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Zehn Jahre hindurch nach ihrem 1912 erfolgten Abgang vom College lebte Ann in einem wilden Durcheinander von Stellungen. Ein Jahr lang bildete sie sich am Presbyterianischen Krankenhaus in New York als Pflegerin aus, um eine Grundlage für die Fürsorgearbeit zu haben, die sie an dem unvermeidlichen Tag, da die Frauen das Wahlrecht bekämen, zur Politik führen sollte. Ihre Freundinnen sagten ihr, sie müßte Kurse mitmachen oder in eine Schule für Wohlfahrtspflege gehen, über die Armen und Elenden Bücher lesen und Vorträge hören; sie zog es jedoch vor, über die leidenden Körper der Menschen, mit denen sie später zu tun haben mußte, mit Augen und Händen und Nase, vor allem mit der Nase, etwas zu lernen.

Als der Feldzug für das Frauenwahlrecht im besten Zuge war, wurde sie aktive Mitarbeiterin in der New Yorker Zentrale, von der sie in eine Stadt in Ohio geschickt wurde – die für uns Clateburn heißen möge. Sie war die tüchtigste unter den jungen Frauen dieser Piratenmannschaft, und Piraten waren sie wirklich. Viele Jahre vor der Schöpfung der aggressiven National Woman's Party, die munter revoltierte und den Senatoren das Leben in ihren geheiligten Ämtern schwer machte, gab es in etlichen amerikanischen Städten Gruppen junger Satansbraten: sie setzten den Kongreßabgeordneten zu, die seit Jahren vergnügte Kompromißler waren und voll Behagen verkündeten, die Frauen seien die Retter und Lebensspender des Menschengeschlechtes, die Erhalterinnen von Bildung und guter Lebensart, die Inspiratorinnen alles dessen, was edel am Manne sei, aber der zarte Staub ihrer Schmetterlingsflügel (dem Waschzuber, Windeln und Hühnerwartung allerdings nichts anhaben konnten) würde bei dem finster traurigen Geschäft des Gehens zur Wahlurne abgestreift werden; sicherlich müßten die Frauen irgendwann einmal das Wahlrecht bekommen, aber nicht gleich jetzt. Dieses »Irgendwann« hatte wohl genau dasselbe Datum wie das »Irgendwann«, da England das altersgraue Indien und Amerika die Philippinen für fähig erachten wird, sich selbst zu regieren, da Arbeitgeber vor Freude darüber, nichtorganisierten Arbeitnehmern ebenso hohe Löhne zu zahlen wie Gewerkschaftsmitgliedern, Luftsprünge machen, da Ehepaare ausnahmslos zu streiten aufhören, Prostitution und Alkoholsucht verschwinden werden, da Collegeprofessoren vom Leben ebenso viel wissen werden wie jeder durchschnittliche Lastwagenchauffeur, da Landwirte die Grundbegriffe des Ackerbaus kennen, Atheisten alle Frommen zu glückseligem Materialismus bekehren, da Hunde stubenrein auf die Welt kommen und Katzen zärtlich mit Mäusen spielen werden.

Die Zentrale der Suffragetten in Clateburn war in einem Wohngebäude untergebracht, das aus dem Jahre 1880 stammte und Old Fanning Mansion hieß – ein großer scheußlicher Kasten, dessen braune Tünche von weißen Linien durchzogen war: damit sollte ein Quaderbau weniger imitiert als symbolisch angedeutet sein. Der braune Anstrich der jonischen Holzsäulen, die den unschönen Portikus trugen, war mit Sand bespritzt; das Ganze sah aus wie braunes Sandpapier und war überaus unangenehm für die Fingerspitzen der Depeschenboten, die unten mit Telegrammen warteten – Suffragetten schicken einander in müßigen Augenblicken stets aufgeregte Drahtnachrichten. Das Dach war flach und hatte einen Sims aus gewalztem Zinkblech.

Das Fanning Mansion erinnerte an ein altes Krankenhaus, nur sah es bedeutend unfreundlicher aus.

Die hohen, widerhallenden, übergroßen Räume im Innern des Hauses waren angefüllt mit Schreibpulten und Tischen, auf denen hohe Stapel trübseliger Frauenrechtlerpamphlete und zu adressierender Briefumschläge lagen. Das dritte Stockwerk enthielt mansardenartige Schlafzimmer, die früher den Dienstboten des Hauses gehört hatten und jetzt von vier der aktiven Suffragetten, darunter Ann, bewohnt wurden.

