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25

»Es gibt keine Landstreicher – es gibt nur Menschen, die sich herumtreiben«, sagt Josiah Flint. Und es gibt keine Ärzte – nur Menschen, die Medizin studieren; keine Schriftsteller – nur Menschen, die Bücher schreiben; es gibt keine Verbrecher und keine Gefangenen, sondern nur Menschen, die etwas getan haben, das in dem betreffenden Augenblick als Verstoß gegen das Gesetz galt, und die nach dem aufs Geratewohl zusammengestoppelten Urteil eines Richters (der überhaupt kein Richter war, sondern bloß ein Mensch, der Recht sprach, je nachdem wie sich seine Verdauung oder die Nörgelei seiner Frau auf ihn auswirkte) ins Gefängnis gebracht worden sind.

So war Ann unter Frauen, die nicht nur Frauen oder Wärterinnen waren, sondern verschiedenartige menschliche Wesen, und sie schwelgte nicht volle vierundzwanzig Stunden am Tag in Scheußlichkeiten. Wie ihr Bezirksgefängnis in Tafford war auch dieses ungemütlich und sinnlos, aber es unterschied sich nicht in magischer Weise von anderen Denkmälern des Stumpfsinns. Es war ungemütlicher als die beiden modernen Besserungsanstalten für Frauen, die sie schon kannte, aber keineswegs sinnloser. Es war kaum schlimmer als viele Einrichtungen, zu denen Leute für das Verbrechen ihrer Geburt verurteilt werden, wie zum Beispiel ein Bergwerk in Pennsylvania und die dazugehörigen Wohnbaracken, eine Baumwoll-Fabrikstadt in Carolina oder ein New Yorker Speakeasy, gestopft voll von intelligenten Frauen, die sich betrinken, um nicht an den Selbstmord denken zu müssen. Ann lernte es, den größten Teil ihrer unangenehmen Stunden leicht zu nehmen. Wie man von verkommenen Leuten sagt, sie »gewöhnte sich daran«. Sie schlief, frühstückte, arbeitete, zankte sich, aß, las die Zeitung und schlief dank jenem mechanischen Hinnehmen der Umgebung, mittels dessen der Mensch es sich ermöglicht, das Leben in einem Schützengraben, einer Schneehütte am Nordpol, einem Tuberkulosesanatorium oder in einem Haus mit einer habsüchtigen Frau zu ertragen, ohne wahnsinnig zu werden.

Hätte Ann diese heilsame menschliche Wurstigkeit nicht gehabt, so hätte sie sehr wohl verrückt werden können, denn an Scheußlichkeiten bekam sie genug zu sehen während ihrer fünfzehn Monate: Zellen voller Gestank, Kakerlaken, Ratten, Läuse, Flöhe, Moskitos. Gefangene in der Strafzelle, auf kaltem Zement liegend, ohne Decke oder irgendwelche Kleidung außer einem Nachthemd, mit zwei Scheiben Brot alle vierundzwanzig Stunden. Ein Speisezimmer voller Fliegenschmutz, der in reichlichen Hieroglyphen das Wachstuch verschönte. Essen, das wie Spülwasser schmeckte und von Maden und Schwaben wimmelte. Unterkleider, rauh wie Segeltuch, steif von Schweiß nach der Arbeit in der Hemdennäherei. Die Tatsache, daß Mrs. Windelskates schöner Turnsaal unter Verschluß gehalten und nur benutzt wurde, wenn Cap'n Waldo ihn für Konferenzen mit den Prostituierten unter den weiblichen Gefangenen brauchte. Die Hemdennäherei mit ihren veralteten und gefährlichen Maschinen und dem schlechten Licht, das die Augen ruinierte. Schweigen für dreiundzwanzig Stunden am Tag – Redeerlaubnis nur für eine Stunde nach dem Abendessen, im Spazierhof – obwohl natürlich die Verordnung durch nächtliches Klopfen an den Wänden und durch Flüstern aus den Mundwinkeln den ganzen Tag über gebrochen wurde, denn es ist die Pflicht, der Stolz und die Freude aller Sträflinge, sämtliche Verordnungen im Gefängnis zu brechen, genau so wie es die Pflicht, der Stolz und die Freude der Wärter ist, sie durchzusetzen. Der einzige Unterschied ist der, daß die Wärter ihre Triumphe nicht still und bescheiden feiern wie die Sträflinge, sondern mit Knüppeln, Fesseln und damit, daß sie die Erlaubnis zum Briefschreiben und zum Spazierengehen auf dem Schlackenhof entziehen, worauf die Gefangenen, in verständlicher Empörung über dieses unfaire Vorgehen, um so mehr ihren Stolz daran setzen, die Verordnungen zu brechen. Je mehr bestraft wird, desto mehr ist zu bestrafen, und die allgemeine Philosophie der ganzen Angelegenheit ist die eines Idioten, der Fliegen fängt.

