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11

Unter den Aufgaben, die Ann, Pat und Eleanor hatten, galt als wichtigste die Bildung einer Ehrengarde für die Berühmtheiten der Bewegung, von denen nach Mitternacht im Fanning-Mansion stets als von den »Feuermachergästen« geredet wurde.

Einige der Feuermachergäste waren ziemlich schauerlich. Andere wieder waren reizend – »begeisternd« pflegten sie zu sagen.

Als Ann ein Jahr da war, kam zu einer Suffragettenversammlung in dem vornehmen Sinfoniesaal in Clateburn die berühmte Ärztin Dr. Malvina Wormser aus New York. Sie war Chefchirurgin am Agnes-Caughren-Gedächtniskrankenhaus für Frauen in Manhattan, Präsidentin der Geburtshelfervereinigung, Funktionärin in allen bekannten Geburtenreglungsorganisationen, Verfasserin des Buches »Emanzipation und Geschlecht« und Doktor der Naturwissenschaften von Yale und Vassar.

Die Kittchenstaffel machte sich Sorgen über den Besuch der Doktorin Wormser. Sie erwarteten eine grobknochige pferdegesichtige Frau, um ebenso viel strenger als Mamie Bogardus, wie sie berühmter war.

Dr. Wormser sollte bei Mrs. Dudley Cowx absteigen, der einzigen wirklich eleganten Frau in der Clateburner Organisation. Mrs. Cowx (eine geborene Dodsworth) war als Mädchen in Montreux, Folkestone und Versailles zur Schule gegangen, sie besaß eine Sommervilla in Bar Harbor, und ihre Schwester war mit einem deutschen Baron verheiratet. Bei Suffragettenversammlungen trug sie Tuchkostüme, die, abgesehen von den frischen Rüschen am Hals, ziemlich streng aussahen, und wenn sie mit der geschmacklosen Mrs. Ethelinda St. Vincent zusammenkam, behandelte sie sie sehr von oben herab. Die Mädchen der Kittchenstaffel behandelte sie nicht von oben herab, sie nickte ihnen zu und ignorierte sie dann.

Daß Mrs. Cowx Dr. Wormser in ihrem normannischen Schloß auf Pierce Heights aufnehmen sollte, ließ die gute Doktorin nur noch furchtbarer erscheinen.

An dem Tage von Dr. Wormsers Auftreten in Clateburn kam um zehn Uhr vormittags, während alle Ständigen und alle Helferinnen das Telefon bedienten und Briefumschläge – Briefumschläge! – adressierten, in das Fanning Mansion eine kleine, rundliche, unelegante Frau mit weißem Haar, runden Bäckchen, ganz hellen, strahlenden Augen und weichen, kleinen Pfötchen. Sie sagte zu Ann, die gerade in der Nähe der Tür war – aus diesem Hühnchen von Frau kam eine überraschend tiefe Stimme: »Ist Miss Bogardus da? Ich bin Malvina Wormser. Ich glaube, ich soll bei einer Mrs. Cowx wohnen; ich weiß gar nicht, wer das ist, ich bin auf jeden Fall direkt von der Bahn hierher gekommen. Sie sehen blaß aus, mein Kind. Ich könnte Ihnen irgendwas verschreiben, aber ich meine, ein bißchen Rouge würde wirklich ebenso gut sein – großartige psychologische Wirkung.«

Trotz all ihrer kampflustigen Offenheit hatte Miss Bogardus sich selbst und ihre Untergebenen dazu erzogen, bei Gesprächen mit Vertretern der Presse vorsichtig zu sein. Die Reporter oder zumindest ihre Redaktionen wollten immer etwas Skandalöses aus dem Fanning Mansion: irgendeine Andeutung, daß es eine Kolonie von Anhängern der freien Liebe sei oder, fast ebenso gut, ein toller Tiergarten von Männerhasserinnen, Anarchistinnen, Atheistinnen, Spiritistinnen oder irgend etwas anderem Exzentrischem und Diffamierendem. Die Kriegsaxt erklärte ihren jungen Damen, sie könnten die Wasser- und die Gaswerke angreifen, die städtischen Waisenhäuser, den Präsidenten Wilson und selbst die Alliierten, die jetzt im Weltkrieg Seite an Seite kämpften, aber das alles dürften sie nur als christliche Damen und solide Steuerzahlerinnen tun. Sie müßten, ganz gleichgültig, was sie bei sich dächten, überzeugt davon sein und auch andere davon überzeugen, daß das Frauenwahlrecht keineswegs zu »laxer Moral« (auch ein beliebtes Schlagwort jener Zeit) führen, sondern augenblicklich der Prostitution, dem Laster des Spielens und dem Biertrinken ein Ende machen würde.