Die Kaiserin und höchste vollziehende Beamtin der Clateburn-Zentrale war, entweder wegen der großen Beiträge, mit denen sie sich Wichtigkeit erkauft hatte, oder wegen ihrer wuchtigen Energie, Mrs. Ethelinda St. Vincent, eine große, entschlossene Dame mit roten Hüten und einem Busen, der wie ein Sack Weizen aussah. Eleanor Crevecoeur von der Zentrale sagte, Mrs. St. Vincent sei eine Miss Ethel Perterson, Tochter einer Installationsfirma gewesen, bis sie Mr. St. Vincent heiratete, der, obwohl er Bindfaden fabrizierte, ein Aristokrat war – das hieß, er hatte ein College im Osten besucht, seine Familie war seit zweieinhalb Generationen in Clateburn ansässig, und die Bindfadenfabrik war nicht von ihm selbst, sondern bereits von seinem Vater gegründet worden.

Mrs. St. Vincent hatte die Gewohnheit, nach dem Theater einen Sprung in die Zentrale zu machen – sie sagte »nach dem Theater«, aber die boshafte Eleanor meinte, es bedeute »nach dem Kino« – und wenn sie die jungen Arbeitsdamen untätig und miteinander plaudernd antraf, um elf Uhr nachts, rief sie kreischend: »Meine Damen, haben Sie den Eindruck, daß es sich beim Kampf um die Frauenrechte einfach um eine Tätigkeit handelt, wie bei der Arbeit in einem Büro, und daß Sie immer nach der Uhr sehen müssen?«

Aber es wurde nie etwas gegen sie unternommen, denn die Suffragetten hatten Lukas VI, 37 gelesen: »Vergebet, und so wird euch vergeben.«

Mrs. St. Vincent hatte in ihrem georgianischen Haus in der St. Botolph Avenue die hervorragenderen Rednerinnen der Frauenrechtbewegung empfangen, darunter eine Engländerin mit einem echten Titel, die nach Clateburn verschickt worden war, und auf Grund dieser intellektuellen Atmosphäre war sie in den Phoenix Musical Club von Clateburn aufgenommen worden.

Der wirkliche Chef der Zentrale aber war die bezahlte Sekretärin, Miss Mamie Bogardus, für die aktiven Suffragetten den größten Teil des übrigen Clateburn »Die Kriegsaxt«, für die Presse Ohios »Die Carrie Nation« der Frauenbewegung.

Miss Bogardus wirkte auf Auge und Ohr wie die Witzblattdarstellung eines Streitrosses der Suffragettenbewegung: eine hochgewachsene, hagere alte Jungfer mit wild blickenden Augen und lauter, schriller, geborstener Stimme. (Was ist aus ihnen geworden, aus den knochigen Amazonen, den »kreischenden Schwestern« der Vorkriegszeit?) Sie war von unverschämter Aggressivität, beziehungsweise vollständiger Furchtlosigkeit, je nachdem, wie man es auslegen will. Wenn sie der Meinung war, daß die Stadtväter Korruption trieben, ließ sie sich durch keine gebührende Scheu vor der magistralen Würde zurückhalten; sie suchte sie bei ihren Sitzungen auf und stellte sie, sehr hörbar, auf Grund von Zahlenmaterial zur Rede. Wenn sie sah, daß ein Mann ein Kind, ein Pferd oder eine Geige mißhandelte, ging sie an ihn heran und sagte ihm ihre Meinung. Sie war mit ihren fünfzig Jahren wahrscheinlich Jungfrau; sie rauchte nicht und trank nicht; und sie erklärte oft und in aller Öffentlichkeit, daß alle Männer (von sieben aufwärts) tolpatschig wie Hunde, schmutzig wie Affen, tyrannisch wie Grizzlybären und dumm wie Meerschweinchen seien. Ihre Kleider waren die absonderlichsten in ganz Ohio. Zu einem Männerkostüm und Männerschuhen mit flachen Absätzen trug sie kanariengelbe Blusen mit knallroten Knöpfen – soweit die Knöpfe nicht fehlten – Turbane aus chinesischem Goldstoff, die stets verfitzt und verrutscht waren, und mindestens zehn, zwölf Halsketten aus billigen Glasperlen oder Holzscheiben. Ihre wenigen Nachmittags- und Abendkleider waren aus Crêpe de Chine, grellrot oder zart fliederfarben, immer unordentlich, die Röcke schoben sich vorn über den Schuhen hoch, schleiften hinten nach und hingen ihr schief um die Hüften. Alle Leute fragten sich, wo sie solche Kleider auftreiben könnte, denn es war unmöglich, daß sie von einem Schneider stammten, der bei Verstand war, und die Kriegsaxt selbst war plump wie ein Erdarbeiter, wenn sie eine Nähnadel zwischen ihre großen, leberfleckigen Finger nahm.