Wenn Ann sich auch an die Unerfreulichkeiten gewöhnte, wie man sich an Krebs gewöhnt, so konnte sie sich doch nie damit abfinden, daß ihr Studium des Gefängnisses durch die Bauernschlauheit gehemmt wurde, mit der Cap'n Waldo seine Grausamkeit verkleidete. Sie hatte gedacht, sie würde mit den Sträflingen in Copperhead reden und, so ungehindert wie in Green Valley, ihre Ansichten über die Sache hören können. Aber hier wurde keine Verordnung so strikt durchgeführt wie die, daß die Beamten unter keinen Umständen mit irgendeiner Gefangenen, abgesehen von solchen Vertrauenspersonen wie Birdie Wallop, außer zu Befehlszwecken reden durften.

Ann hatte sich auf die Bekanntschaft mit Mrs. Jessie Van Tuyl, der Arbeiterführerin, die für die metaphysische Niederträchtigkeit des »kriminellen Syndikalismus« eingesperrt war, ebenso gefreut, wie etwa darauf, die berühmte Chicagoer Sozialarbeiterin Jane Addams kennenzulernen. An ihrem ersten Abend war sie fröhlich losgegangen, um Mrs. Van Tuyl in ihrer Zelle zu besuchen, aber Mrs. Bitlick hatte sie aufgehalten und gesagt: »Unterhaltung mit den Insassen gibts nicht. Wenn Sie schon so gebildet und das alles sind, könnten Sie auch mal Ihre Hausordnung studieren!«

Das schien ihr eine ausgezeichnete Idee – sie mußte, wie ihre Waffengefährtin Birdie, wissen, was für Verordnungen man zu brechen hatte. Sie verbrachte ihren ersten Abend in Copperhead mit der Lektüre von Spaßhaftigkeiten der folgenden Art:

Der einzige Zweck dieser Anstalt besteht darin, Gesetzesbrechern die Möglichkeit zu geben, frühere schlechte Gewohnheiten abzulegen, um imstande zu sein, wieder vollwertige und glückliche Mitglieder der Gesellschaft zu werden. Aus diesem Grunde soll der Gefangene die Verordnungen nicht nur deswegen erfüllen, weil sie Verordnungen sind, sondern auch zum Zweck der Entwicklung einer vollwertigeren und reicheren Persönlichkeit.

»Das hat Dr. Slenk oder jemand anders von der Vereinigung Christlicher Junger Männer geschrieben. Cap'n Waldo hat nie in seinem Leben so viel herrlichen reinen Humor entwickelt«, murmelte Ann.

Vergiß niemals, daß die Anstiftung irgendwelcher Unruhe in den Zellen zur Nachtzeit nicht nur ein schwerer Verstoß gegen die Gefängnisordnung, sondern auch eine ernstliche Störung für die übrigen Insassen ist. Wenn du diese Gelegenheit zum ruhigen Nachdenken, auf daß du mit der Gesellschaft und mit deinem Schöpfer wieder ins reine kommst, nicht zu schätzen weißt, so denke daran, daß andere Wert darauf legen, und daß die Selbstsucht die Wurzel fast aller Verbrechen ist.

Es gibt kein schwereres Vergehen als das Zerbrechen, die Bekritzelung oder sonstige Beschädigung der Einrichtungsgegenstände in deiner Zelle, der Maschinen im Arbeitssaal oder sonstigen Gefängniseigentums. Vergiß nie, daß der Staat große Ausgaben machen mußte, um dich mit Ausrüstung zu versehen.