Infolgedessen hörte Miss Bogardus, nachdem sie Dr. Malvina Wormser voll Bewunderung begrüßt hatte, ganz entsetzt zu, als die kleine Doktorin den entzückten Berichterstattern und Berichterstatterinnen, die sie im Fanning Mansion gestellt hatten, um sie zu interviewen, vergnügt die gefährlichsten Ansichten verkündete:

»Ob ich eine Anhängerin der freien Liebe bin? Was meinen Sie denn damit, junge Dame? Liebe kann doch nur frei sein. Wenn Sie meinen: Ob ich der Ansicht bin, daß eine wirkliche Leidenschaft – nicht bloß so eine Augenblickssache bei Mondschein – höher steht als alle kindischen Zeremonien, die von Priestern ausgeführt werden? Ja, aber natürlich. Finden Sie nicht auch?

Ob ich meine, daß die Frauen klüger sind als die Männer? Aber, aber! Was ist das für eine Frage! Nicht klüger – bloß weniger kleinlich. Aber probieren Sie nicht, mich dazu zu kriegen, daß ich über die Männer schimpfe. Ich bin eine einsame alte Jungfer, aber ich bete sie an, die lieben Kerle – die armen, dummen Schafsnasen! Was, meinen Sie, könnten denn Ärzte ohne ihre Pflegerinnen und ohne ihre Sekretärinnen überhaupt anfangen? Ich weiß da Bescheid! Ich war selbst Pflegerin, bevor ich Ärztin wurde. Und jetzt ist es meine Hauptfreude«, Dr. Wormser lachte vergnügt, »daß ich nicht aufstehen muß, wenn ein Arzt ins Zimmer kommt! Verstehen Sie? Solche albernen Sitten – eben typische Männereinrichtungen – die armen Lämmchen, wir müssen für sie und ihre kleinen Ichs sorgen! Deshalb brauchen wir das Wahlrecht, um ihretwillen!

Ob ich glaube, daß auch einmal eine Frau Präsidentin wird? Woher soll ich das wissen? Aber eines kann ich Ihnen sagen, es hat Herrscherinnen gegeben – Königin Elizabeth, dieser wunderbare Reißteufel Katharina von Rußland, die letzte chinesische Kaiserin, Maria Theresia von Österreich, die Königinnen Anna und Victoria – die bessere Herrscher waren als so manche Könige. Und Präsidenten!

Es kann auch nichts schaden, wenn Sie wissen, daß ich nichts von Versteckenspielen und Leisetreten halte. Das wird ein langer Kampf werden. Es handelt sich nicht bloß darum, daß wir das Wahlrecht bekommen. Das ist eine Frage von ein paar Jahren. Dann müssen wir weitergehen. Geburtenreglung. Getrennte Wohnungen für Ehepaare, wenn es ihnen so lieber ist. Was die Frauen brauchen, ist nicht bloß das Wahlrecht, sondern auch ein bißchen mehr hier oben.« Sie zeigte auf ihre Stirn. »Wir brauchen nicht bloß äußere Möglichkeiten, sondern auch etwas in unserem Inneren, womit wir nach der Möglichkeit, sobald wir sie bekommen, greifen und sie ausnützen können. Die Freiheit taugt nichts für ein Stubenkätzchen, sondern nur für eine Tigerin! Und die Frauen müssen zusammenhalten. Die Männer hatten immer den Verstand, das zu tun – der Teufel soll sie holen. Treue zum eigenen Geschlecht. Wir müssen für einander lügen und uns abends verdrücken und einen Ordentlichen miteinander saufen, wie die Männer.

