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In dem Jahr, das sie als zweite Direktorin am Institut für Organisierte Wohlfahrtspflege in New York verbrachte, hatte sie so viel mit entlassenen und Strafaussetzung genießenden weiblichen Sträflingen zu tun, daß sie an die vierzehn Tage denken mußte, in denen sie selbst im Bezirksgefängnis von Tafford gebessert und entsühnt worden war. Die Ex-Sträflinge, mit denen sie jetzt zusammenkam, waren nicht sehr gebessert; sie kamen aus den Gefängnissen, selbst aus den anständigsten, nicht als reuige Sünder heraus, sondern mit dem brennenden Wunsch, es der Gesellschaft heimzuzahlen. So brachte ihre Erfahrung sie dazu, sich mit dem zu beschäftigen, was man als »Strafrechtstheorie« kennt.

(Strafrechtstheorie! Die Wissenschaft von der Folter! Die Kunst, die Stalltür zu verschließen, wenn das Pferd gestohlen ist! Der rührende Glaube, daß man Neurotiker, die den gesellschaftlichen Zwang hassen, dazu bringen kann, ihn zu lieben, wenn man sie in stinkende Löcher sperrt, ihnen schlechtes Essen und langweilige Arbeit gibt und ihnen eben den Umgang aufnötigt, für den man sie erst eingesperrt hat. Die auf die Voraussetzung, Gott habe menschliche Wesen geschaffen in der Absicht, die Mehrzahl von ihnen zu verbrennen, gegründete Überzeugung, daß es für das Individuum eine Sünde sei, einen Mord zu begehen, für den Staat jedoch eine tugendhafte Handlung, Mörder zu morden. Die Theorie, daß Leute, die man nach ihrer Fähigkeit, widerspenstige Gefangene zusammenzuhauen, ausgesucht hat, läßt man sie nur weit weg von jeder öffentlichen Kontrolle im Dunklen wirken, eben diese Gefangenen durch Gebet und Liebe zur Tugend führen werden. Die wissenschaftliche Strafrechtstheorie!)

Ann ging für ein Jahr als Erziehungsdirektor an das Green-Valley-Frauenrettungshaus in Neuengland. Sie fand dort nicht viel, worüber die Gefangenen sich beklagen konnten, aber sehr viel, was sie langweilte, denn eine Dame, die während der letzten zehn Jahre ein unterhaltsames Leben mit Ladendiebstählen, Betrunkenheit, nachfolgender Verführung und Verhaftung geführt hat, wird den Vortrag auch des kompetentesten Professors für Wäschewaschen nicht interessant finden. Die Anstalt Green Valley, ein fünfzig Jahre alter Ziegelkasten am Rande einer neuenglischen Stadt, stammte aus einer Zeit, in der die Gefängnisautoritäten noch nicht der Ansicht waren, daß man mit Gesetzesbrechern – seien es nun Sechzehn- oder Sechsundsiebzigjährige, Kretins oder begabte Psychotiker, handle es sich um Kindermißhandlung oder Bruch der Sonntagsruhe – auch noch etwas anderes tun könne, als sie schuften zu lassen, sie in Angst und in sicherem Gewahrsam zu halten.

Hinter dem roten Ziegelbau des Verwaltungsgebäudes, mit seinem Mansardendach und der riesigen Fahnenstange, lag ein Zellenblock mit Holzfußböden, aus denen kein Scheuern die Läuse und Schwaben ganz vertreiben konnte und dessen Klosettanlagen aus Krügen, Töpfen und Eimern bestanden. Es herrschte Raummangel. Die einander folgenden Gesetzgebenden Körperschaften des Staates, diese mit Gottes Hilfe erwählten Stimmen des Volkes, weigerten sich (obwohl der staatliche Überwachungsausschuß es ihnen oft genug sagte) einzusehen, daß vielleicht auch die Bevölkerung der Gefängnisse zunehmen könnte, wenn die Bevölkerungszahl eines Staates sich in fünfzig Jahren verdoppelt. In stahlvergitterten Holzzellen, zwei Meter zehn breit, zwei Meter vierzig lang, zwei Meter zehn hoch, die vor fünfzig Jahren für einen Insassen bestimmt gewesen waren, lebten jetzt zwei Personen, in erstickender Enge zusammengepfercht, und viele schliefen auf Feldbetten in den Korridoren, während die Gesetzgebende Körperschaft Beratungen darüber abhielt, wie hoch die Geldstrafe für unbefugten Forellenfang sein sollte. Die dürftigen Anlagen der Anstalt waren so lange Zeit mit Kies belegt gewesen, daß kein noch so angestrengtes Graben der Gefangenen Blumen oder Gras hervorbrachte.