Ann verfiel in die Ausdrucksweise von Waubanakee in Illinois und stöhnte: »Nun brat mir einer n Storch!«

Mit der Verlogenheit, die für alle Gefangenen das Hauptmittel zur Entwicklung einer vollwertigeren und reicheren Persönlichkeit ist, und die Ann ebenso rasch lernte wie jeder andere Insasse, begriff sie, daß die Methode, die Verordnung gegen Gespräche mit Gefangenen zu umgehen, darin bestand, Cap'n Waldo zu schmeicheln und sich Spezialerlaubnisse zu besorgen. Die Methode hatte ihre Schattenseiten. Cap'n Waldo hielt ihre Hand fest, schlug abendliche Spaziergänge vor und sah ihr mit wissender Obszönität in die Augen. Aber Ann brachte es fertig, niemals allein im Turnsaal oder im Schlafsaal zu sein, wenn er seine Inspektionsgänge machte – Cap'n Waldo machte sehr gern Inspektionen und Verbesserungsvorschläge in der Frauenabteilung, besonders im Baderaum – und so rutschte gerade sie durch, nicht ohne sich zu fragen, wann sie gefaßt und erschossen würde, wie irgendein anderer Spion.

Mit seiner Spezialgenehmigung konnte sie binnen einer Woche Jessie Van Tuyl in ihrer Zelle besuchen.

Sie erwartete eine Persönlichkeit zu finden, eine Jeanne d'Arc, eine Volksrednerin zu Hause. Mrs. Kaggs führte sie in eine stickige Zelle. Das Licht war so schwach, daß Ann nichts anderes sah als – eine typische Gefangene: Wischlappen von Uniform, Schuhe wie Klötze. Als Mrs. Van Tuyl, die lesend auf ihrem Stuhl saß, den Kopf hob, klebte ihr das Haar unordentlich an der Stirn, und der Schweiß lief ihr in Strömen übers Gesicht. Daß sie in diesem schmierigen Gefangenengesicht blank geputzte Brillengläser trug, ließ sie nur um so grotesker aussehen. Erst nach Minuten erkannte Ann die breite Stirn, die ruhigen Augen, den guten Mund und die mütterliche Brust. Eine Copperhead Gap-Uniform und eine Zelle in Copperhead an einem Juliabend konnten sogar aus Jessie Van Tuyl eine Pennschwester machen.

»Ach, das ist doch Ann Vickers, nicht wahr? Ich dachte mir, daß Sie kommen würden! Ann, meine Gute, das ist der schönste Augenblick, den ich seit Monaten habe! Ich kenne Mamie Bogardus ein bißchen, und Malvina Wormser –«

»Sie, Van Tuyl!« Es war die Nachtaufseherin Kaggs; sie war an der Gittertür stehen geblieben, um zu horchen. »Miss Vickers gilt hier als Beamtin! Sie dürfen unter keinen Umständen eine Beamtin beim Vornamen anreden, ganz egal wie gut Sie draußen mit ihr bekannt waren!«

»Mrs. Kaggs!« Jessie Van Tuyls Stimme war bedeutend schärfer als die der Nachtaufseherin. »Die arme kleine Inch ist wieder krank. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß sie eine Psychotikerin ist – sie gehört nach Brisbane. Ich bestehe darauf, daß Sie sofort den Doktor zu ihr schicken, heute abend noch!«

»Der Doktor hat keine Zeit dazu, sich mit der kleinen Niggerdiebin abzugeben! Wahrscheinlich markiert sie bloß!«

»Sie haben gehört, was ich gesagt habe! Ich werde einen schönen Bericht für die Zeitungen zu machen haben, wenn ich hier herauskomme!«

»Ach, Sie und Ihr Gerede, was Sie alles tun wollen, wenn Sie hier rauskommen! Ihr Verbrecher geht alle auf dieselbe Tour! Ich werd den Doktor holen, aber nicht weil Sie's gesagt haben. Ich wollt ihn sowieso holen! Also Miss Vickers, vergessen Sie nicht, daß Sie nur eine halbe Stunde hier drin bleiben dürfen!« Mrs. Kaggs rauschte ab wie eine beleidigte Henne.

