ihren Hut anhängen kann?«

Ann war vor Wut und Empörung sprachlos und so gelähmt, daß sie wirklich freundlich blöd aussehen mochte. Jedenfalls stierte Captain Waldo sie nicht ohne Wohlgefallen an, als er knurrte: »Tja, Schwester, vielleicht werden Sie's noch lernen, trotzdem Sie Ihre Zeit auf dem College vertrödelt haben … Enker! ENKER!« Sein Gebrüll war furchteinflößend. Der als Portier fungierende schwarze Sträfling schoß in das Büro wie der komische Diener in einer Posse.

»Jawoll, Cap'n Waldo!«

»Bring Miss Vickers' Mappen und ihr übriges Zeug in den Schlafraum der Aufseherinnen, und zwar fix!«

»Jawoll!«

Der Portier himmelte Cap'n Waldo mit den schwarzen Zähnen und dem schweinsledernen Gesicht an wie ein Betender ein Heiligenbild. Brechreiz, Schrecken, Mordlust – welches der drei lieblichen Gefühle sich in ihr am stärksten ausprägte, wäre schwer zu entscheiden; jedenfalls mischten und summierten sich diese angenehmen Empfindungen in ihrem Innern so sehr, daß sie immer noch kein Wort herausbrachte, als sie auf Cap'n Waldos »Also los, Schwester« aufstand.

Draußen kicherte Cap'n Waldo: »Wissen Sie, ich hab's ja nicht nötig, wegen der Sträflinge runter zum Bahnhof zu fahren, wie heute. Deibel nochmal, nein! Ich bin der Boss! Aber es macht doch Spaß, wenn man sone richtige Mörderin kriegt!«


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