Sie setzte den jungen Suffragetten ordentlich zu. Sie schimpfte ärger mit ihnen herum als die üppige Mrs. Ethelinda St. Vincent und war öfter in der Zentrale, um zu schimpfen. Sie holte sie um sieben Uhr früh aus dem Bett heraus und tobte, wenn sie um zwölf Uhr nachts ins Bett taumelten. Sie schnitt Gesichter über die wenigen jungen Männer, die zu Besuch kamen, und fragte sie mit einer Stimme, die biß wie Salmiak, ob sie rauchten. Sie beklagte sich, wenn ihre Mädchen sich anständig anzogen, weil das hieß, daß Geld vergeudet wurde, das eigentlich der Sache gehörte, und noch mehr beklagte sie sich, wenn die Mädchen nicht ausgesprochen adrett waren, weil das »einen falschen Eindruck machen könnte«. Nach ihr konnte nahezu alles, was die Mädchen taten, und was sie nicht taten, »einen falschen Eindruck machen«.

Als Ann Vickers in Clateburn ankam, entsetzte diese stets kampfbereite Raserei sie so sehr, daß sie die Stellung fast aufgegeben hätte.

Und innerhalb von zwei Wochen war sie dahintergekommen, daß Miss Mamie Bogardus, die Kriegsaxt, die tapferste, ehrlichste, freundlichste und stillste Frau war, die es gab. Wenn sie aggressiv war, so lag das an ihrer Überzeugung, daß die meisten Männer und Frauen sich aus Feigheit oder Trägheit mißleiten lassen; wenn sie nachlässig war, so hatte das seine Ursache darin, daß sie ihr ganzes scharfes Denken an ihre Arbeit wandte. Sie hetzte ihre Leutnants zwar ab, aber sie war auch die erste, die sie verteidigte; diese Entdeckung machte Ann, als sie hörte, wie die Kriegsaxt einmal sogar die reiche Mrs. St. Vincent privatim anschnauzte: »Hören Sie gefälligst auf, meine Mädels zu piesacken; das Piesacken besorg ich schon selber, wenn's notwendig ist!«

Und wenn eine von ihnen wirklich krank war, dann war es die Schlachtbeil, die dafür sorgte, daß sie im Bett blieb, und ihr eine Tasse Brühe brachte – allerdings nicht sehr gut gewürzte Brühe.

Das Publikum, die Presse, selbst Sympathisierende und alle Männer, die an der Bar munter und voll feuchter Weisheit waren, sagten, Miss Bogardus sei Suffragette, weil sie nie einen Mann bekommen habe; sie brauche etwas, aber das sei nicht das Wahlrecht.

Ann glaubte zu wissen, daß das insofern der Wahrheit entsprach, als die Kriegsaxt niemals imstande gewesen war, einen Mann zu finden – und sich auch darüber kränkte – der Größe genug hatte, ihre Güte, ihre unerbittliche Ehrlichkeit und ihre Gefühle zu begreifen, die zu stürmisch waren, um in rosafarbener Niedlichkeit aufzugehen. Ann hatte bald die Gewißheit, daß Miss Bogardus, hätte sie geheiratet und zehn kräftige Söhne zur Welt gebracht, ebensosehr Kämpferin gewesen wäre und ebensosehr nach Rechtlichkeit gehungert und gedürstet hätte.

Ann dachte an die amerikanische Geschichte (ein Gegenstand, der in der Presse Clateburns nicht beliebt war, wenn es sich nicht gerade um Baseball-Statistiken, George Washington und die Entwicklung des Automobilstarters handelte) und sah in Miss Bogardus die Pioniergroßmutter, in einem Arm ein Kind und im anderen ein Gewehr für die Indianer.

 

Außer Miss Bogardus und Ann waren noch zwei bezahlte Agitatorinnen da, Eleanor Crevecoeur und Patricia Bramble.