Meiner Ansicht nach gibt es kein Gebiet, das jetzt unter der Herrschaft der Männer steht, welches die Frauen nicht auch für sich erobern können. Medizin, Jura, Politik, Physik, Aviatik, Forschungswesen, Technik, der Soldatenberuf, Preisboxen, süße kleine Gedichte schreiben – ich hoffe nur, daß die Frauen zu vernünftig sein werden, um zu boxen und Gedichte zu schreiben, beides sind nämlich Erscheinungsformen männlicher Wirklichkeitsflucht, und zwar ganz außerordentlich verwandte, wenn Sie sie genau genug ansehen.

Ich erwarte bloß nicht, daß die Frauen auf irgendeinem von diesen Gebieten die Männer nachahmen oder sie zu ersetzen versuchen. Ich gehöre nicht zu den Frauenzimmern, die glauben, daß die Empfängnis der einzige Unterschied zwischen Mann und Frau ist. Die Frauen haben besondere Eigenschaften, welche die Menschheit nicht für die Zivilisation nutzbar gemacht hat. Ich weiß, daß eine Frau ein ebenso guter Architekt sein kann wie jeder Mann – aber vielleicht wäre sie ein Architekt anderer Art. Ich bringe für die Medizin etwas mit, was kein Mann kann, und da mag er noch so tüchtig sein. Und wenn Sie meinen, daß Frauen nicht in den Krieg gehen können, dann denken Sie bloß daran, wie die germanischen Stämme, die ihre Frauen auf ihren Zügen mithatten, mit den prächtigen, starken männlichen Berufssoldaten Roms umsprangen! Aber die dickköpfige Männerwelt hat diese Lehre seit fünfzehnhundert Jahren vergessen und ist erst wieder darauf gekommen, als Florence Nightingale auftrat und das mit Männern besetzte Kriegsministerium Englands so lange piesackte, bis es so viel gesunden Verstand annahm, wie jedes normale Mädchen im Alter von sieben Jahren hat!

Nein, ich will kein Rivalisieren mit den Männern. Aber ich will mir nicht durch die Tradition der Unterordnung der Frau das Privileg rauben lassen, achtzehn Stunden im Tag zu arbeiten. Ich bin keine große Demokratin. Meiner Ansicht nach soll alles, was inferior ist, untergeordnet werden. Wenn es inferior ist! Ist aber eine Sekretärin klüger als ihr männlicher Chef, dann soll er ihr Sekretär werden. Hören Sie! Im Jahre 1945 werden Sie vielleicht nach England (wo man diesen Mythus von der Inferiorität der Frau erfunden hat, damit die Männer ihre Klubs haben können) fahren müssen, wenn Sie jemand finden wollen, der so ahnungslos ist, daß er überhaupt weiß, was Sie meinen, wenn Sie davon sprechen, daß bei der Besetzung eines Postens in Betracht gezogen werden soll, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, oder daß überhaupt etwas anderes als die Eignung in Betracht gezogen werden soll!

Ich sage 1945, weil mir mein Gefühl sagt, daß wir weniger eifrige Frauenrechtlerinnen sein werden, sobald wir einmal das Wahlrecht haben. Wir werden finden, daß Arbeit schwer ist. Daß Arbeitsposten etwas Unsicheres sind. Daß wir bedeutend mehr erreichen müssen als das Frauenwahlrecht – vielleicht den Sozialismus; auf jeden Fall etwas, das im wesentlichen sowohl Männer wie Frauen, nicht die Frauen allein, repräsentiert. Und eine Menge von Frauenrechtlerinnen, die vorgeben, die Männer zu hassen, werden dahinterkommen, daß es sehr nett ist, die lieben Tierchen bei sich im Haus zu haben. Wir werden bedeutend billiger werden. Aber dann werden wir wieder hochkommen – nicht als die Schatten der Männer und auch nicht als lärmende Berufsfrauen, sondern, zum erstenmal seit den Zeiten der Königin Elizabeth, als menschliche Wesen! So! Jetzt müssen Sie schon imstande sein, aus dem, was ich gesagt habe, so viel herauszuholen, daß Sie mir Scherereien machen können, die sogar einer Suffragettensprecherin genügen müssen! Guten Tag.«

 

