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»Ich hasse dieses Evans-Haus! Alles ist so poliert! Hier gefällt es mir!« tobte Ann, als sie Ben verlassen hatte und wieder in dem braunen, behaglich nachlässigen Vickersschen Wohnzimmer war … Ein sandfarbener Brüsseler Teppich; Christusbilder von Hoffmann; alte College-Lehrbücher, Walter Scott, Dickens und Washington Irving, die »English Men of Letters«-Serie, das Dschungelbuch und Vögleins Weihnachtslied und die Crudensche Konkordanz; ein Sofa mit zahllosen Quasten, auf dem ein handgearbeitetes Kissen lag, und in einem Kästchen an der Wand Vaters Pantoffel mit dem eingestickten Monogramm.

»Hier gefällt es mir! Hier ist man gut aufgehoben!« sagte Ann und schleppte sich hinauf, um schlafen zu gehen.

Verächtlich legte sie ihr prächtiges Musselinkleid ab. Aber sie war eine viel zu ordentliche Seele, um etwas so Dramatisches zu tun, wie es vom Leib zu reißen und mit großartiger Gebärde auf den Boden zu werfen. Sie hängte es sorgfältig auf und strich den Rock glatt, wobei ihre Finger bewußt die Kühlheit und Frische des Stoffes empfanden.

Sie bürstete sich das Haar und klopfte ihr Kissen zurecht, aber sie ging nicht zu Bett. Sie zog ihr Regenmäntelchen an (der Vickerssche Haushalt hatte es im Jahr 1906 noch nicht zu Schlafröcken gebracht), sie setzte sich in einen geraden Stuhl und blickte sich feierlich im Zimmer um, als hätte sie es noch niemals gesehen.

Es hatte nur die Größe einer Schlafkammer, aber es war so sorgfältig und sauber aufgeräumt, daß es geräumiger wirkte. »Wirtschaft«, wie sie es nannte, war Ann verhaßt. Hier hingen nicht Unmengen von Tanzkarten, auf denen sich Fliegen verewigt hatten, mit kleinen Bleistiftchen neben dem Spiegel auf der Kommode; es gab keine Momentaufnahmen von Badegruppen am Strand; und kein einziges Banner von Yale oder der Staatsuniversität von Illinois!

Ein Bücherregal – Hans Christian Andersen, Kinder des Wassers, Lieder im alten Rom, David Copperfield(aus der Gesamtausgabe unten gestohlen) Le Galiennes Suche nach dem Goldenen Mädchen, die Bibel ihrer Mutter, ein Buch über Bienen und Kim, dessen Seiten schon schwarz vom Lesen waren. Eine Kommode, auf der Kamm, Bürste und Schuhknöpfer genau parallel gelegt waren. (Wie viele ungebundene, abenteuerlustige Menschen ordnete Ann überall, wo sie war, ihre sieben Sachen viel akkurater als die seßhaften Leute, deren Angst vor dem Leben ihrer Trägheit im Organisieren ihrer Wohnstätten gleichkommt.)

Ein nüchternes Feldbett mit einer verräterischen weiblichen Sentimentalität: einem winzigen Kissen mit Spitzeneinsatz. Der gerade Stuhl. Ein ziemlich schlechter Kohledruck von Watts' ziemlich schlechtem Bild von Sir Galahad. Ein großes Fenster, das für gewöhnlich offenstand. Ein Flickenteppich. Und Friede.

Dieses Zimmer war Ann selbst. Seit dem Tod ihrer Mutter war niemand dagewesen, der ihr hätte sagen können, wie das Zimmer einer wohlerzogenen jungen Dame auszusehen habe. Sie hatte es so gemacht. Und doch sah sie jetzt in dem Zimmer und in sich selbst etwas Fremdes und Sonderbares und Unglaubliches.

Sie sprach mit sich.

