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Erst seit einem Jahr leitete Ann Vickers das Stuyvesant Frauenarbeitshaus, das modernste Gefängnis in New York City, an dem sie die zwei vorhergehenden Jahre »Stellvertretende« gewesen war, aber sie hatte sich mit ihrem Buch Berufsausbildung in Frauenbesserungsanstalten einen Namen unter allen Soziologen und Juristen in Amerika gemacht, und heute, im Januar 1928, wurde ihr von der Erasmus Universität in Connecticut der Grad eines Doktors der Rechte verliehen.

Ein Tag aus dem Leben einer Bedeutenden Frau …

Ihr Zug ging am Grand Central um sieben Uhr dreißig ab; sie hatte gerade Zeit, im Bahnhof – in dieser erstaunlichen Untergrundstadt aus Zigarrenläden, Zeitungskiosken und Herrenartikelgeschäften in Straßen, denen elektrische Lampen Sonne und Sterne sind – auf einem hohen Stuhl an einer Theke eine Tasse Kaffee und einen Pfannkuchen zu sich zu nehmen. Sie winkte den Rotbemützten ab und trug sich selbst ihr Köfferchen, in dem sie ihre akademischen Roben, eine Schachtel Konfekt und das letzte Gefängnishandbuch der National Society of Penal Information hatte. Bei einem Jahresgehalt von fünftausend, ohne Dienstwohnung oder Verpflegung, gibt man als Leiterin einer Frauenanstalt nicht leichten Herzens Trinkgelder an Träger, denn alle Gefangenen haben, sobald sie vor ihrer Entlassung stehen und im Begriffe sind, in ein Leben der Heiligkeit und Nüchternheit einzutreten, den gleichen Gedanken, sich etwas von der Leiterin zu borgen.

Die Bedeutende Frau las nicht lang während ihrer zweistündigen Reise. Sie saß still und ruhig da und blickte zum Fenster hinaus, anscheinend ohne etwas zu sehen. Ihre dunklen Augen wirkten entschlossen, doch zufrieden. Sie musterte die Leute rasch, so als wäre sie gewohnt, sie abzuschätzen und ihnen Befehle zu geben, aber sie hatte nicht den gierigen, hungrigen Blick der Egoisten, die bemerkt werden wollen. Man hatte den Eindruck, daß sie in Menschenmengen sehr allein sein konnte.

Auf dem Bahnhof von Erasmus wurde sie von dem Präsidenten der Universität, zwei Professoren der Soziologie und einer Funktionärin des Staatsverbandes der Frauenklubs mit ernsthaftem Händeschütteln begrüßt.

»Es wird uns eine ganz besondere Ehre sein, Sie zu den Ehrenalumnen unserer alten Erasmus zählen zu dürfen«, sagte der Präsident, der ein kleiner Mann war.

»Haben Sie eine gute Reise gehabt?« fragte mit dröhnender Stimme einer der Professoren. Als ob sie aus China käme.

»Mein eigener Klub kann es gar nicht erwarten, von Ihnen durch einen Vortrag ausgezeichnet zu werden, wann es Ihnen am passendsten ist, wenn wir auch recht gut wissen, wie schrecklich viel zu tun Sie haben mit dieser großen Institution, die Ihnen anvertraut ist«, hauchte die Klubfrau. Sie war übrigens ganz hübsch.

»Wenn Sie sich die Mühe nehmen wollten, zu uns heraufzukommen, würde sich meine liebe Frau ein Vergnügen daraus machen, Ihnen beim Anlegen der akademischen Gewänder behilflich zu sein«, sagte der Präsident; er lächelte dabei, um anzudeuten, daß er leicht witzig sei.

Als Ann im Haus des Präsidenten das Schmerzensgewand und den komischen Hut angetan hatte, die aus irgendwelchen Gründen zum Etikettieren der Gelehrsamkeit gehören, fragte die Frau des Präsidenten strahlend: »Kann ich irgend etwas für Sie tun?«

Am liebsten hätte Ann erklärt: »Und ob Sie was für mich tun können! Ich möcht gern eine Tasse Kaffee und ein Ei haben.« Aber wenn man dicht davor ist, ein Doktor der Rechte zu werden, bittet man nicht um Kaffee und Spiegeleier, nicht wahr? Sie blieb klassisch und ruhig. Das war, wie sie lernte, ein überaus wichtiger Teil der Aufgabe, eine Bedeutende Frau zu sein: stillbleiben, wenn man nicht weiß, was man sagen soll.