Beide waren für Ann romantische und liebwerte Waffengefährtinnen. Wollte man Pat Bramble in einem Protokoll, und sei es noch so realistisch, schildern, so müßte man das Wort »lieblich« aus der Pension abgenutzter und emeritierter Worte herausholen. Lieblich. Aus einem victorianischen Roman. Vom Schlage Klein Nells, der Miss Nickleby und der Rose Harry Maylies; nur mit dem Unterschied, daß sie den Wortschatz eines Matrosen, den Zynismus eines eleganten Abbés, die Fröhlichkeit eines irischen Soldaten – zumindest im Verlauf von Suffragettenkrawallen und Kämpfen mit der Polizei – und die Ehrlichkeit von Mamie Bogardus hatte. Aber sie war klein und gertenbiegsam genug, um selbst die genießerischen Augen eines Dickens zufriedenzustellen; sie hatte goldenes Haar, ihre Wangen waren Blütenblätter, und wenn sie außer Dienst war, rauchte sie nur Zigaretten mit Rosenblattmundstücken, während Eleanor sich mit einem Pfeifchen großtat.

Eleanor Crevecoeur war das Rätsel des Fanning Mansion. Ann Vickers war nur dann kompliziert, wenn es zu einem Zusammenstoß zwischen dem Milieu und ihrem einfachen Begehren nach Offenheit, Tüchtigkeit, Freundlichkeit und sexueller Freiheit kam; Miss Bogardus war so leicht zu durchschauen wie jede Grenzerfrau; Pat Bramble hatte unter ihrer zarten Lieblichkeit eine gesunde Grundlage von Gewöhnlichkeit; Eleanor Crevecoeur aber war stets eine gespaltene Persönlichkeit, und zwar nicht bloß in zwei erkennbare, sondern in drei, vier oder zehn, zwölf Teile gespalten.

Sie war jetzt achtundzwanzig Jahre alt, während Ann im vierundzwanzigsten und Pat im neunzehnten Jahr stand. Sie war lang und schmal wie ein Rapier; schmale Beine, schmale, spitz zulaufende Füße, schmale, geäderte Hände an Armen, die so zart waren, daß es aussah, als könnte jeder Windstoß sie abbrechen, und ein braunes, scharfes Gesicht mit einer übergroßen Hakennase. Aber sie war durchaus nicht häßlich; dazu war zu viel Feuer und Wille in ihr; sie zog die Männer an, die mit ihr lachten, nachdem sie zuerst über sie gelächelt hatten.

Das Rätselhafteste an ihr war ihre Herkunft. Sie konnte Pat Brambles Lästern und ihre gesunde Gewöhnlichkeit nachahmen, aber das wirkte bei ihr nie ganz natürlich. In den Suffragettenkreisen Clateburns flüsterte man sich zu, Eleanor stamme aus einer französischen Adelsfamilie; es habe einen Marquis de Crevecoeur gegeben, und der habe ein wildes, wuschelköpfiges Mädchen geheiratet, das die Tochter einer indianischen Prinzessin (was immer eine indianische »Prinzessin« sein mag) und eines englischen Generals gewesen sei.

Weder Ann noch Pat erfuhren jemals die Wahrheit. Von Eleanors Kindheit wußten sie nur, daß sie aus Kanada kam und in eine Klosterschule gegangen war. Sie vermuteten den Ursprung der Legende von ihrer adligen Abstammung darin, daß in einer Stadt wie Clateburn, wo lauter Smiths und Browns und Robinsons, Müllers und Schwartz' und Hauptschnagels, Jones' und Lewis' und Thompsons, Cohens und Levys und Ginsbergs wohnten, der Name Crevecoeur aristokratisch klang. Ann schlug im Lexikon nach und teilte Pat mit wichtiger Miene mit, daß er eigentlich »Herzbrecher« heiße und garantiert romantisch sei. Aber Pat sah in einem größeren Lexikon nach und erklärte Ann ganz schamlos, crèvecoeur sei auch »eine französische Abart des Haushuhns mit schwerem Kamm und Bart, der die Form von zwei Hörnern hat – siehe Hühnervögel.«

Ein anderes Mädchen, das allerdings nicht im Fanning Mansion wohnte, war nahezu jeden Abend mit ihnen zusammen: Maggie O'Mara, Funktionärin der Kellnerinnen- und Geschirrwäscherinnengewerkschaft, vor kurzem auch selbst noch Kellnerin und Geschirrwäscherin. Sie hatte ein frisches, rotes Gesicht, strahlend helle Augen, und Arme wie ein Waschweib, sie war eine unermüdliche und erfolgreiche Straßenrednerin und, wie sie gern betonte, so vulgär, wie Pat und Eleanor zu sein vorgaben.