Als die Reporter sich entfernt hatten und Dr. Wormser nach Absolvierung einiger Pressephotos zu Mrs. Cowx zum Lunch gegangen war, jammerte die Kriegsaxt: »Das wird fürchterlich werden! Sie werden die Nachmittagsblätter mit der ganzen Geschichte füllen, und das wird fürchterlich sein! Der Saal wird heute abend voll genug werden! Da brauchen wir nichts zu befürchten! Aber wie werden die angeben! Der Teufel wird los sein! Mädels – ich hatte ursprünglich die Absicht, euch auf dem Podium zu postieren, aber ihr werdet euch unter die Zuhörer mischen müssen und sehen, ob ihr Unruhen gleich im Anfang ersticken könnt. Ach du lieber Gott, und wir waren immer so vorsichtig! Freie Liebe!«

Ann hatte Mamie Bogardus noch nie zittern sehen. Sie alle benahmen sich an diesem Nachmittag respektvoll und zärtlich zu ihr. Als sie rasch die Vieruhr-Ausgaben der Nachmittagsblätter geholt und gelesen hatten, was überall auf der ersten Seite stand, zitterten sie selbst.

Das Folgende ist ein Teil dessen, was die Zeitungen aus Dr. Wormsers Erklärungen gemacht hatten:

Liebe ist bloß so eine Augenblickssache bei Mondschein, aber trotzdem ist sie wichtiger als eine dauernde Ehe, weil Trauungen von Priestern vollzogen werden, die alle kindisch sind. Freie Liebe, das heißt, sich ein Schätzchen nehmen, wann man gerade Lust darauf hat, ist nicht nur statthaft, sondern für jede freie Frau notwendig.

Die Männer sind viel gemeiner als die Frauen. Ärzte schimpfen mit ihren Pflegerinnen herum und behandeln die einfach scheußlich.

Der nächste Präsident der Vereinigten Staaten wird eine Frau sein, und die wird viel mehr taugen als alle Männer. Marie Luise von Rußland war der größte König aller Zeiten.

Sobald (zwei der Zeitungen brachten in Fettdruck und eine in Rot einen Abschnitt ungefähr folgenden Inhalts): sobald wir das Wahlrecht haben, werden wir weitermachen und uns für Geburtenreglung, Sozialismus und Atheismus einsetzen. Alle Ehepaare werden in getrennten Wohnungen leben. Und die Frauen werden die Männer nachahmen und sich oft verdrücken und miteinander saufen gehen. Die Frauen werden füreinander lügen, um die Männer zum Narren zu halten.

Die Frauen werden bessere Soldaten, Preisboxer, Techniker und Dichter sein als die Männer, und die Männer taugen nur dazu, die Sekretäre und Diener der Frauen zu sein. Ich weiß, daß eine so offene Sprache Scherereien für mich zur Folge haben wird, aber alle Suffragettensprecherinnen sind Freundinnen der Propaganda, und das wird mir wohl eine ganze Menge davon einbringen.

 

Bis es Zeit war, zum Meeting im Sinfoniesaal aufzubrechen, schlichen die Mädchen im Fanning Mansion trübsinnig umher, in einem Elend, so groß, daß sie gar nicht reden wollten. Selbst Maggie O'Mara wurde, als sie aus dem Büro der Kellnerinnengewerkschaft zu ihnen kam, so niedergedrückt, daß sie schwieg. Sie zogen sich nicht Kleider an, wie sie sich für ein öffentliches Fest der Vernunft und der Höflichkeit geeignet hätten, sondern derbe Kostüme.

Und bei all ihrer Besorgtheit war Ann wütend, weil sie mühsam genug gespart hatte, um sich ein blaues Abendkleid aus Taft zu kaufen, das ihrer Überzeugung nach so wundervoll war, daß es selbst einem ausschließlich aus lauter Mrs. Dudley Cowx' bestehenden Publikum Eindruck machen konnte. Sie wollte wirklich und wahrhaftig, so tobte sie, einmal auch etwas anderes sein als die nachlässig gekleidete, verschlampte Frauenrechtlerin, die in Mietskasernen kriecht, Briefumschläge adressiert und an der Ecke der Hauptstraße Reden hält.