Die Versammlung wurde in einem Saal gleich einem Arsenal abgehalten, überaus modern, nichts als Stahlträger, geschwungene Zementwände und Lautsprecher. Es war eine erkleckliche Anzahl von nicht Graduierten da – Ann hatte den Argwohn, daß die Soziologieprofessoren ihre unwilligen Studenten herbeigeschleift hätten – viele Klubfrauen und der größte Teil des Lehrkörpers. Der Saal war zu einem Viertel gefüllt.

Vor der Zeremonie wurde Ann hinter dem Podium in einem netten Zimmer, das mit handschriftlichen Briefen von William James, Henry Adams und Robert Underwood Johnson verziert war, den anderen Berühmtheiten vorgestellt, die Ehrentitel bekommen sollten: dem Präsidenten einer Bank in Schenectady, der hunderttausend Dollar für die Höhere Handelsschule von Erasmus gestiftet hatte; dem Gouverneur eines Staates im Mittelwesten; und der Weltautorität in Sachen der Flora Belutschistans. In einem Eisenbahnwagen wäre ihr keiner dieser Männer aufgefallen, aber da sie wußte, daß es Berühmtheiten seien, fand sie sie aufregend.

Der Gouverneur sagte: »Sie müssen einmal zu uns kommen und unsere Gefängnisse besichtigen, Dr. Vickers. Sie werden sehen, daß sie ganz modern sind. Dunkelzellen und Auspeitschen verboten. Von Gesetzes wegen! Wir haben einen wirklich modernen Strafvollzug.«

Zufällig wußte sie, daß in keinem Staat der Union mehr Gefangene angebunden und zum Auspeitschen an Zellentüren aufgespannt wurden als in dem des guten Gouverneurs, und daß nirgends schlaffere, verderblichere Untätigkeit unter den Sträflingen herrschte, aber – was antwortet man einem Gouverneur in einem solchen Fall?

Der Bankpräsident sagte ihr, und zwar sagte er es heiter, denn er war nicht nur ein so berühmter Amateurkenner des Erziehungswesens, daß er bereits Magister der Künste, Doktor des Bürgerrechts, Doktor der Literatur und vierfacher Doktor juris war, sondern auch ein berühmter Tischredner – er sagte: »Ja, Dr. Vickers, ich muß Ihnen was sagen, worauf bestimmt noch niemals jemand Ihre Aufmerksamkeit gelenkt hat. Ich hab eine ganze Menge Respekt vor dem Mitgefühl, das Sie den Unglücklichen entgegenbringen, aber ich für meine Person finde, es ist in falsche Bahnen geleitet. Wie ich die Sache sehe, sollten die Gefängnisse einfach so unangenehm wie möglich gemacht werden, damit sie eine abschreckende Wirkung haben und damit die Leute nicht reingehen wollen!«

Der Botaniker und Forscher drückte ihr die Hand und blinzelte ihr zu. Sie war begeistert von ihm.

Es war ein hübscher Paradezug.

Der Präsident, sechzehn Mitglieder des Lehrkörpers, zwei Mitglieder des Kuratoriums und die vier Ehrenkandidaten, alle in ihren akademischen Roben mit schwarzen, Scharlach- und purpurroten Talarfalten, angeführt von einem hageren, weißbeschnurrbarteten Mann, der einen silbernen Stab trug, marschierten aus dem Hintergrund des Saales ab, machten durch eine Unzahl von Studenten und Photographen hindurch einen Rundgang nach vorn und dann hinauf zum Podium, und Ann, die sich Mühe gab, majestätisch hinter einem Paar schwerer, aber mit Hingebung geputzter schwarzer Schuhe einherzuschreiten, sagte sich unterdessen: »Mir sollte das imponieren – das ist eine schöne Sache – ganz bestimmt – ein großer Augenblick. Teufel noch mal, ob Mrs. Keast wegen der Butter fürs Gefängnis was unternimmt?«