Die Gruppe dieser vier: Ann, Pat, Eleanor und Maggie O'Mara, wurde aus Gründen, die bald genannt werden, in der ganzen Suffragettenwelt Ohios als Kittchenstaffel bekannt.

 

In ihrem Privatleben – soweit davon überhaupt die Rede sein konnte, abgesehen von sechs, sieben Stunden Schlaf in kalten, einsamen Betten, vielleicht einem Theaterbesuch in der Woche, und einem mit gesunden, vorurteilslosen Gesprächen gewürzten Tanzabend einmal im Monat – in ihrem Privatleben fehlte nie das aufregende Thema Frau und Frauen; Frauenrechte und Frauenpflichten und die Überlegenheit der Frau über den Mann, sowohl was schöpferische Geistigkeit – was immer das bedeuten mochte – wie die physische Widerstandskraft gegen Ermüdung und Schmerzen betrifft.

Sie kochten und aßen in der alten Küche des Fanning Mansion, einer Höhle mit Steinfußboden, die auf einen mit Vogelmiere, Sonnenblumen und uralten Müll- und Konservenbüchsenhaufen geschmückten Hof ging. Sie sollten abwechselnd kochen, aber gewöhnlich bereitete Ann mit Hilfe Maggie O'Maras, die als Gast kam und dann als freiwillige Hausherrin funktionierte, das Essen, und stets war sie es, die entweder allein oder mit Maggie den Ausguß und die Linoleumläufer auf dem Steinboden säuberte und die Geschirrtücher wusch.

Ann pflegte dabei zu pfeifen. Sie arbeitete gern mit den Händen, wie vorher im Pflegerinnenkursus und noch früher als Kind, als sie für ihren nicht gerade ordentlichen Vater zu sorgen hatte. Als halbausgebildete Pflegerin verstand sie sich auch auf das Bettmachen, und so richtete sie Abend für Abend das aristokratische, aber unordentliche Lager Eleanor Crevecoeurs her, für deren Begriffe von Häuslichkeit es genügte, Laken und Decken zu schütteln, die oberste Decke zurechtzuzupfen, einmal daraufzuklopfen und das ein gutes Stück Arbeit zu nennen.

Nur in diesen Augenblicken der Hausarbeit war Ann ein Individuum im Fanning Mansion. Sonst war sie ein Soldat in einer überfüllten Kaserne, eine Konjunktion in einem ganz besonders langen und komplizierten Satz.

Die anderen, auch Maggie O'Mara nicht ausgenommen, schienen sich nichts daraus zu machen, daß sie nicht mehr waren als Einheiten der Kollektivmasse; sie schienen nicht einmal den Ehrgeiz zu haben, die wichtigste und höchste Einheit zu sein. Aber die Ann, die Reden hielt, wenn es ihr aufgetragen wurde, die Adressen schrieb, wenn sie den Befehl dazu bekam, die sich über die Männer lustig machte, wenn es richtig und angemessen klang, war noch immer die Ann Vickers aus Waubanakee, das freie Weib von Wald und Fluß, die einsame Banditin, die in ihrer Kindheit das Verbrechen hatte sozialisieren wollen, vorausgesetzt, daß sie Diktator blieb.

Die Kittchenstaffel kam vom Thema Frau nur ab, wenn sie um Mitternacht mit gekreuzten Beinen auf ihren Betten oder auf dem Fußboden saßen und, während die Kriegsaxt im Saal gegenüber schlief, in flüsternder Vertraulichkeit über den Mann sprachen.

Damals, in den Jahren 1914 und 1915, als der Weltkrieg schon ausgebrochen war, hatte zwar ein anonymes Genie bereits den Sexus erfunden, aber von allgemeiner Verbreitung und Großproduktion konnte keine Rede sein. Maggie und Eleanor mochten ganz offen Anspielungen auf gemeinsames Schlafen machen, Pat mochte mit den heiligen Worten Mißbrauch treiben, Ann mochte ganz frei von provinzieller Verschwiegenheit in solchen Dingen sein, aber keine von ihnen hatte das Gefühl, sie könnten sich über lesbische Liebe, Inzest oder ähnliche Themen unterhalten, die fünfzehn Jahre später der Stoff für Teegespräche waren. Aber davon, daß ihre Privatgefühle anders gewesen wären als die des Jahres 1930, ist nichts bekannt. Sie fanden Ausdruck in ängstlichen Fragen und unbehaglichen Bekenntniswünschen.