Jessie Van Tuyl lachte. »Wenn die Frau wüßte, wie recht sie hat! Ich kann ab und zu etwas durchsetzen, indem ich mit der Presse drohe, aber in Wirklichkeit, wenn ich herauskomme – – Welche Zeitung würde die Tatsache, daß es in den Vereinigten Staaten Sklaverei gibt und Folter dazu, für eine sensationelle Nachricht halten, wie ein Baseballspiel oder eine Erkältung von Coolidge? Sie haben doch nichts dagegen, daß ich Ann zu Ihnen sage? Ich bin eine von diesen furchtbar geselligen Radikalen. Wenn ich Methodistin wäre, würd ich zu allen Leuten ›Schwester‹ sagen. Ach, liebe, liebe Ann! Lassen Sie mich schwatzen! Seit sieben Monaten habe ich außer dem einen Besuch im Monat, der sich eine halbe Stunde mit mir unterhalten darf, während der Wärter zuhört, nichts anderes gehört und über nichts anderes gesprochen als darüber, daß Mehlwürmer im Brei waren – daß sie die kleine Inch gehauen haben, bis sie ohnmächtig war – daß Syphilitiker dieselbe Badewanne benutzen – daß Tuberkulöse nicht schnell genug nähen können – ›Gespräche der Verdammten in der Hölle‹! Und ein scheußlicher Krach mit der Bitlick, sooft ich einem hungernden Mädchen ein bißchen von meinem Essen abgeben will! Das hat man mir angetan, weil ich gesagt habe, die Arbeiter hätten ein Recht darauf, sich zu organisieren! So! Nun erzählen Sie mir, was es Neues gibt – den Skandal – den ordinären Klatsch! Ich bin wie ein Pelzjäger im hohen Norden, und Sie landen in einem Flugzeug … Was macht Malvina? Was hört man über die Anerkennung von Rußland? Wie ich mich danach sehne, wieder in diese schöne Welt hinauszukommen, und nur dazustehen und die frische Luft zu atmen und fünf Minuten eine Birke anzusehen, und dann los in die erste richtige Keilerei, die ich sehe!

 

Das kranke Mädel – die kleine Inch? Ach, das ist eine sehr schwere Verbrecherin! Sie ist eine kleine Farbige, in einer Hütte geboren, wo ihre Mutter in Sünden lebte – massenhaft Sünde und oft. Reine Psychose. Sie hat den schönen Namen Eglantine Inch. Eglantine: Heckenröschen. Hat als zweites Mädel bei einem reichen Tabakmakler in Pearlsburg gearbeitet. Drei Dollar die Woche. Ihr Freund brauchte mehr Geld – für seine Autoraten, natürlich. Sie hat einen Diamanten gestohlen, der fünfhundert Dollar wert war, für fünf verkauft – und fünf Jahre dafür gekriegt. Sie wird die fünf Jahre natürlich nicht überleben. Sie hat alles, was ein Mädel sich nur wünschen kann, um reuig und tugendhaft zu werden. Vermutlich für ihre Sünden hat ihr der HERR, ohne den kein Sperling vom Dache fällt, der sich aber merkwürdig wenig um Sträflinge zu kümmern scheint, ein bißchen Asthma geschickt, und außerdem vermute ich Syphilis. Der Doktor hat sich bisher noch nicht ganz entschließen können, einen Wassermann machen zu lassen. Er ist kein schlechter Kerl, der Doktor, aber ein schrecklicher Alkoholiker – darum muß er seine Zeit hier absitzen, wie Sie und ich!

Warum man sie nicht ins Lazarett schickt? Ja, mein liebes Kind, es gibt ein ziemlich anständiges Lazarett für die Männer, das habe ich mir wenigstens erzählen lassen, aber für die Frauen gibt's überhaupt keines, weil kein Platz da ist – die höchst rentable Hemdennäherei nimmt so viel Platz weg – und weil man hofft, irgendwann in den nächsten zehn Jahren eine nette neue eigene Separathölle für Frauen zu bekommen; wozu also Verbesserungen? Nein, alle kranken weiblichen Sträflinge werden in ihren Zellen behandelt und bekommen dasselbe schmierige Essen wie wir im Eßsaal – nur kälter und später aufgetragen natürlich.

 

Was Cap'n Waldo von Dr. Slenk weiß, daß der ihm so gefällig ist? Nichts, wirklich. Slenk ist die Sorte von liebenswürdigem Lumpen, von der man nie etwas weiß. Er stimmt einfach jedem zu, der eine tiefere Stimme hat als er. Er würde mir recht geben, ebenso wie er's mit dem Cap'n macht (der gute, alte, ehrliche, mordlustige, geile Cap'n!) wenn ich ihn hier hätte. Nebenbei, Dr. Slenk ist nicht Doktor der Medizin, wie er einen glauben läßt und wie die meisten Leute im Staat glauben, er ist Tierarzt und war früher Pferdehändler, und dann war er ein Jahr auf einer Osteopathenschule. Wie er hier reingekommen ist? Weil er mit allen Leuten einer Meinung war! Weil er allen Leuten die Füße geküßt hat. Hat er das mit Ihnen nicht gemacht? Ach, er ist sogar zu mir, einer Verbrecherin, beinah höflich gewesen! Und dann hat er auch einen Bruder, der ein reicher Bauunternehmer ist – der hat einen Teil des Gefängnisses gebaut.