Sie bekam mehr Applaus als die anderen drei, als sie zum Präsidenten am Lesepult hinüberstolperte, um mit wässrigen Knien zu warten und ihr Diplom entgegenzunehmen. Und die Sache irritierte sie. »Pergamentrollen kriegen! Applaus! Was mach ich denn hier? Wenn ich was taugte, würd ich in einer Zelle mit Jessie Van Tuyl sitzen.« Unterdessen bellte der Präsident: »… schwer zu wissen, wofür Ann Vickers mehr Ehre gebührt, für ihre Gelehrsamkeit auf dem schwierigen und komplizierten Gebiet der Soziologie und Psychiatrie, die zusammen unsere Strafrechtslehre von heute bilden, oder für die Herzensgröße, die es ihr ermöglicht hat, die Kümmernisse und Leiden der Irregeführten auf sich zu nehmen …«

Und dann war sie Dr. Vickers, mit einem Diplom unterm Arm; später sprach sie, nun ohne die Robe und eine frische Rosenknospe im Revers ihrer Kostümjacke, bei einem großen Frühstück im Klub des Lehrkörpers mit wirklich kolossalem Applaus, so oft sie eine Pause machte – ganz gleichgültig, was sie vor der Pause gesagt hatte; bald saß sie, überaus müde und, so sehr sie auch um Zynismus gegenüber Ehrentiteln rang, überaus stolz auf sich, wieder im Zug; und kurz vor sechs Uhr eilte sie in das Stuyvesant Frauenarbeitshaus, dessen Leiterin sie war. Augenblicklich waren alle purpurnen Ehren und akademischen Grade vergessen und aufgegangen in Einzelheiten: Butter für den Eßsaal des Gefängnisses, die unglückselige Führung der Gefangenen Nr. 3712, die beim nächtlichen Alkoholdestillieren in der Küche erwischt worden war; und die schwächliche Pädagogik der Schneiderlehrerin.

 

Das Frauenarbeitshaus im Bezirk Stuyvesant in Groß-New York war ein völlig modernes Gefängnis, mußte sich aber den Verhältnissen einer übervölkerten Stadt anpassen. Es fehlte an Platz für Gärten, aber es war ein Innenhof da mit einem Springbrunnen, einem nicht übermäßig großen Blumenbeet, Handballplätzen und Stangen für Basketball; und auf dem Dach, neun Stockwerke hoch, gab es Platz genug, daß alle zweihundert Gefangenen gleichzeitig in der Sonne spazierengehen konnten – da oben sah es gar nicht nach Gefängnis aus, nur ein hohes Drahtgitter war notwendig, weil hier und da Selbstmordgedanken auftauchten.

Der Versammlungssaal hatte nichts von der feuchten, grellen Kapellen-Steinernheit des entsprechenden Raumes in Copperhead Gap. Theatersitzplätze waren da, diskrete Dekorationen in Rot und Mattgold, eine Bühne mit Vorhang und Kulissen.

Zellen gab es hier nicht. Jede Gefangene hatte, zumindest damals, als das Gefängnis eröffnet wurde und nicht überfüllt war, ein Zimmer für sich mit Drahtglasfenstern, aber ohne Gitterstangen. Die Zimmer waren drei mal zweieinhalb Meter groß – nicht geräumig, aber, gemessen an anderen Gefängnissen, geradezu luxuriös; in jedem ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch, ein Kleiderschrank, Bücherregale, Bilder, soweit die Gefangenen sie sich mitbrachten, fließendes Wasser und, auf dem gegossenen Linoleumboden, ein Teppich. Jedes Wohn-Stockwerk hatte ein Aufenthaltszimmer mit Büchern und Magazinen, das nach dem Abendbrot bis zur Schlafengehzeit für alle Insassen, die nicht unter Strafe standen, geöffnet war, und auf jedem Stockwerk gab es Brauseanlagen und Toiletten … Sie waren sauber … Für die Installateure war Ann ein heiliger Schrecken.

Überall auf dem Boden ein Teppich. Das konnte niemand recht glauben!

Es war etwas ganz Außerordentliches, Diskussionsstoff für Strafrechtstheoretikerkongresse, daß die Frauen in diesem ihrem Heim, dem einzigen, das für sie existierte, einen Teppich zu $ 1,98 auf dem Boden haben sollten!

Das ganze Haus war aus Stahl, Zement, Backstein und Glas gebaut. Es konnte makellos sauber gehalten werden, und unter Ann geschah das auch. Was sonst Ann auch Mrs. Keast, der Stellvertretenden Leiterin, überlassen mochte, darüber wachte sie selbst; sie inspizierte jeden Winkel dreimal wöchentlich mit dem Arzt, und zeigte sich auch nur ein einziger Kakerlake, so wurde das ganze Personal unter den kriegerischen Klängen von Stahlbesen und Flitspritzen mobilisiert.