Und doch kämpften die leitenden Beamten von Green Valley gegen all dies, Direktorin, Assistentin, Arzt, Ökonom und neuerdings Ann Vickers; sie selbst lebten in kahlen Zimmern, waren jämmerlich bezahlt und wenig besser ernährt als die Gefangenen. Sie hatten die Kontraktarbeit abgeschafft; sie versuchten, im Gefängnis eine Berufsschule einzurichten. Ein paar weibliche Strafgefangene, die als vollgekokste, wildblickende Feinde der Gesellschaft hereingekommen waren, gingen tatsächlich mit dem Wunsch heraus, »anständig« zu bleiben … und hatten sie Glück, so durften sie dann vierzehn Stunden am Tag kochen und abwaschen und wurden wie tugendhafte Dienstmädchen behandelt, nicht wie Ausgeburten der Hölle.

Sie waren gute Frauen, die Beamten von Green Valley, und während solcher seltenen Ausschweifungen wie einer Tasse heißen Kakao um Mitternacht liebte Ann sie nicht weniger als Malvina Wormser und Mamie Bogardus.

Sie wollte bei der Gefängnisarbeit bleiben. Ja! Sie malte sich Gefängnisse aus, die Kombinationen von Krankenhaus, Technikum, psychoanalytischem Laboratorium und einem alten englischen Garten sein sollten. Sie würde eine Macht sein. Sie würde die Gesetzgebenden Körperschaften zur Einsicht bringen, daß die geistig Kranken mehr Pflege nötig haben als die körperlich Kranken.

Ein Jahr lang – währenddessen sie im wesentlichen von Glauben, Fleischextrakt und Privatstunden lebte – hörte sie Soziologie, insbesondere Kriminologie, an der Columbia Graduate School; außerdem gab sie an drei Abenden in der Woche Unterricht an einer Besserungsanstalt für Frauen. Sie hatte eine gemeinsame Wohnung mit Pat Bramble, die jetzt Grundstücksmakler war, immer noch jungfräulich und strahlend hübsch wie eine Heckenrose, aber keineswegs heckenröschenhaft, wenn es sich darum handelte, Kunden zur Abschlußzahlung zu veranlassen. Und Ann richtete es so ein, daß sie jede Woche einen herrlich faulen Sonnabendnachmittag mit Pat, Dr. Wormser oder Lindsay Atwell verbrachte.

Lindsay hatte ihr ein drahtloses Begrüßungstelegramm auf den Dampfer geschickt, als sie aus Europa zurückkam. Er besuchte sie oft, aber er war so harmlos wie die höflichen jungen Leute, die niemals ihr Versprechen einlösenden »vielversprechenden jungen Leute«, die sich in Pats Wohnung herumtrieben und beim Abwaschen halfen, um sich ein Abendbrot zu schnorren. Eine Zeitlang ärgerte sich Ann darüber, daß Lindsay es anscheinend nicht der Mühe wert fand, sich in sie zu verlieben. Aber sie sah, daß er abgespannt war. Er kämpfte immerzu – stets focht er irgend etwas durch – einen Millionen-Dollar-Krieg zwischen einer Eisenbahn und einem Kohlenbergwerk, einen Testamentsfall, in dem eine Gruppe verkommener Subjekte einer anderen Gruppe verkommener Subjekte das Geld wegzunehmen versuchte, das ein Geizhals aus Patentmedizinen herausgequetscht hatte, oder manchmal, nicht oft, einen Einspruch wider ein gerichtliches Verbot gegen eine Gewerkschaft. Wenn es sich um so etwas handelte, wurde Ann immer ganz radikal und glücklich, und Lindsay sagte dann seufzend: »Ja, das sind ordentliche Jungen, die Führer von der Gewerkschaft. Aber sie haben dies Jahr eine große Dummheit begangen. Sie haben sich nicht so gute Revolverleute und Gorillas gemietet wie die kommunistische Gewerkschaft, und darum haben sie den Streik verloren.«

Er kam in die Wohnung – erschlagen vor Müdigkeit. In der Gesellschaft Pats schien er ebensosehr wie in der Anns Ruhe zu finden. Nach einiger Zeit hörte er auf, seine entzündeten Augen zu reiben, und krächzte: »Könnt ihr beide nicht heute abend abkommen?« Er ging mit ihnen in Restaurants, von denen sie nie gehört hatten – in die neuen heimlichen Speakeasies, die gerade anfingen, sich in New York einzuschleichen; dort gab es echte Weine, die auf französischen Frachtdampfern eingeschmuggelt waren. Bei der Verabschiedung bedachte Lindsay beide mit einem leichten Kuß.