Ann Vickers war freilich, abgesehen von Äußerlichkeiten, mit Fünfzehn schon ganz so wie später mit Vierzig. Aber andererseits konnte sie damals nicht schon mit so beißender Schärfe mit sich reden wie später als Vierzigjährige. Ihr Selbstgespräch war unklar; es war ein Gefühl, das nicht recht seinen Ausdruck fand. Hätte sich dieses Gespräch jedoch da, wo sie, die Nägel voll Bitterkeit in die Handflächen gebohrt, in ihren kleinen Regenmantel eingeschmiegt saß, in Worte fassen lassen, so hätte es gelautet:

»Ich habe Dolph geliebt. O guter Gott, ich hab ihn wirklich geliebt. Vielleicht war das sogar nicht ganz in Ordnung. Als mir die komische Sache passierte, von der Vater sagte, ich soll mir keine Sorgen darüber machen, da wollt ich haben, daß er mich küßt. Ach Lieber, ich hab dich wirklich geliebt. Du warst so wunderbar – du hast einen so schlanken, harten Körper gehabt, und du bist – hast? – so wunderbar getaucht. Aber du warst nicht nett. Ich dachte, es ist dir ernst mit dem, was du mir heut abend unter dem Tannenbaum gesagt hast. Ich dachte, es ist dein Ernst! Daß ich nicht bloß ein derbes Mädel bin, das Sport treiben kann, aber kein Mensch kann es lieben.

Ich werd nie einen richtigen Beau haben. Ich bin wahrscheinlich zu heftig. Ach, ich will es ja gar nicht sein! Ich weiß, ich denk immer die Spiele aus. Und ich will eigentlich gar nicht. Ich kann eben wahrscheinlich einfach den Mund nicht halten … Und die anderen sind alle so verflucht blöd … Lieber Gott, vergib mir, daß ich ›verflucht‹ gesagt habe, aber sie sind wirklich so verflucht blöd!

Ben. Der würde mich lieben. Er ist so freundlich.

Ich will aber nicht von irgendeinem Schaf geliebt werden! Ich bin ich! Ich werd schon der ganzen Welt zeigen – Springfield und Joliet und vielleicht auch Chicago!

Ich glaub, wenn ich überhaupt einmal jemand liebe, der so derb ist wie ich, wird er immer Angst vor mir haben –

Nein, Dolph hat keine Angst gehabt. Er hat mich verachtet

 

Mit einemmal – es ist gar nicht klar zu verstehen, warum sie es tat – las sie den Vierundzwanzigsten Psalm in ihrer Mutter Bibel, die an den Kanten des schwarzen, biegsamen Ledereinbandes abgestoßen war, und jetzt erhob sich ihre Stimme, sie wurde laut und deutlich, während sie psalmodierte:

»Wer wird auf des Herrn Berg gehen? und wer wird stehen an seiner heiligen Stätte?

Der unschuldige Hände hat, und reinen Herzens ist; der nicht Lust hat zu loser Lehre, und schwöret nicht fälschlich:

Der wird den Segen vom Herrn empfahen und Gerechtigkeit von dem Gott seines Heils.

Das ist das Geschlecht, das nach ihm fraget, das da suchet dein Antlitz, Gott Jakobs. Sela.

Machet die Thore weit und die Thüren in der Welt hoch, daß der König der Ehren einziehe!

Wer ist derselbige König der Ehren? Es ist der Herr, stark und mächtig, der Herr, mächtig im Streit.

Machet die Thore weit und die Thüren in der Welt hoch, daß der König der Ehren einziehe!

Wer ist derselbige König der Ehren? Es ist der Herr Zebaoth, Er ist der König der Ehren. Sela.«

 

Ihr Vater klopfte an die Tür und fragte besorgt: »Ann! Annie! Was ist denn? Bist du krank?«

In diesem Augenblick haßte sie alle Männer außer dem König der Ehren, für den sie alle albernen Adolphs und freundlichen Väter dieser Welt aufzuopfern bereit war. Ihr war ganz wild zumute. Aber sie antwortete höflich:

»Aber nein. Entschuldige, Vati. Ich hab bloß gelesen – äh – etwas geübt, weil ich dachte, wir werden es durchnehmen. Es tut mir schrecklich leid, daß ich dich aufgeweckt hab. Gute Nacht, Vater.«

»War es nett bei der Gesellschaft?«

Ann konnte ihr ganzes Leben lang lügen wie ein Gentleman, und so sagte sie heiter:

»Ach, es war reizend. Gute Nacht

»Ja, ich werd darauf verzichten müssen. Die Jungens, die, die ich mir wünsche, denen werd ich nie gefallen. Und mir gefallen sie, weiß Gott! Aber ich muß eben zufrieden damit sein, daß ich selber ein Junge bin.

Und ich will doch gar nicht.

Aber ich werd etwas tun! ›Machet die Thüren in der Welt hoch!‹

Er war so stark. Und gelenkig!

Ach, er!

Ich werd nie wieder meinen Stolz vergessen und jemand haben wollen.

Das Bild hängt nicht gerade, nicht ganz gerade.