Die Insassen trugen die ganze Woche hindurch blaue Indianhead-Uniformen. Uniformen waren es nur insofern, als sie alle gleich waren. An den Sonntagen – sie waren nicht wie in anständigen Gefängnissen in ihren Zellen von Sonnabend mittag bis Montag früh eingeschlossen, sondern durften in die Kapelle gehen, in den Aufenthaltszimmern lesen oder auf dem Dach herumbummeln, ganz, wie sie Lust hatten – konnten sie ihre eigenen Kleider tragen.

Ein Schweigegebot wurde zu keiner Zeit durchgeführt.

Es gab im Arbeitshaus eine kleine, sehr moderne Strickerei, die Sweater, Halstücher und Mützen aus bunter Wolle herstellte. Sie zahlte dem Staat einen Teil der Gefängniskosten zurück, und die Arbeiterinnen bekamen dreißig bis siebzig Cent im Tag – keine gewaltige Summe, aber immerhin war es ein Vielfaches von dem, was in den anderen Gefängnissen der Welt für Arbeit gezahlt wurde. Die Seele des Gefängnisses aber war das, was Ann sentimental das »Bergungskorps« nannte.

Es gab Berufsschulkurse, so gut, wie sie es eben schaffen konnte: Kurse für Kochen, Haushalten, Stenographie, Nähen, Schneidern, Putzmachen, Pelzreparieren, und mit diesem Mittel wurde ein nahezu befriedigender Prozentsatz der kleineren Verbrecherinnen zu selbständigen Lohnverdienerinnen gemacht. Bei der Beschaffung von kostenlosen Lehrkräften für diese Kurse war Ann so skrupellos wie die meisten Reformatoren. Die Anstalt hatte die vollständigste Überwachungsabteilung für unter Bewährungsfrist Stehende, welche (nicht ohne eine gewisse Ermunterung von seiten Anns) der Ansicht war, sie existiere lediglich, um entlassenen Sträflingen zu helfen, und nicht um als Korporation von Katzen Mäuse zu jagen. Und das Allerwichtigste im Bergungskorps war der Psychiater. Es war ein guter Psychiater – so meinte wenigstens Ann. Seine Aufgabe war es, nicht das begangene Verbrechen zu studieren, sondern das Individuum, das es begangen hatte, und die Ursachen zu entdecken. Eine Frau, die einen Erpresser ermordet hatte, konnte ihn, so behauptete wenigstens Ann hartnäckig, nicht übermäßig entsetzen, beunruhigt konnte er aber werden durch eine Angestellte, die Marken gestohlen hatte.

Außer dem Psychiater war ein ständiger praktischer Arzt da. Buchmäßig bezogen die beiden Gehälter von je achtzehnhundert Dollar im Jahr. In Wirklichkeit bekam jeder siebentausend. Der überschießende Betrag kam von Lindsay Atwell, Ardence Benescoten, der Carnegie-Stiftung und der Dr. Ann Vickers, die sich ihr Gepäck selbst trug. Es war fraglich, ob das nicht doch gewissermaßen Korruption und unlautere Beeinflussung wäre. Ganz entschieden hatte Ann Einfluß genug geltend gemacht, als, vor drei Jahren, das Stuyvesant Arbeitshaus fertig gebaut und sie zur Stellvertretenden Leiterin gemacht wurde. Sie hatte Lindsay zugesetzt, er solle seine Verbindungen mit den Behörden des Staates ausnutzen, um dafür zu sorgen, daß keine Gitterstangen an die Fenster der Gefangenenzimmer kämen – die Anzahl der Frauen, die den Willen aufbrächten, mit einem Sprung aus einem sechs Stockwerk hohen Fenster zu flüchten, wäre verschwindend klein – daß die Basketballgeräte bewilligt, der Bau völlig ohne hölzerne Konstruktionsteile durchgeführt, und die beiden Ärzte eingestellt würden.

 

Die größten Sorgen bereiteten ihr die Witzbolde. Die Witzbolde der Zeitungsspalten und Zeichnungen. Die Witzbolde der Magazine. Die Witzbolde der Dinnertische. Fiel einem Zeichner einmal nichts ein, so konnte er jedesmal seines Erfolges sicher sein, wenn er das Arbeitshaus als komische Universität, als komisches Speakeasy, als Harem brachte. Es tat weh, daß diese Witzbolde sich ihr Brot verdienten, indem sie Späße machten über unglückliche Frauen und über andere Frauen, die sich Mühe gaben, sie aus ihrem Unglück zu erretten, in ihnen das Gefühl zu erwecken, sie seien wieder anständige und saubere und vertrauenswürdige Menschen.