Ann lag wach – eine Minute lang – um von Pride, ihrer Tochter, zu träumen. Hatte Pride nicht große Ähnlichkeit mit Lindsay?

 

Nicht Columbia und nicht die Sträflinge, denen sie Unterricht gab, auch nicht Lindsay Atwell war Anns Schatzgrube in diesem Jahr, sondern Dr. Julius C. Jelke, Professor der Soziologie an der Columbia-Universität.

Dr. Jelke war ein Bierfaß von einem Mann, der eine große Vorliebe für Billard, Portwein, James Branch Cabell und weiße Rehlederschuhe hatte. Er leitete sein kriminologisches Seminar, in dem Miss Ann Vickers als eifrige Zuhörerin saß, ein, indem er schleppend sagte:

»Meine Damen und Herren, wir müssen den Zustand des Gefängniswesens im heutigen Amerika betrachten. Wir werden dabei finden, daß manche Gefängnisse anständig und human sind, und manche entschieden nicht anständig und nicht human, und dieser Unterschied wird auf den ersten Blick wichtig erscheinen. Vor einer so naiven Auffassung der Dinge muß ich Sie gleich zu Anfang warnen. Es gibt keine guten Gefängnisse! Es kann keine guten Gefängnisse geben! Es kann so wenig ein gutes Gefängnis geben, wie es einen guten Mord oder eine gute Notzucht oder einen guten Krebs geben kann.

Selbst in den Fällen, in denen es sich um eine offensichtliche Überlegenheit zu handeln scheint, wenn Gefängnis A sauberer und besser ventiliert ist und weniger qualvolle Strafen verhängt als Gefängnis B, muß es nicht unbedingt »besser« sein. Es kann in ihm eine pedantische Nörgelei herrschen, die einen guten, geistig und körperlich gesunden schweren Jungen mehr wild macht und ruiniert als Ungeziefer und Prügel. Selbst die unter uns, die von sich glauben, daß sie nicht zu Mr. Lombrosos ›Verbrechertypen‹ gehören, haben wohl schon lieber einen Urlaub in einer dreckigen Hütte in den Hinterwäldern zugebracht als in dem gepflegten Hause einer selbstgerechten Schreckschraube. Gute Gefängnisse? Gut wofür? Für irgend etwas anderes, als unserer, der anständigen Leute, eingebildeten Tugendhaftigkeit zu schmeicheln?

Im besten Fall stellt ein Gefängnis eine so unnatürliche Form der Absonderung vom normalen Leben dar, daß es – ebenso wie allzu liebevolle Eltern und allzu eifrige Religion und all die andern gutgemeinten Verletzungen der Individualität – dazu beiträgt, seine Opfer, wenn sie wieder herausgelassen werden, an dem Wiederaufnehmen einer natürlichen Rolle in der menschlichen Gesellschaft zu verhindern. Im schlimmsten Fall (und es ist überraschend, wie viele Gefängnisse in unserem Zeitalter zartfühlender Humanität, 1923, in diese Gruppe gehören) ist das Gefängnis geradezu eine mit wissenschaftlichen Methoden aufgezogene Institution zur gewaltsamen Entwicklung sämtlicher antisozialer Charakterzüge, für die wir angeblich die Leute ins Gefängnis schicken. (›Angeblich‹ sage ich, weil wir in Wirklichkeit die Leute nur deshalb ins Gefängnis stecken, weil wir nicht wissen, was wir sonst mit ihnen machen sollen; wir verstecken sie also, Polizei und Richter und Laien in schönem Verein, und zeigen uns, erwachsene menschliche Wesen, damit als Geistesverwandte des Straußes.) Das Gefängnis bringt einen Mann, der seine Vorgesetzten haßt, dazu, die ganze Welt zu hassen. Das Gefängnis macht einen Mann, der sexuell anormal ist, zu einem tobenden Sexualpsychopathen. Das Gefängnis läßt einen Mann, dem es Spaß machte, in der Kneipe andere Säufer zu verhauen, mit dem Wunsch herauskommen, einen Polizisten umzubringen – vielleicht ein nicht unwürdiges Resultat der Haft, wenn man bedenkt, daß in den meisten Städten die Intelligenzprüfung für Polizisten darin besteht, daß er hundertfünfundsechzig Pfund wiegen und einen für Knüppel und für Höflichkeit gleich immunen Schädel haben muß.