Solche Mädels wie die Mabel! Die sich immer mit den Jungens rumtreiben!

Nie wieder werd ich ihnen, nie wieder werd ich den Jungens eine Gelegenheit geben, daß sie sich lustig über mich machen, weil ich anständig zu ihnen bin!

›Machet die Thüren hoch!‹ Ich geh schlafen.«

 

Obgleich Ann ihn oft in dem Kolonialwarengeschäft sah, in das er sich in aller Stille von den Anstrengungen des Lernens an der Höheren Schule zurückzog, obwohl es die Zeit war, in der ihre Schar sich endgültig in Mädchen und junge Leute teilte, zeigte sie nie mehr Interesse für Adolph Klebs.

»Herrjesus, die Ann Vickers ist komisch«, bemerkte Mildred Evans. »Verdreht ist sie! Sie sagt, sie will nicht heiraten. Sie will Doktor oder Anwalt oder irgend so was werden, ich weiß nicht, was. Verdreht ist sie!«

O Mildred, wie klug warst du, und wie klug bist du! Bist du heute nicht mit Ben verheiratet, und hast du nicht das beste Radio in der Stadt? Kannst du nicht die Übertragung aus London mit Arnos und Andie oder mit den Weisheiten Ramsay Mac-Donalds hören? Hast du nicht einen Buick, während Dr. Ann Vickers in einem klapprigen Ford einherrattert? Spielst du nicht in der erlesensten Gesellschaft Bridge, während sie mit einem schweigenden Mann Pinochle spielt? Gute Mildred, kluge Mildred, du hast niemals mit der Welt gerungen, die dich immer besiegen wird.

Gute Nacht, Mildred. Du bist abgetan.

 

Der Weihnachtsabend, an dem Ann siebzehn Jahre alt war, war ein richtiger Postkartenweihnachtsabend. Als sie zu den Sonntagsschulübungen in die Kirche eilte, beschienen die freundlichen Lichter der Nachbarhäuser eine verschneite Straße, deren Schlittengleise zwei Linien aus poliertem Stahl glichen. Der Mond schwamm kalt hoch oben, die vereisten Zweige der Tannenbäume klirrten leise, und überall hatte die gute trockene Kälte etwas Festliches.

Ann war ausgefüllt und beschäftigt – allzu beschäftigt, um Kleiderfragen und Problemen der Eleganz so viel Aufmerksamkeit zu schenken wie in den Tagen ihrer Eitelkeit, als sie fünfzehn war. Sie hätte zwar wirklich lieber etwas Moderneres gehabt als ihre karierte Seidenbluse, und sie haßte das dickwollene Kostüm, das ihr vernünftiger Vater für sie gekauft hatte – aber, na, die Tage ihrer Leichtfertigkeit waren vorüber.

Sie war Lehrerin in der Mädchenzwischenklasse der Ersten Presbyterianischen Kirche; einst hatte Mrs. Fred Graves in ihr unterrichtet, die jetzt im Greenwood-Friedhof schlummerte, und von der ein Mädchen namens Annie Vickers wegen frivoler Ansichten über die Notwendigkeit, Frauen zu strafen, herausgeworfen worden war. Die Mädchenzwischenklasse sollte bei den Sonntagsschulübungen die Kantate »Horch, die Heroldengel singen« zum Vortrag bringen, und Ann eilte – eilte – weil es so wichtig war, da zu sein, sich um alles zu kümmern, damit ihre Klasse Eindruck auf das Publikum machen könnte.

Die Kirche war ein wahrer Hochofen festlicher Stimmung, als sie hinkam; die Fenster vergoldet, die Tür ganz reizend von einem hölzernen Spitzbogen eingerahmt. In der Vorhalle der Kirche waren alle kleinen Jungen versammelt, die in den letzten beiden Wochen, obgleich sie die übrigen fünfzig Wochen des Jahres hindurch ihre Sabbatpflichten wahrscheinlich vernachlässigten, erbaulich eifrige Kirchenbesucher gewesen waren.