 

Als die Bedeutende Frau nach der Zeremonie in der Erasmusuniversität an ihren Schreibtisch im Stuyvesant Arbeitshaus kam, stürzte ihr Personal zu ihr.

Die Telephonistin hatte eine Nachricht von Mr. Lindsay Atwell, die besagte, er habe eine Ansprache beim Bankett der Gesellschaft New Yorker Landheim-Blumenzüchter zu halten und werde nicht in der Lage sein, Dr. Vickers am Abend anzurufen, aber er lasse ihr seine allerbesten Glückwünsche bestellen zu ihrem – »Herrje, Miss Vickers, dann ist ein Wort gekommen, das ich nicht verstehen konnte. Es hat so ähnlich geklungen wie ›Doktorat‹. Gibt's son Wort? Sagen Sie, wissen Sie, herrje, mich freut's ja, daß die Sie zum Doc gemacht haben, Miss Vickers! Ist das nicht komisch? Mein kleiner Freund hat zu mir gesagt, er hat gesagt: ›Die hat doch nie Medizin studiert.‹ ›Sag mal, hör mal, du Quatschkopf‹, sag ich zu ihm, ›wenn Miss Vickers n Doc sein will, verstehst du‹, sag ich, ›dann wird der Ärzteausschuß vom Staat sich gebauchpinselt fühlen und nen Doc aus ihr machen, und – –‹ Herrje, ich hab mich ja ganz blödsinnig gefreut! Sagen Sie mal, Doktor, was macht man gegen Kopfweh?«

Die Küchen- und Eßsaalaufseherin, eine ruhige Frau, sagte: »Darf ich Ihnen gratulieren, Dr. Vickers? Wir freuen uns ja alle so! Jetzt wegen der Butter. Ich weiß, daß sie schlecht ist. Da ist die Politik dran schuld. Wirklich, Doktor, ich kann's nicht besser machen. Wenn wir sie nicht von der Aegismolkerei-Gesellschaft beziehen, sind wir im Verschiß beim Distriktsführer. Und ich hab auch keinen Privatprofit dran. Ich schwör's Ihnen! Das würde ich Ihnen nicht antun, Miss Vickers!«

»Ich weiß … ich weiß … ich werde tun, was ich kann.«

Der Psychiater kam hereinspaziert, um zu sagen: »Ann, ich hab mich noch nie in meinem Leben so gefreut! Soll ich ›Doktor‹ zu Ihnen sagen? War's sehr schlimm?«

»Na, wenn Sie die Wahrheit hören wollen, Sam, ich war stolz wie ein Schneekönig!«

Dann rief eine kleinere New Yorker Zeitung an und bat um ein Interview. Und der Sevigné-Klub kam mit einem Ferngespräch aus Lima in Ohio, um sie um einen Vortrag zu bitten – »ein sehr großes Honorar können wir Ihnen leider nicht zahlen, Doktor, aber wir würden selbstverständlich für Ihre Reisekosten aufkommen und Sie hier bei uns aufnehmen.« Und Ihr altes Wohlfahrtshaus in Rochester rief an, um sie zu einer Wohlfahrtshaus-Festwoche einzuladen. Und der Hauptpförtner des Arbeitshauses stand, die Mütze in der Hand, an ihrem Schreibtisch; er murmelte: »Doc, ich muß n paar Mülleimer mehr haben, sofort – einen hab ich geklaut, aber mehr konnt ich nicht auftreiben.« Und Telegramme waren da, wie gelber Schnee. Zwanzig Telegramme lagen noch vor der Bedeutenden Frau, als Mrs. Keast, die Stellvertretende Leiterin, hereinkam.

Ann hatte einmal gesagt, Mrs. Keast wäre »eine Mrs. Kaggs mit New Hampshire-Hemmungen«. Mrs. Keast hatte mit Ann um die Stellung als Leiterin des Arbeitshauses rivalisiert. Ihr Ideal war Reinheit. Sie war verhältnismäßig ehrlich und unverhältnismäßig schauderhaft. Sie hatte, vielleicht als Resultat ihrer fünfundfünfzigjährigen völligen Enthaltsamkeit von Nikotin, Alkohol, Lachen, sexuellen Freuden und Romanlektüre, dunkle, gedunsene Ringe unter den Augen und zittrige Finger … Sie haßte Ann noch etwas mehr als die ganze übrige Welt.