Ich will Ihnen eine Formel sagen, mit der Sie die Intelligenz und die Denkfähigkeit aller Beamten und aller Personen prüfen können, die praktisch und unmittelbar mit Gefängnissen zu tun haben: Jeder Gefängnisbeamte, der eine gewisse Intelligenz besitzt, ist insgeheim, gleichgültig was er sagt oder schreibt, der Meinung, daß alle Gefängnisse jeder Art, gute und schlechte, abgeschafft werden müßten.

Und was soll an ihre Stelle treten? Vor hundertfünfzig Jahren konnten selbst die meisten derjenigen Autoritäten, die die Folter (ein noch heute in den Vereinigten Staaten unter dem Namen Dritter Grad sehr beliebtes Verfahren) für eine schandbare und sinnlose Angelegenheit hielten, dennoch nicht sehen, was man an ihre Stelle setzen könnte. Zweifellos sagten sie in Privatgesprächen: ›Theoretisch bin ich gegen die Folter, aber schließlich bin ich ein abgebrühter Kriminalist, und solange wir nicht etwas Besseres haben, werden wir wohl die Streckfolter und die eiserne Jungfrau weiter benutzen müssen – aber als humaner Mann bin ich dafür, dem Kerl ein schönes weiches Kissen unter den Nacken zu legen, wenn man ihn auf die Folterbank schnallt.‹

Wahrscheinlich können wir nicht schon morgen alle sogenannten Verbrecher laufen lassen und die Gefängnisse zumachen, obwohl wir natürlich eben das tun, sozusagen auf Raten, indem wir sie am Ende ihrer Strafzeit entlassen. Nein, die Gesellschaft kann ihre Opfer, die sie selbst zur Freiheit unfähig gemacht hat, nicht befreien. Da das Millennium noch Jahrhunderte auf sich warten lassen wird, ist es zweifellos gut und richtig, die Gefängnisse so hygienisch und gut beleuchtet wie möglich einzurichten, damit die Gefangenen ihren lebendigen Tod mit mehr Komfort zu Ende leben können. Nur, seien Sie konsequent in Ihrem Denken. Bilden Sie sich nicht ein, daß Sie Ihre Opfer, die durch Ihre Fahrlässigkeit nicht geimpft worden sind und die Pocken gekriegt haben, retten, oder daß Sie Ihre Verantwortung verringern können, wenn Sie ihnen Umschläge auf die Stirn machen, und da können die Umschläge noch so wohltuend sein.

Was soll an Stelle der Gefängnisse treten? Irgend etwas wird sie ersetzen. Vor allem solche Einrichtungen wie bedingte Strafaussetzung und Bewährungsfrist für diejenigen, die nur etwas Hilfe und Gelegenheit zur Wiederherstellung brauchen. Für die ethisch Kranken, für die Unheilbaren, sicherer Gewahrsam in Krankenanstalten. Es hat ebenso wenig Sinn, die ethisch Kranken zu bestrafen, wie die körperlich Kranken. Und da der revolutionäre Kriminalist tatsächlich viel ›abgebrühter‹ ist als irgendein Richter von Tammany Hall, so würde er nicht selten Unglückliche, die jetzt nur fünf Jahre bekommen, auf Lebenszeit verurteilen. Wenn ein Mensch unheilbar schlecht ist, wenn er ein unheilbarer Mörder oder Notzüchter oder Kinderquäler ist, wird er nach fünf Jahren Gefängnis nicht im mindesten gebessert sein. Er muß für immer eingesperrt werden, nicht aus Rachsucht, sondern aus denselben Gründen, aus denen wir unheilbare Typhusbazillenträger isolieren. Nur verlange ich, daß über seine ›Unheilbarkeit‹ nicht von einem Richter entschieden wird, der seine psychiatrische Ausbildung durch Pokerspielen und Teilnahme an festlichen Muschelessen mit den führenden Politikern seines Bezirks erworben hat, sondern von geschulten Psychiatern … falls es so etwas gibt. Gibt es das nicht, dann wollen wir West Point und Annapolis für eine Saison zumachen und einmal sehen, ob es nicht für die Gesellschaft ebenso nützlich ist, Leute im Heilen auszubilden wie im Töten.