Das Innere der Kirche war eine grüne, schimmernde Grotte. Selbst die schönen Sprüche an den Wänden, »Gesegnet sei der Name des Herrn« und »Bist du gerettet?« waren nahezu ganz hinter Stechpalmenkränzen verborgen. Das schönste von allem aber war der Weihnachtsbaum auf der Empore. Gut drei Meter war er hoch, besteckt mit Kerzen und Papiermachéengeln – denn am Heiligen Abend gestattete sich die Presbyterianische Kirche so viel Katholizität, außer dem Christkind auch Engel zu dulden. Kerzen vor dem satten Grün; Kerzen und weiße Engel und Silberkugeln und sehr viel Schnee aus dicker Watte. Und am Fuß des Baumes lagen die Strümpfe, für jedes presbyterianische Kind einer, auch für die, die nur in den beiden letzten Wochen überzeugt kalvinistisch gewesen waren; Strümpfe aus steifem Garn, in deren jedem eine Orange stak, ein Säckchen mit hartem Zuckerwerk und Pfefferminzplätzchen, auf denen in Rot passende Sprüche, wie »Für unseren Liebling«, gedruckt waren, drei Paranüsse (die man in Waubanakee besser unter dem Namen »Negerzehen« kannte), ein Exemplar des Johannes-Evangeliums und ein Geschenk – eine Blechtrompete oder eine Pfeife oder ein Stoffaffe.

Das alles hatte der neue Pastor, der junge Reverend Donnelly, von seinem Gehalt gekauft; er hatte achtzehnhundert Dollar im Jahr – wenn er sie bekam. Er war nicht sehr klug, dieser junge Mann. Er verschüchterte die jungen Leute, Ann Vickers nicht ausgenommen, indem er ihnen einen zornigen alten Gott präsentierte, der sie beobachtete und bei unartigen kleinen Gewohnheiten zu ertappen suchte. Und seine Predigten waren langweilig, erstickend langweilig. Aber er war so freundlich, so eifrig! Er eilte Ann durch das Kirchenschiff entgegen, um sie zu begrüßen.

»Miß Vickers! Ich bin ja so froh, daß Sie früh kommen! Wir werden einen herrlichen Heiligen Abend haben!«

»Oh, hoffentlich. Meineklassefertig?« fragte die energische Ann.

Alles ging ausgezeichnet: das Beten, die Hymne »Kommet, Ihr Gläubigen alle«, die vom Chor und der Gemeinde gesungen wurde, das komische Lied, das der Zahnarzt Dr. Brevers vortrug, die Kantate, die Ann sehr flott mit ihrem Taktstock dirigierte, und dann kamen sie zum Höhepunkt des Abends – der Verteilung der Weihnachtsstrümpfe durch St. Nikolaus, der im roten Rock, mit schneeweißem Bart, sehr nett und wohlwollend aussah. Im Privatleben war der Nikolaus Mr. Bimby mit der Klarinette und dem Stoff- und Herrenartikelgeschäft Heureka.

Mr. Bimby redete.

»Also, Jungs und Mädels, ich bin, öh, einen weiten Weg gekommen, den ganzen Weg vom Eis und Schnee und, öh, den Gletschern des Nordpols, weil ich gehört habe, daß die Jungs und Mädels von der Presbyterianer-Kirche in Waubanakee ganz besonders artig waren und immer getan haben, was ihre Eltern ihnen gesagt haben, und deshalb habe ich meine Verabredungen mit dem Papst in Rom und dem König von England und den ganzen Leuten schießen lassen, um selber persönlich bei euch zu sein.«

Ann Vickers hatte als Mitwirkende einen Sitz in einer der Vorderbänke. Ein wenig unruhig beobachtete sie, wie eine Kerze, die auf einem der untersten Christbaumzweige saß, sich krümmte. Sie machte sich Vorwürfe wegen ihrer Ängstlichkeit, aber trotzdem konnte sie kaum Mr. Bimby zuhören, der voll Humor und Munterkeit weitersprach:

»Nun werden ja wohl ein paar von euch in dem vergangenen Jahr nicht ganz so brav gewesen sein, wie sie eigentlich hätten sein sollen. Und vielleicht sind ein paar von euch nicht oft genug zur Sonntagsschule gegangen. Ich weiß, daß in meiner Klasse – ich meine, mein Freund Ted Bimby, der Lehrer von der Fortgeschrittenen Jungensklasse hier hat mich angerufen und hat mir gesagt, daß manche von den Jungens an schönen Sommervormittagen – –«

Die Kerze senkte sich wie eine müde Hand. Ann krampfte die Finger zusammen.

»– lieber fischen gehen, als das Wort des Herrn hören, und die ganzen Lektionen, die ihr von den Beispielen lernen könnt, die Jakob und Abraham und alle die klugen alten Leute –«

Die Kerze berührte die Watte. Augenblicklich stand der Baum in Flammen, in hochaufschießenden fürchterlichen Flammen. Reverend Donnelly und St. Nikolaus Bimby standen da und schnappten nach Luft. Ann Vickers aber sprang auf die Empore und stieß Bimby zur Seite.