»Ah, guten Abend, Miss Vickers. Ich weiß nicht, ob Ihnen an meinen bescheidenen Glückwünschen etwas liegt, aber ich erlaube mir auf jeden Fall, sie auszusprechen. Wahr scheinlich sollte ich Ihnen jetzt ›Doktor‹ sagen!« Sie wieherte nahezu genau so wie ein beleidigtes Pferd.

»Na, das wird wohl ziemlich egal sein.«

»Also, ich bin überzeugt, Dr. Vickers, es ist mir scheußlich, daß ich Sie an Ihrem Ehrentag stören muß, ich bin überzeugt, es war wirklich ein Ehrentag – für Sie! Es ist mir fürchterlich, daß ich Sie mit den praktischen Problemen belästigen muß, die heute entstanden sind – während Sie weg waren!«

»Ach, das ist aber wirklich schlimm. Ja, so ist das Leben. Was für Probleme denn?«

Mrs. Keast schnaufte.

»Also, erstens einmal die Frau, die in der Nacht beim heimlichen Schnapsbrennen erwischt wurde, als sie Dienst in der Küche und im Eßsaal hatte.«

»Ja. Das gefällt mir gar nicht. Ich werde nachher mit ihr reden. Aber was gibt's noch?«

»Ja, heute nachmittag – während Sie weg waren! – ist eine Frau eingeliefert worden, Erpressung, und die ist völlig unzugänglich. Regelrecht aufsässig. Hat mich beschimpft! Ich habe sie in den Kasten gesteckt.«

Es gab nur zwei Arten der Bestrafung im Arbeitshaus: Entziehung des Aufenthaltszimmer-Privilegs, und Einzelhaft in Räumen, die ebenso sauber und ebenso hell waren wie die anderen, aber isoliert und abgetrennt; und auch diese beiden Strafen verhängte Ann so selten wie möglich. Mrs. Keast aber und die anderen altgedienten Aufseherinnen bewahrten sich würzige Erinnerungen an die vergangenen Tage eines approbierten Sadismus', indem sie diese Einzelzellen »Kasten« nannten.

»Gut, gut, Mrs. Keast. Ich werde mit ihr sprechen, bevor ich nach Haus gehe.«

Mrs. Keast schnaufte sich aus dem Zimmer.

Die Bedeutende Frau klingelte nach ihrer Sekretärin Miss Feldermaus, die kichernd zu ihr sagte: »Je, ist das nicht blendend, Doktor«, sprach mit einigen Unterbeamtinnen, las noch einige Glückwunschtelegramme, ging ganz vergnügt allein den Korridor zum »Kasten« entlang, schloß die Zelle auf und hörte die Aufsässige drin sagen: »Na, Annie, verflucht noch einmal, wie geht's Ihnen? Hören Sie noch manchmal was von Ihrem Süßen, dem Gefängnisarzt in Copperhead? Gott, war das ein himmlisches Bild von euch beiden!«

Die Dame in der Zelle war Miss Kitty Cognac.

Ann lachte.

Kitty sah nicht so elegant aus wie vor drei Jahren, und auch nicht ganz so bösartig.

»Nanu, Kitty, Sie! Wieder drin?«

»Verflucht, nein! Ich lauf Schlittschuh über den Atlantik!«

»Pech. Ach, Augenblick nur.«

Ann ging rasch aus der Zelle und ließ die Tür offen. Kitty flitzte hinter ihr her.

»Bißchen durchbrennen, Kit? Von mir aus!«

Die Frau stand da und glotzte sie an.

Von einem Apparat an der Wand rief Ann den Gefängnispsychiater an.

»Dr. Alstein? Hier Miss Vickers. Würden Sie gleich zu D 2 kommen?« Sie sah sich um. Kitty hatte die Hände ineinander gekrampft, ihre Augen schossen umher wie Eidechsen. Ann telefonierte noch einmal. »Mrs. Keast? Miss Vickers. Lassen Sie bitte ein Zimmer für Miss Cognac herrichten. Ich spreche hier von den Einzelzellen aus. Wie? Ja, das hab ich gesagt, Keast, verstanden

Während sie aber sprach, mußte Ann denken: »Dr. Sorella hatte recht. Es kriegt mich schon, es fängt an, mich zu einer Tyrannin zu machen, dieses Gefängnisleben. Kein menschliches Wesen ist gut genug, um Kerkermeister zu sein!«

Dr. Alstein kam den Korridor entlang gerast – ein kleiner massiver Mann mit freundlichen Neurotikeraugen. Dann sprach Kitty:

»Tag, Doc! Sind Sie nicht der Junge, der mich letzte Woche im Speakeasy haben wollte?«

»Der bin ich nicht!« Der Arzt redete in ganz unberufsmäßiger Wut.