Die Niederträchtigkeit der Verbrecher ist ein beliebtes Thema für Tischgespräche. Aber die Sinnlosigkeit der Gefängnisse ist als Gesprächsgegenstand unter angeblich intelligenten Leuten so wenig üblich wie die Teleologie der Tibetaner. Über gewisse soziale Fragen hat sich in neuerer Zeit die Allgemeinheit so etwas wie ein Urteil gebildet, so daß man selbst von einem Landstreicher, einem Pfarrer von der Fifth Avenue oder einem Präsidenten der Vereinigten Staaten eine gewisse elementare Vorstellung davon erwartet, daß Krieg und Kapitalismus – die Führung der Wirtschaft einzig und allein zum privaten Nutzen der mehr fuchsartigen menschlichen Wesen – keine heiligen und ewigen Dinge sind. Aber daß Dunkelheit, Gestank, Gehorsam gegen Unterwertige, eine Lebensweise, die den Schrecken eines Bajonettkampfs mit der kleinlichen Niederträchtigkeit dörflichen Klatsches verbindet, keine Heilmittel für komplizierte seelische Erkrankungen sind, das ist eine Theorie, die den meisten Richtern, Anwälten, Gefängniswärtern, Gesetzgebern und schlichten Bürgern von heute genau so unbekannt ist, wie sie es in Newgate Prison, dieser blutigen Senkgrube von einem Gefängnis, vor hundert Jahren war.

Wenn der gewöhnliche Bürger von scheußlichen Verbrechen hört, schreit er immer: ›Wir müssen das Strafmaß heraufsetzen!‹ Er hat recht in seinem Abscheu gegen das Verbrechen. Aber er sollte lieber sagen: ›Da das Verbrechen zunimmt, ist offenbar bewiesen, daß das Gefängnissystem zwecklos ist. Wir müssen etwas anderes probieren.‹

Bis zum nächstenmal bitte ich Sie zu lesen …«

Ann kam ein bißchen benommen aus dem Kolleg. Was wurde nun aus all ihren Plänen, die Öffentlichkeit zur Einrichtung »guter« Gefängnisse anzuregen? Nun schön, sie mußte weiterarbeiten … Es gibt keine gute Arbeit, dachte sie, die sich nicht im letzten Grunde selber aufhebt, damit etwas Größeres an ihre Stelle treten kann.

Sie hatte ihre Prüfungen für den Zivildienst des Staates New York gemacht. In wenigen Wochen sollte sie jenes Sinnbild strenger Gelehrsamkeit, den Titel eines Magisters der Künste bekommen (seltsam mystische Bezeichnung!) Sie ging zu Professor Jelke und fragte tapfer:

»Ich habe eine gute Strafanstalt gesehen – Green Valley. Ich hatte die Absicht, in New York zu bleiben. Aber jetzt will ich den schlimmsten Kasten kennenlernen, den es gibt, sonst weiß ich überhaupt nichts vom Strafvollzug, wie er wirklich ist. Was raten Sie mir?«

»Tja, es gibt viele schlimme. Sie meinen für Frauen? Nun, ich glaube, eins der schlimmsten ist die Frauenabteilung des Zuchthauses Copperhead Gap im Staat Ixypsilon. Aber es wird schwer sein, Sie dahinzubringen. Stellen als Hausmütter in Gefängnissen, besonders in reaktionären Staaten, werden für die weiblichen Verwandten der Politiker reserviert, die zu gemein und zu unwissend sind, um Stellen als Schweinehüterinnen zu bekommen. Aber da fällt mir eine Möglichkeit ein: Mrs. Albert Windelskate, die im Staatlichen Überwachungsausschuß von Ixypsilon sitzt – Frau eines Wucherers, glaub ich. Das ist eine sehr wohltätige und gebildete Dame, und eine ziemlich schauderhafte Person. Ich sehe sie bei Gefängniskongressen. Sie schreibt mir – o Gott, wie sie mir schreibt. Über die Kastration von Verbrechern, nur daß sie zu fein ist, um es so zu nennen – es macht ihr bloß Spaß, daran zu denken. Ich werd ihr schreiben. Übrigens: wenn Sie nach Copperhead gehen sollten, meine Freundin Jessie Van Tuyl macht da drei Jahre ab wegen kriminellen Syndikalismus. Fabelhafte Frau.«

 

Miss Ann Vickers, Magister der Künste, wurde zur Erziehungsdirektorin und Ersten Sekretärin (Gesamtgehalt dreizehnhundert Dollar und freie Station) der Frauenabteilung in Copperhead Gap ernannt, in einem Staat, dessen Schutzheiliger William Jennings Bryan war.