»Mir machen hübsche Sachen Freude! Und was ist, wenn ich heute, wo ich diesen alten Turnkittel anhab, irgendeinen großen Mann dort kennenlerne! Verflucht!«

Die Kittchenstaffel und Miss Bogardus fuhren feierlich in einem Straßenbahnwagen zum Sinfoniesaal (keine von ihnen konnte sich auch nur einmal im Jahr eine Taxe leisten) und hatten das Gefühl, daß alle Männer auf den langen Bänken im Wagen sie als unsterbliche und gefährliche Frauen erkannten und finster anstarrten. Bevor sie durch den Bühneneingang in die sichere Ruhe des »Künstlerzimmers« schlüpften, schlängelten sie sich ängstlich durch die Menschenmenge vor dem Sinfoniesaal. Mittags waren die Karten nur zur Hälfte verkauft gewesen. Jetzt verkündete ein in Blau und Gold gekleideter Beamter in Brülltönen: »Nur Stehplätze – alle Sitzplätze ausverkauft – nur Stehplätze!« Und der Saal hatte dreitausend Sitzplätze.

Allen Ankündigungen des Beamten zum Trotz drängten sich Hunderte von Menschen gegen die dreiflügligen Türen und versuchten hineinzugelangen. Aus der keuchenden, durcheinanderschiebenden Menge wurden wütende Stimmen laut: »… Spießruten sollte man sie laufen lassen – lauter verdrehte Schrauben – verrückt sind sie alle und nichts weiter – ich würd mir ne Ärztin nicht kommen lassen, wenn meine Katze krank ist – freie Liebe, ich möcht denen mal bißchen freie Liebe vormachen, mit nem Holzknüppel – lauter verrückte Anarchistinnen.«

Zu wüsten Gewaltszenen kam es jedoch nicht. Es waren zu viele da, die mit der Frauenbewegung sympathisierten, zu viele, die nicht glaubten, daß Dr. Wormsers Aussprüche richtig wiedergegeben worden seien; und interessant ist es, daß diese Verteidiger entweder wohlhabende »führende Bürger« waren oder zerlumpte und mit schäbiger Sauberkeit gekleidete Arbeiter; würdige Bürger aus der Kategorie zwischen Lohnempfängern und Inhabern von Direktoratsstellungen fanden sich nicht darunter. Der Eingang zum Sinfoniesaal mit seinen hohen Marmorsäulen, die aussahen wie auf Hochglanz polierter Brotpudding, seiner heiter gelassenen, wenn auch leicht schwachsinnigen Mozartbüste in einer Nische und seinen Erinnerungen an Abendkleider, Chypre und den Jahresball der St. Wenceslaus-Gesellschaft ließ nicht die richtige Stimmung für Exzesse aufkommen. Nein, Ann mutmaßte, daß der Mob nicht vom Lynchen reden, daß er es aber Dr. Wormser vielleicht unmöglich machen würde, sich Gehör zu verschaffen, und mit einem Male hatte sie den Eindruck, Dr. Wormser sei der wichtigste und vernünftigste Mensch, den sie in ihrem ganzen Leben kennengelernt habe.

Hinter der Bühne trafen sie Dr. Wormser, die gelassen aussah, obwohl ihre Hand zitterte. Die zierliche Mrs. Dudley Cowx, in strengem schwarzem Krepp, als einzigen Schmuck eine Korallenkette, war bei ihr, und Mrs. Cowx schien von allen am wenigsten Angst zu haben. »Diese verfluchten Zeitungen!« schimpfte sie. »Kann mir jemand von Ihnen erklären, warum jeder Berichterstatter und jeder Redakteur bei der Zeitung ein Liberaler oder gar ein Roter sein kann und die Zeitung selbst doch konservativ bleibt wie die Masern? Seien Sie ganz ohne Sorgen, Dr. Wormser. Ich habe da unten meinen Dudley und zwei große, wunderbar dumme Brüder. Sie werden vorher im Klub einen Schluck getrunken haben und jetzt schon imstande sein, es mit mindestens dreihundert Lümmeln aufzunehmen.«

Aber Mrs. Cowx' sanftes Geplauder beruhigte die gespannte Atmosphäre nicht. Es war ein schauerlicher Aufenthaltsraum, dieses »Künstlerzimmer« mit getünchten Wänden, an denen Zigaretten ausgedrückt worden waren, einem Durcheinander von wackligen Küchenstühlen und trübseligen Stapeln von hölzernen Klappstühlen und Notenständern. Die Kriegsaxt saß an einem Tisch und schlug mit den Fingern einen Trommelwirbel nach dem anderen, so daß alle noch nervöser wurden; Dr. Wormser schritt oder rollte sich vielmehr auf und ab und bewegte die Lippen, während sie ihre Ansprache noch einmal bei sich wiederholte. Der Zeiger bewegte sich so langsam auf halb acht, die Anfangszeit, zu, daß er stillzustehen schien.