»Ach, Sie sind's nicht? Na, dann war's irgend n anderer Judenjunge, der genau so aussieht wie Sie. Also, Annie, Sie und der Doc, ihr glaubt also, daß ihr mich windelweich kriegen könnt, bis ich so ne Heuchlerin bin wie ihr beide! Sie! Miss Vickers! Dr. Vickers! Sie Mistvieh!«

Dr. Alstein legte los: »Doktor, soll ich – –«

»Nein!« rief Ann.

»Gut. Aber sie geht zurück in Einzel.«

»Nein. Sie geht nicht zurück. Das würde ihr zu sehr schmeicheln. Doktor, Ihr Fall liegt folgendermaßen. Meine Freundin Kitty ist vor allem egomanisch. Ich kenne sie von Copperhead. Aber sie ist ziemlich tüchtig, und ich werde dafür sorgen, daß sie, wenn sie einmal aus unserem Sanatorium abgeht, in einen eleganten Kleider- oder Hutladen gesetzt wird. Sie wird ein Schlager sein. Unterdessen wird es aber nicht ganz leicht sein, sie davon zu überzeugen, daß wir ihre Freunde sind. Und wir müssen sie vom Schnee, von ihrem Koks, entwöhnen. Schlimm, Kit? Es ist mir scheußlich, daß ich's so machen muß, aber – –«

Kitty Cognac heulte. »O verflucht, verflucht! Kann man Sie denn nicht einmal beleidigen?«

Während Ann im Fahrstuhl hinunterfuhr, sagte sie zu sich: »Annie, ich hab dich noch nie so scheußlich gesehen wie in der süßen und vergebungsvollen und überlegenen Pose gegenüber Kitty Cognac. Arme Kit! Der Alstein war viel menschlicher – der hat die Geduld verloren. Miss Vickers! Dr. Vickers! Die Frauenführerin! Du armseliges Talmi-Literatenbalg! Dir einen Titel geben! Wenn die bloß wüßten!«

Und so kam die Bedeutende Frau nach Hause, mit der Untergrund – nicht viele Bedeutende Frauen können sich Taxen leisten – und bei sich daheim setzte sie sich ans Telefon; sie dachte: »Ich wollte, ich hätt eine Verabredung für heut abend. Ich wollte, irgendein netter Mensch würde mich anrufen und zum Dinner und ins Kino einladen, so wie man's mit Tessie Katz oder Birdie Wallop täte.«

Zum Essen machte sie sich, wie alle Frauen, wenn sie allein leben, eine Tasse Tee und eine Schnitte Toast, und während sie dies, vor dem Abstellbrett am Ausguß in ihrer Kochnische stehend, verzehrte, grübelte sie:

»Komisch, wie ich das Telefon hasse, wenn es den ganzen lieben langen Tag in meinem Büro klingelt. Aber jetzt – – Ich wollte, Lindsay würde sein verdammtes Blumenzüchteressen schießen lassen und kommen. Blumenzüchter! Ich wollte, ich hätt einen Mann, der abends nach Haus kommt – nein, nein, nicht jeden Abend, aber manchmal, als Überraschung. Ich wollte, ich hätte Pride. Meine Tochter! Ich wäre stolz auf sie. Leider Gottes würde ich sie auf irgendeine schrecklich konservative Schule schicken und so stolz auf ihre widerlichen eleganten Freundinnen sein, wie jede andere Mutter aus Waubanakee. Und ich hab dich umgebracht. Ich hab dich ermordet, Pride, und so bin ich die Dr. Vickers, Leiterin eines Gefängnisses, geworden! Mit einer großen Summe habe ich mir diese Freiheit erkauft. Aber Paulus hat gesagt: ›Ich aber bin ein Freigeborener.‹ Das war er nicht! Niemand ist es!«

Ann Vickers braute sich noch eine Tasse Tee. Er schmeckte bitter.


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