 

Schiebungen? Natürlich wird hier geschoben. Alle Hemden und Unterzeuge, die wir hier machen; alle Overalls und Gußstücke und Stacheldraht, die die Männer in ihrer Abteilung machen, gehen auf Bestellung von Firmen draußen, die die Arbeit hier für fünfundvierzig Cent den Tag bekommen und dann die Waren unter falschen Firmenzeichen verkaufen, damit die Kunden nicht merken, daß es Sträflingsarbeit ist. Gutes Geschäft für die. Und für die Beamten hier. Ich habe keinen Beweis, aber ich habe gehört, daß Cap'n Waldo bei zweitausenddreihundert Dollar im Jahr und freier Station einen Packard fährt, zwei Boardinghäuser in Timgad Springs besitzt und seinen Sohn nach Yale auf die Universität gehen läßt. Und Mrs. Bitlick und Miss Peebee, die Werkstattaufseherin und Vorarbeiterin ist, sind Teilhaber in einem Schönheitssalon (Teilhaber, wohlgemerkt – daß sie nicht Kunden sind, sieht man ihnen an!) in Pearlsburg! Und die Art und Weise, wie die Peebee uns antreibt, daß wir unser Pensum in der Werkstatt fertigmachen und mehr Geld für die Kontraktfirmen verdienen, die Art, wie sie Wärter hereinholt, um uns schlagen und ins Loch schleppen zu lassen, wenn wir mit der Arbeit nicht fertig werden, das alles weist entschieden auf noch etwas mehr hin als bloß gewöhnliche Lust am Schinden – es muß dieses noch höher stehende Motiv sein, der Dollar! Wenn man bedenkt, daß die Vertragsabnehmer den Strom ganz und die Arbeit fast umsonst kriegen, weiß man, daß sie bestimmt einen fabelhaften Schnitt machen, und entweder verdienen Cap'n Waldo und Slenk und die Bitlick und die Peebee mit an dieser Schiebung, oder sie sind noch größere Idioten, als sie zu sein scheinen. Ach du lieber Gott! Manchmal bekomme ich Angst, daß das Gefängnis mich ein bißchen bitter macht! Hören Sie, Ann – ich hör die Kaggs kommen – halten Sie aus – halten Sie den Mund – bleiben Sie hier – die Welt braucht Sie als Zeugen – mir, der notorischen Roten, wird man nicht glauben – vielleicht wird man auf Sie hören und Ihnen glauben!

» Vielleicht. Gute Nacht, Liebe!«

 

Anns Tage waren nicht ganz ausgefüllt mit der Beobachtung von Grausamkeiten und Gesprächen darüber. Sie hatte Arbeit. Sie führte für Mrs. Bitlick die Bücher – sie hatte eine gute Ausbildung im Wohlfahrtshaus in Rochester gehabt, und auf jeden Fall konnte sie es besser als die Bitlick, die nicht sieben und sieben und sechs addieren und zweimal hintereinander die Summe neunzehn herausbekommen konnte. Sie hatte Abendkurse in Kochen, Bedienen bei Tisch, Zimmeraufräumen und Feinnäherei, außerdem Nachmittagsunterricht in Lesen, Schreiben, Rechnen und ganz elementarer Geographie und Geschichte für Frauen, von denen ein Drittel nicht über drei Schuljahre hinausgekommen, und ein Fünftel völlig analphabetisch war. Mrs. Bitlick klagte, es wäre »eine ganz blödsinnige Zeitverschwendung, daß die Behörde uns zwingt, diesen ganzen dummen Ziegen eine Unmenge Buchwissen beizubringen – es ist viel besser für sie, wenn sie in der Hemdennäherei arbeiten, und dann können sie gute Stellen kriegen, wenn sie rauskommen, und vielleicht zwölf Dollar die Woche verdienen und anständig sein.« Aber Mrs. Windelskate und mehrere Pastoren und Redakteure hatten darauf bestanden, daß den Insassen der Lehrstoff der ersten vier Schulklassen mit Gewalt beigebracht werden müßte, und diesen zuverlässigen Ratgebern hatte die Gesetzgebung ein williges Ohr geliehen.