Aus der vorderen Saalhälfte hörten sie Gelächter, verächtliche Pfiffe, aufgeregtes Stimmengewirr und schließlich Fußtrampeln.

»Acht siebenundzwanzig, ach, fangen wir an, Doktor, damit wir die Sache hinter uns kriegen«, ächzte Miss Bogardus. »Paßt mal auf, ihr Mädels. Sowie die Doktorin zu reden anfängt, geht ihr alle in die hintere Saalhälfte, und wenn irgendwas losgeht, seht zu, was ihr tun könnt.«

Sie stapfte vor der anscheinend demütigen kleinen Dr. Wormser hinaus, und als die beiden sich auf der Bühne zeigten, empfing sie ein Orkan ironischen Händeklatschens, Fußtrampelns, und Gebrülls: »Hurra für die Kriegsaxt! Hurra für die Ärztin! Gebt den Weiberkitteln das Wahlrecht.«

Die Kittchenstaffel ging durch die Zwischentür hinein, eilte durch einen Gang in den Hintergrund des Saals, der mit stehenden Menschen vollgepfropft war, und kam gerade zu rechter Zeit, um die einführenden Worte zu hören, die Miss Bogardus als Vorsitzende sprach. Wenn dieses alte Kriegspferd, diese in ihrem Beruf altgewordene Kämpferin, die vor viel schlimmeren Häusern schon ihre Lady Macbeth gespielt hatte, hinter den Kulissen anscheinend nervös gewesen war, so war jetzt nichts mehr davon zu merken. Sie strahlte das Publikum freundlich an, als wäre sie die kleine Editha mit dem Einbrecher, als liebte sie alle da unten und zweifelte nicht im mindesten daran, daß diese sie – und das Wahlrecht – gleichfalls liebten.

»Ich fürchte, in der unvermeidlichen Hast, die Zeitungen rechtzeitig herauszubringen, haben unsere Freunde, die Reporter, den Radikalismus der Rednerin dieses Abends beträchtlich übertrieben«, begann Miss Bogardus vor dem still gewordenen Saal; dann stellte sie schlicht, ohne alle schmückenden Reden, Frau Dr. Wormser als wohl den größten Arzt seit Benjamin Rush vor.

Für die Geißel ihrer eigenen Heimatstadt, für Miss Bogardus hatte die Bande da unten etwas von jener ironischen Zärtlichkeit, wie sie sie etwa für einen berühmten Ortstrunkenbold hätte haben können, der in seinen großen Augenblicken immer Hotelfenster einschmeißt und Schutzleute attackiert, für einen Politiker, der mit einer Tochter der Freude ertappt wird, für einen notorisch betrügerischen Fischhändler oder irgendeine andere romantische, aber entschieden einheimische Figur. Als aber die fremde Heidin, Dr. Wormser, zu reden begann, explodierte die Menge.

In dem wirr durcheinandergehenden Gebrüll und Gekreische konnte Ann keine Einzelstimmen unterscheiden, außer einer rauhen, kräftigen, betrunkenen, die johlte: »Hau doch wieder ab nach N'york!«

Dr. Wormser sah so klein, so nett und gemütlich aus, sie stand so tapfer da mit beschwörend vorgestreckten rundlichen Händchen, daß es wieder still wurde und sie sprechen konnte.