Pat, der Anziehungspunkt für alle jene seltenen männlichen Geschöpfe, die entweder weibisch genug oder wagemutig genug waren, in das Fanning Mansion aus Gründen der Geselligkeit einzudringen, Pat war in sexueller Hinsicht kalt wie jede andere Rosenknospe, mutmaßte Ann. Maggie O'Mara lachte bloß. »Ihr seid ja mit eurer ganzen feinen Erziehung kleine Kinder. Was ich von Liebe und Männern halte? Na, ich kann euch bloß sagen, eine Jungfrau bin ich nicht!«

»Also, ich bin es«, sagte Pat, »und meiner Ansicht nach hat man so bedeutend weniger Scherereien!«

Eleanor rief: »Ihr geht mir beide auf die Nerven! Sexus! Ihr habt ja beide nicht die geringste Ahnung davon. Für euch ist das genau so, wie wenn ihr Corned Beef mit Kohl herunterschluckt. Wenn ihr's wissen wollt, und wahrscheinlich wollt ihr's nicht wissen, ich bin nymphomanisch. Wenn ich mich – ich habe eben einen Willen wie aus Stahl; wenn ihr wollt, könnt ihr lachen, aber es ist wahr! – wenn ich mich gehen ließe, würd ich ununterbrochen zu Männern ins Bett kriechen. Wie ein tolles Weib. Ich bin übrigens auch keine Jungfrau, meine stolze Maggie! Ich hab es zweimal probiert, und ich mußte aufhören – damals war ich überhaupt nicht mehr da – mein ganzer Körper war wie ein Feuer, und in der Mitte sind Raketen losgegangen. Ich werd es nie wieder tun, wenn ich nicht einen Riesen kennenlerne, und Mädels wie wir, die sich bemühen, ihren Verstand zu befreien, lernen eben keine Riesen kennen. Aber wenn ich mit irgendeinem Mann zwischen acht und achtzig ins Kino geh, wo ein Heringfänger- oder Glasbläserfilm läuft, und sein Handrücken einmal meinen streift – also, wenn ich wieder hier bin, schnauz ich ein solches ›Gute Nacht‹, daß er meint, ich bin kalt wie eine eingefrorene Axt, und lauf herauf und geh die ganze Nacht auf und ab. Wir Suffragetten, wir Männerfeinde! Natürlich! Und ich geh jede Wette ein, daß die Kriegsaxt in ihrer Jugend genau so schlimm war wie ich. Ach, feine junge Damen empfinden nicht so leidenschaftlich wie Männer. Nein, keine Spur! Wir dürfen nicht experimentieren; wir müssen unsere frommen Hände falten und warten, bis irgendein Mäuserich kommt und uns mit seinen Schnurrhaaren umwedelt. Verflucht! Na, Ann, was hast du zu beichten? Bist du ordinär wie Mag oder unmenschlich wie Pat oder toll wie ich?«

»Ich – weiß – nicht! Wirklich, ich weiß nicht!« stammelte Ann.

Seit Glenn Hargis hatte sie das Verlangen, jeder Manie zu entrinnen, die ihren klaren und heiteren Blick trüben könnte. Wenn also Männer ins Fanning Mansion kamen, um kaltgewordenen Tee zu trinken und Konditoreikuchen zu essen, oder des Abends, um beim Adressenschreiben zu helfen und an den Beratungen über das Auftreiben von Geld teilzunehmen – würdige Männer, irgendwelche Geschäftsleute, die von ihren frauenrechtlerischen Gattinnen mitgenommen waren, liberale Geistliche, in der Regel ledig, sehr junge oder sehr alte Lehrer von der Clateburner Universität und schulterklopfende Politiker, die mit diesen in der Zukunft zu erwartenden Frauenstimmen spielten – bei solchen Gelegenheiten waren es Pat und Maggie und aushelfende Collegestudentinnen, die mit ihnen sprachen und gelegentlich zur Grammophonmusik in den freien Gängen zwischen Pulten und Tischen tanzten, während Ann und Eleanor verschwanden oder in Ecken herumsaßen.

»Einmal wird mich ein Mann, den ich küssen möchte wie Adolph, küssen wollen wie Glenn Hargis, und dann werd ich die ganze Statistik über die Unterbezahlung der Arbeiterinnen vergessen und ihn so gehörig wiederküssen, daß die ganze Welt in Rauch aufgeht. Oder bin ich ganz einfach ein Eiszapfen wie Pat?« quälte sich Ann ab.