Dr. Wormser sagte: »Fein! Wenn du bis zur Mitte des Herbstes aushältst, das sind drei ganze Monate, wollen wir dann den Oktober draußen in meinem Haus verbringen?«

Pat Bramble sagte: »Oh. Wieviel Gehalt bekommst du? Herr des Himmels, ist das alles? Ach, sei vernünftig und verkauf Grundstücke.«

Lindsay Atwell sagte: »Copperhead Gap? Ich weiß nicht, was sie da mit den Frauen machen, aber ich hatte einmal einen Klienten, der als Fälscher hineinging und als Mörder herauskam. Aber man darf natürlich nicht übertreiben; die Welt ist besser geworden, und die Gefängnisse auch. Die Folter ist abgeschafft … Ann, es ist heut abend so heiß – ich denke, ich werde für einen Monat nach Schottland hinüberfahren – gehen wir doch einmal den Riverside Drive entlang.«

 

Sie saßen auf einer Bank über dem Hudson. Die Hitze hatte New York zu tropischer Trägheit eingeschläfert. Die meilenlangen Reihen der Bänke saßen voll sommerlicher Liebespaare, und an ihnen vorbei gingen Matrosen, laute Mädchen im Arm. Die Flotte lag im Hafen; die Lichtbündel der Scheinwerfer überschnitten sich am Himmel; und die Bumskapellen im Palisades Park jenseits des Flusses waren Tamtams im Dschungel.

»Ann!« Lindsay seufzte. »Ich habe dich scheußlich ausgenutzt im letzten Winter. Jetzt kommt mir zum Bewußtsein, daß ich immer von vornherein annahm, du hättest Lust, mit mir herumzuspielen, wenn ich abgespannt war. Ich bin oft abgespannt, und trotzdem ist es mir langweilig, mich auszuruhen. Du hast mir so ziemlich das Leben gerettet.« Er preßte ihre Hand, aber beide hatten feuchte Hände, und er ließ sie wieder los. Sie konnte den Druck auch noch nachher fühlen, er brachte sie ein bißchen aus der Ruhe ihrer Julifaulheit.

»Du bist etwas so Wirkliches, Ann. Man braucht bei dir nicht unaufrichtig zu sein. Du bist nicht eitel und egozentrisch, und du schätzt nicht jeden Mann genau nach dem Grad seiner Nützlichkeit für dich. Aus diesem Grund, weil ich mich bei dir so sicher fühlte, ist es mir wahrscheinlich nicht zum Bewußtsein gekommen, wie schrecklich gern ich dich habe. Dein gräßlicher Plan, nach Copperhead Gap, in diese Taschenausgabe der Hölle zu gehen, hat mich aufgeweckt. Tu's nicht! Es ist Wahnsinn! Komm mit mir nach Schottland – korrekt verheiratet, meine ich natürlich. Es würde dir sicherlich Freude machen, durch das Trossachs-Tal zu wandern.«

»Wenn du leidenschaftlich in mich verliebt wärst –«

»Das würde ich sein!«

»Wenn du's bist, wirst du kommen und mich packen, dann wirst du nicht darüber argumentieren wie über eine Erbschaftslegitimation! Aber ich hab dich gern. Die Möglichkeit, mich mit Copperhead Gap herumzuschlagen, würd ich aber um alles in der Welt nicht aufgeben – also, beinah um alles. Nein.«

 

Nachher wünschte sie, sie hätte ihn dazu gebracht, sie in die Arme zu nehmen, sie zu überwältigen. Aber es war zu spät jetzt, da sie mit so verzweifelter Deutlichkeit seine guten Augen sehen konnte. Was war es mit diesen »weiblichen Ränken«, von denen sie in den Romanen las? Konnte sie das nicht: liebenswürdig sein, spröde-distanziert sein, traurig sein, von seinem Händedruck aufgeregt werden, ihm die Überzeugung beibringen, daß sie ein berauschendes Mysterium sei, in das er eindringen müsse?

»Mit andern Worten, Lügen und Schauspielern! Nein, ich laß mich hängen, wenn ich das will!« sagte Ann.

Ihr einsames Bett war heiß in der Julinacht.

»Die Welt ist besser geworden – wir haben die Folter abgeschafft«, zitierte sie ihn voll Zynismus.


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