»Meine Damen – und auch meine Herren – und – Gegner der Frauenrechtbewegung!« (Gelächter und Pfiffe.) »Ich bin genau derselben Meinung wie Sie! Wenn ich mich nur aus den heutigen Abendblättern kennte, würde ich mich ganz und gar mißbilligen!« (Lachen.) »Ich würde der Malvina Wormser sagen, sie soll sich aus dieser reizenden Stadt fortscheren und in den Sündenpfuhl New Yorks zurückkehren!«

Leichter Applaus – zerrissen von der derben Stimme, die Ann schon früher gehört hatte: »Na, dann geh doch zurück. Hau ab! Wir brauchen dich hier nicht!«

Ann hatte sich mit Hilfe ihrer Ellbogen zur letzten Sitzreihe durchgedrängt und sah nun, daß der Schreihals seinen Platz mitten in einer Reihe hatte. Er war aufgestanden und blickte sich beifallslüstern um. Es war ein kräftiger, roter Mann, der schwankte und betrunken vor sich hingrinste. Von diesem Agamemnon ermutigt, begann die weniger couragierte Jugend wieder zu pfeifen und zu trampeln.

Neben Ann waren fünf, sechs uniformierte Schutzleute, die mit offenem Maul dastanden. Sie packte einen von ihnen am Ärmel und bat: »Sie müssen den Mann hinauswerfen! Sonst kommt es noch zu einem Tumult.«

»Ach, der tut nichts, junge Dame. Der wird schon wieder still.«

Der rote Mann begann zu singen: »Hau ab – du Hurenmensch!«

Ann verlor augenblicklich in der schönsten Weise ihre Ruhe. Sie bahnte sich einen Weg durch die Menschen und flitzte den Gang entlang wie ein Hühnerhund, der die Beute holen will; Maggie O'Mara folgte ihr wie ein Bullterrier und Eleanor Crevecoeur wie ein Windhund in voller Karriere. Pat Bramble jedoch war nicht zu sehen.

Die Polizisten kamen hinterdrein wie eine Kolonne Eiswagen.

Ann packte den Roten am Kragen. Sie sprach nicht laut, aber sehr scharf: »Raus mit Ihnen, Sie besoffener Lümmel!« Er schüttelte sie ab, und Maggie gab ihm eine Ohrfeige. Es war eine wunderbare, pfeifende Ohrfeige, die Ohrfeige einer Kellnerin, die sich in Nachtkneipen geübt hatte. Während das ganze Publikum aufstand, kreischte und neugierig zusah – Dr. Wormser war ganz vergessen – langte der Rote nach Maggie, aber mit einem Male stand auf rätselhafte Weise Eleanor vor ihr, so kühl, so rapierschmal und ruhig, daß selbst ein vertierter Trunkenbold nicht auf sie losgehen konnte.

(Aber wo blieb Pat? Sie war ein Feigling, eine Deserteurin!)

»Da, Sie! Führen Sie ihn hinaus!« verlangte Ann von dem vordersten Polizisten.

Aber andere Männer brummten: »Er hat ein Recht zu reden – ihr und eure Kraftnutten – schämen solltet ihr euch – Damen wollt ihr sein? – solchen Teufelsbraten wie euch soll man das Wahlrecht geben?«

Der Polizist sagte ziemlich hastig: »Gehen Sie auf Ihren Platz zurück, meine Dame! Sie machen ja den ganzen Krach, nicht der Kerl da! Gehen Sie nur weg, wir werden dann schon für Ruhe sorgen.« Und entfernte sich in breitschultriger, blau uniformierter Würde, während der Rote über Eleanors magere Schultern hinwegbrüllte: »Jaha! Los, Jungs, wir wollen die ganze Blase versohlen und dann auf die Doktorin losgehen! Los!«

Ein Zyklon. Ganz plötzlich. Ein Expreßzug, der durch die Hausmauern hindurch ins Wohnzimmer braust. Eine Herde wildgemachter Stiere, den Mittelgang entlangstürmend. Pat Bramble führte eine muntere Gruppe junger Männer in den Sweatern der Clateburner Universität an. »Schmeißt ihn raus!« rief sie, auf den Roten weisend. Er verschwand unter Sweatern; seine umgekehrten Hacken und Beinansätze traten in der Luft über der Menschenmenge im Hintergrund des Saales umher. »Und den schmeißt auch raus – und den da!« verlangte Ann.