 

Sie arbeiteten; sie arbeiteten wie Seeleute in einem Sturm, wie Studenten vor einem Schlußexamen. Es war ein Leben ewiger Mitternacht. Sie mußten lächeln, wenn verschlampte Hausfrauen sagten: »Wärt ihr Mädels verheiratet wie ich und müßtet ihr kochen und waschen und auf die Kinder achtgeben, müßtet ihr arbeiten wie ich, so würdet ihr auch nicht mehr Zeit haben als ich, über das Wahlrecht nachzudenken!«

Sie wurden ausgeschickt, um in Versammlungen zu sprechen, in Frauenklubs, in Kirchenklubs für Männer, im Verein Christlicher Temperenzlerinnen, bei den Töchtern der Amerikanischen Revolution und bei den immer wiederkehrenden Suffragetten-Massenversammlungen in kleinen Sälen, wo man sich unweigerlich erkältete, weil die Ventilation so schlecht war. Allein oder als Anführerinnen von Patrouillen aus freiwilligen Helferinnen, oft eleganten Flappers, die kichernd umherflitzten und alles andere als würdevolle Vertreterinnen der Sache waren, gingen sie um Geldmittel und politische Unterstützung werben; ihr Weg führte sie in schöne Wohnhäuser und armselige Mietskasernen, in chinesische Wäschereien, in Getreidespeicher und in die Büros millionenschwerer Börsenmakler, wo sich hin und wieder ein kinnloser kleiner Angestellter albern vor ihnen wand und krähte: »Los, küßt uns ab, dann braucht ihr kein Wahlrecht mehr!«

Und hin und wieder trafen sie auf einen ungebildeten Ehemann (sonderbares Wort), der zugab, er sei durchaus dafür, daß die Frauen das Wahlrecht bekämen, aber ganz und gar gegen das »Suffragettentum«, worunter er Tees im Fanning Mansion verstanden hatte, die seine Frau davon abhalten würden, für ihn zu arbeiten. Und einmal jagte eine Hausfrau (noch sonderbareres Wort!) Ann mit einem Besen hinaus, als sie darum bat, mit dem Mann sprechen zu dürfen. »Sie machen, daß Sie hier rauskommen! Sie und so ne wie Sie kenn ich! Sie werden mir meinen Alten nicht abspenstig machen, mit ihrem Schleichen und ihrer Naseweisheit und – und – Lauter Rumtreiberinnen, das seid ihr! Raus mit Ihnen!«

Unter den vier Mädchen und Miss Bogardus fiel gewöhnlich Ann die Aufgabe zu, das Propagandamaterial zu schreiben, das sie immer den Zeitungen schickten: Notizen über den außerordentlichen Erfolg der Versammlung im Odd-Fellows-Saal, über die Sympathien, die Senator Juggins ihrer Sache entgegenbringe, über das Eintreffen der berühmten Reverend Dr. Ira Weatherbee in Clateburn, die »einer Einladung stattgegeben« hatte (ihr war die Pistole auf die Brust gesetzt worden) und eine Ansprache für die Damen der Sycamore Avenue Christlichen Kirche hielt.

Eleanor Crevecoeur schrieb eine klarere und fesselndere Prosa als Ann, aber sie konnte, wahrscheinlich aus eben diesem Grunde, Propagandatexte nicht mit der Lebhaftigkeit und falschen Munterkeit schreiben, die nun einmal zu dieser Kunst gehören. Es mag sein, daß Ann die dafür notwendige Glätte von ihren Debatten hatte. Jedenfalls wurde sie eine tüchtige und populäre Propagandistin, und später war sie imstande, jede beliebige Sache durch Beiträge für Sonntagszeitungen zu fördern, die mit fromm-vorsichtig ausgewähltem statistischem Material gefüllt waren. Sie schrieb voll Leidenschaft über die Übel dieser Welt, konnte aber niemals einsehen, warum ein Epitheton kraftvoller sein solle als ein anderes; und viele Jahre später war sie traurig und ein wenig verletzt, als ihr in New York Freunde von der Zeitung zu verstehen gaben, sie sei eine liebe, entzückende Frau, aber als Journalistin einfach unerträglich.