Die Kinder schrien in dem grenzenlosen, ganz unvernünftigen Kinderschrecken gellend auf und drängten wild zur Tür.

Ann packte die Binsenmatte, die die Kanzelempore schmückte, warf sie über den brennenden Baum und schlug die Flammen, die von der Matte nicht zugedeckt waren, mit ihren Händen aus; ihr versengter Körper tat weh, als hätte sie an jeder Brandstelle Zahnschmerzen. Sie tobte, sie sagte »Ach du meine Liebe!« in einem Ton, der es schlimmer klingen ließ, als wenn sie »Ach verflucht!« gesagt hätte.

Gerade in dem Augenblick, in dem sie umsank, wurde ihr bewußt, daß das Feuer erstickt war, und daß Dr. McGonegal seinen Waschbärmantel über den Baum warf. Sie hoffte noch, daß der Mantel nicht verbrennen würde.

 

Zwei Wochen lang lag Ann zu Bett. Dr. McGonegal sagte, sie würde, abgesehen von ein oder zwei kaum sichtbaren Stellen an den Handgelenken, keine Narben zurückbehalten. Und zwei Wochen lang war sie eine Heldin.

Reverend Donnelly machte jeden Tag einen Besuch. Mr. Bimby brachte ihr einen wertvollen Perlenkranz. Ihr Vater las ihr David Harum vor. Der Intelligencer von Waubanakee erklärte, sie sei vom Schlage der Susan B. Anthony, der Königin Elizabeth und der Jungfrau von Orleans.

Wirklich aufregend für sie aber war der Besuch von Oscar Klebs – seine homerische Stirn, sein weißer Bart, seine stille Verzweiflung.

Ziemlich verwirrt und einigermaßen fassungslos über einen so proletarischen Besucher, führte Professor Vickers den alten Mann herein, indem er mit gemachter Munterkeit sagte: »Noch ein Gast für dich, meine Liebe.«

Das Ansehen, das Ann als Heldin genoß, gab ihr ihrem freundlichen, aber dennoch väterlichen Vater gegenüber einen Mut, den sie bis jetzt nur selten aufgebracht hatte. Sie wagte es, ihn mit einer nahezu fraulichen Kopfbewegung zur Tür hinauszuschicken, und dann war sie allein mit Oscar.

Der alte Mann setzte sich an ihr Bett und tätschelte ihr die Hand.

»Das haben Sie sehr schön gemacht, meine kleine Dame, und ich bin nicht so bigott, daß ich glaube, das alles ist passiert, weil es in einer Kirche war. Nein, vielleicht nicht! Aber ich bin gekommen – – Kleine Ann, setzen Sie sich nicht deshalb in den Kopf, daß Sie eine Heldin sind! Das Leben ist nicht Heldentum. Das Leben ist Denken. Alles Gute, meine kleine Dame! Jetzt geh ich!«

Es war weitaus der kürzeste Besuch, den sie hatte. Und eine Woche lang lag sie, frei von der Pflicht, tüchtig und wichtig in unwichtigen Dingen zu sein, im Bett und dachte – die einzige Woche in ihrem ganzen bisherigen Leben, in der sie Zeit hatte, zu denken.

Oscar Klebs schien immer neben ihr zu sitzen und zu verlangen, daß sie denke.

»Hm – ja. Ich hab es zu sehr ausgekostet«, grübelte sie. »Heldin, von wegen! Ich hab das Feuer ja ausgedrückt, bevor ich Zeit hatte, zu merken, was ich tu. Annie, nett war es aber doch von dir, daß du das Feuer ausgedrückt hast. Jawohl, nett war das, meine Liebe! Mr. Bimby hat Angst gehabt und Reverend Donnelly auch. Du hast aber keine gehabt! Na und wenn schon? Du bist einfach rascher als die meisten anderen. Und trotzdem hast du es nicht zuwege gebracht, daß Adolph dich liebt!

Ach lieber Gott, mach mich stark! Mach, daß ich mir nicht immer von Beifall zu sehr schmeicheln lasse!

›Wer wird auf des Herrn Berg gehen? und wer wird stehen an seiner heiligen Stätte?

Der reine Hände hat, und reinen Herzens ist.‹

Aber weiß Gott, ich hab das Feuer ausgedrückt, und die Männer haben alle dagestanden und geglotzt!«


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