Zwei Männer, dann ein halbes Dutzend, wurden über die Köpfe protestierender Zuschauer hinweggehoben und hinausgeworfen wie leblose Säcke. Jetzt wurden die Schutzleute tapfer und begannen, unterstützt von den Universitätssweatern, jeden hinauszuschleifen, der auch nur zu piepsen wagte – darunter auch einen Anhänger der Frauenrechtbewegung, einen ehrwürdigen Professor der Clateburner Universität, von dem man sich erzählte, daß er seit seinem achtzehnten Lebensjahr für jeden suffragettenfreundlichen Kandidaten zweimal gestimmt habe.

Die Schutzleute und die Sweater schritten im Gang auf und ab. Alles war ruhig, Dr. Wormser sprach eine schöne Stunde lang und endete unter ganz ordentlichem Beifall.

Aber die Kittchenstaffel hörte nichts von ihrer Rede. Sie hielten sich erschöpft hinter der Bühne auf. Eleanor weinte. Maggie warf wütende Blicke um sich, weil die schöne Rauferei vorüber war.

»Wo zum Teufel hast du denn alle diese jungen Riesen aufgetrieben?« fragte sie Pat.

»Da hab ich allerdings was riskiert! Ich hab sie im Rang in der ersten Reihe sitzen sehen. Den einen von ihnen, den Fußballkapitän Tad Perquist, hab ich nach seinen Bildern erkannt. Ich bin zu ihm hinaufgelaufen und hab ihm gesagt: ›Ach, Mr. Perquist, ich bin eine Freundin von Ihrer Schwester, Sie müssen kommen und uns helfen.‹ Ich hab mich drauf verlassen, daß er wahrscheinlich eine Schwester hat. Na, und dann ist er mit allen diesen ernsthaften jungen Gelehrten gekommen, und sie haben ja auch ein ganz schönes Stück Forschungsarbeit geleistet!«

Aber Ann, die etwas abseits saß, brütete vor sich hin: »Es ist ekelhaft! Unsere wirkliche Arbeit, Ausschüsse, Propaganda, Briefumschläge – diese Briefumschläge! – das wird uns nie zugute gehalten. Und jetzt werden wir pathetisch wie Collegejungs, und da werden die Zeitungen wahrscheinlich alle schreiben, daß wir prächtige tapfere Weiber sind, weil wir genau so blöd sind wie die Männer und den Versuch machen, mit Gewalt etwas zu erreichen, wie die Männer … Aber ich wollte, ich hätt ihm eine geklebt, bloß eine, wie Mag!«

 

Als sie im Gefolge von Dr. Wormser den Saal verließen, stürzte sich eine gebrechliche, zierliche, kleine alte Dame auf Ann und Eleanor und zischte: »Ihr jungen Personen, ich bin seit vierzig Jahren Suffragettin. Mein teurer verstorbener Gatte und ich, wir haben für das, was in unseren Augen die gute Sache war, viel Geld, sehr, sehr viel Geld geopfert. Aber seit heut abend bin ich eine ausgesprochene Gegnerin des Frauenwahlrechts. Sie und Ihre anderen ordinären Personen haben sich durchaus nicht damenhaft benommen, nicht im mindesten damenhaft!«

Eleanor rief mit gellender Stimme: »Nicht damenhaft? Ach du lieber Gott, ich werde demnächst für die Näherinnengewerkschaft arbeiten!«

Aber Ann lachte nicht. Sie war deprimiert. Die dramatischen Auftritte dieses Abends hatten sie aus der einschläfernden Routine des Fanning Mansion aufgerüttelt. Sie überlegte verdrossen: »Ich habe aufgehört, ein Individuum zu sein. Ich bin ein Zahnrad, gleichgültig, ob es sich um Unruhen oder Adressenschreiben handelt. Noch ein Jahr – ein Jahr muß ich ihnen schon noch geben – und ich hör hier auf und suche danach, was die Ann Vickers dann ist, ob sie noch etwas anderes geworden ist als ›eine von diesen jungen Personen in der Suffragettenzentrale‹.

Und dann werd ich wohl in irgendeine andere verdammte soziale Bewegung eintreten und ein anderes Zahnrad in einem anderen Getriebe sein.

Sieht die ganze Reformmanie so aus wie das?

Auf jeden Fall werd ich nie wieder in einen Krawall geraten. Exhibitionismus ist das ganz einfach, und sonst nichts! Schluß!«


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