 

Ann, Pat und Eleanor wurden einzeln von Clateburn ausgeschickt, um bei der Organisierung von Frauenrechtvereinigungen mitzuhelfen; sie kamen in kleine, argwöhnische Männerstädte, wo das Haus, nämlich Küche und Kinderzimmer, noch immer das einzige Bereich der Frau war. Empfangen wurden sie von versauerten Matronen, die krächzten: »Na! Ich bin eigentlich überrascht, daß die Zentrale uns nicht was Besseres geschickt hat als so ein junges Mädel wie Sie, wo wir doch so viel gearbeitet haben und überhaupt!« Mit der Unterstützung von drei bis vier solchen alten Kriegspferden – da man sie in ihrem Städtchen gewöhnlich als die Verrückten, die Ekel und Mamie Bogardus' kannte, war diese Unterstützung schlimmer als gar nichts – mieteten sie sich den Lieferwagen eines Kolonialwarengeschäftes oder ein klappriges Automobil und hielten Reden an Straßenecken, während die sich langsam versammelnde Zuhörerschaft johlte, pfiff und schnalzende Kußgeräusche produzierte; des Nachts schliefen sie in schwarzen, sargähnlichen Nußbaumbetten in den ungelüfteten »Extrazimmern« der Kassandren des Orts. Zum Frühstück hatten sie fetten Speck und Zichorie. Und wenn sie am Abend dann nach einer Fahrt im Lokalzug, oft in der beißenden Luft des Raucherwagens, entmutigt und völlig erschöpft wieder im Fanning Mansion waren, schrie die Kriegsaxt sie an: »Was sitzt ihr denn da herum? Wir sind mit dem Adressenschreiben noch gehörig zurück!«

Dann wieder Kuverts bis Mitternacht, während für den nächsten Morgen eine andere gottsverbotene Reise in die Umgegend in Aussicht stand. Wenn Ann damals Zeit gehabt hätte, Kipling zu lesen, hätte sie das Buch wahrscheinlich in Fetzen gerissen, weil darin die Ansicht vertreten war, nur der Mann (und zwar nur der britische Mann) könne Strafexpeditionen zu den Eingeborenenstämmen unternehmen und mit ruhiger Heiterkeit der wilden, furchtbaren Menge entgegentreten. Pat Bramble und sie unternahmen derartige Strafexpeditionen zweimal in der Woche und kamen weder in ein Kasino in Simla zurück, wo ein Whisky Soda auf sie wartete, noch hatten sie einen gutgefederten leichten Wagen zur Verfügung.

Briefumschläge!

Briefumschläge, die adressiert werden mußten!

Briefumschläge, in deren linker oberer Ecke sauber in wasserblauen Lettern »N. A. W. S. A., 232 McKinley Ave., Clateburn, Ohio« gedruckt war. Briefumschläge. Stapelweise. Auf Tischen, zusammen mit Adreßbüchern, Telefonbüchern, Verzeichnissen, hektographierten Bittschreiben um Beiträge, Aufforderungen: »Schreiben Sie an Ihren Abgeordneten und an Ihren Senator«, Aufforderungen: »Geben Sie bei den Vorwahlen Ihre Stimme nur Kandidaten, die begreifen, daß die Frauen Menschen sind«; Briefumschläge mit kleinen achtseitigen Traktätchen, die an Waubanakee erinnerten – nur war es hier das Wahlrecht und nicht das Blut des Lamms, welches die ganze Welt retten und vollkommen machen sollte – und Briefumschläge mit kleinen dicken Kartons, in die man, wenn man wollte, ein Fünfundzwanzigcent-Stück stecken konnte; dann brauchte man nur die rote Oblate zu befeuchten und das Ganze an die Suffragetten-Zentrale zurückzuschicken.

Ann glaubte – Ann und Pat und Eleanor und Maggie, sie alle glaubten es – daß das Wahlrecht aus zwei Gründen eine Notwendigkeit sei: damit die Frauen an der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten teilnehmen und damit sie von der Erniedrigung befreit werden könnten, in eine Reihe (siehe jede beliebige von den Hunderten der Reden Anns aus jener Zeit) mit Kindern, Kretins und Verbrechern gestellt zu werden. Aber der Briefumschläge wurde sie überdrüssig. Der Gedanke an Briefumschläge machte sie wahnsinnig. Noch Jahre nachher, als sie längst nichts mehr mit dem aktiven Suffragettentum zu tun hatte, marterte sie die Erinnerung an die Stapel gelber Kuverts mit dem blauen Aufdruck »N.A.W.S.A., 232 McKinley Ave., Clateburn, Ohio«, darunter das ovale Verbandsetikett und das Zeichen F 16. Briefumschläge, die sich in ihren Träumen zu Bergen häuften, bis sie umkippten und sie erdrückten. Glaube, Hoffnung und Briefumschläge – die drei Glaubensartikel; und der größte davon waren die Briefumschläge.


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