Ann half bei der Aufsicht in der Küche; das bedeutete, daß sie die Küchenarbeiterinnen in eine gewisse Sauberkeit hineinkujonierte. Sie war nicht entsetzt über ihre fröhliche Dreckigkeit; bei der Wohlfahrts-Arbeit hatte sie gelernt, daß Sauberkeit kein angeborenes Talent, sondern nächst dem Yachtsport die unnatürlichste und teuerste Form des Luxus ist.

Herumgejagt, bis ihr der Kopf brummte, eingesperrt im Büro, in den Unterrichtsräumen und den Küchen, konnte sie (darüber war sie sich auch ganz im klaren) drei Viertel von dem, was im Gefängnis vorging, nicht sehen. Sie kam sich vor, als lebte sie in einem der von den englischen Detektivschriftstellern so sehr geliebten alten, riesigen Häuser an der See, in denen Leute hinter verschlossenen Türen ermordet werden, Schreie aus leeren Dachkammern aufgellen und in der Dämmerung heimliche Tritte rascheln, während die Heldin in ihrem Bett erschauernd überlegt, ob das alles ganz in Ordnung sei.

Im Korridor sah sie einmal, wie zwei Aufseher ein schreiendes Mädchen, Gladys Stout, eine Prostituierte, aus der Hemdennäherei zur Kellertreppe schleppten. Eine Stunde später sah sie Gladys taumelnd heraufkommen. Ihre Jacke war zerfetzt, und quer über die Schultern hatte sie einen klaffenden Striemen. Ann erkundigte sich bei Miss Peebee, der Werkstatt-Aufseherin, aber die Dame wußte von nichts – oh, von gar nichts.

Ann hatte noch nie eine Möglichkeit entdeckt, das Verließ zu sehen – das »Loch« – vier völlig dunkle Zellen gleich geschlossenen Grabkammern in einem unterirdischen Raum unter dem Keller, aber sie hatte von da irrsinniges Schreien gehört.

Sie gewöhnte sich daran, Mädchen in den Strafzellen, in den »Einzelnen«, zu sehen. Sie waren wie die gewöhnlichen Zellen, also nicht noch scheußlicher als die anderen, aber sie waren abgetrennt. Mädchen, die ihr Tagespensum nicht fertig bekamen, die den Aufsehern Antworten gaben, die im Eßsaal oder bei der Prozession von der Werkstatt zu den Zellen sprachen, wurden hier eingesperrt, für einen Tag, eine Woche, einen Monat, bei Wasser und Brot, ohne die Stunde am Abend, in der sie Sprecherlaubnis hatten, ohne Briefe, ohne Bücher – sie wurden nur allgemein gebessert und für die Rückkehr in die Gesellschaft vorbereitet, indem man sie in aller Ruhe in einen Zustand verängstigten Stumpfsinns trieb.

Wenn Ann schon so wenig sah, was mochten wohl die Besucher sehen, die sich einmal in der Woche das Gefängnis zeigen ließen und die Sensation genossen, sich Verbrecher anzusehen? An einem freien Nachmittag, frei von ihrer ekelhaft schmucken Uniform, schloß sie sich der wöchentlichen Besichtigungstour an. Bis dahin hatte sie nicht geahnt, in was für einem Heiligtum sie lebte. Sie ging neben einer jungen Frau, die Gladys Stout ähnlich sah und kichernd sagte: »Och, sieh mal den Kerl mit dem großen Kinn, das ist bestimmt ein Mörder.« (Der Kerl war zufällig ein Dentist, der, als er arbeitslos und seine Frau krank war, etwas Gold gestohlen hatte.) Sie wurden von einem gut aussehenden freundlichen Wärter durch die Rosengärten in die vornehme Halle des Verwaltungsgebäudes und das prächtige Büro des Direktors geführt, durch den Zellenblock für Männer, durch die Overallwerkstatt – sie war modern und beinah sauber, und die veraltete Gießerei zeigte der Wärter nicht – durch die Bibliothek für Männer, einen hübschen Raum mit Predigtbüchern und den Romanen von Zane Grey, Harold Bell Wright und Temple Bailey – in die Kapelle mit ihrem schönen Mosaik und zu dem Turnplatz für Männer mit seinen großartigen Barren und Rudermaschinen, die die Gefangenen regelmäßig drei Stunden in der Woche benutzen durften, vorausgesetzt daß sie alle Verordnungen vollständig eingehalten hatten.

»So!« sagte der Wärter, als er die Leute zum Tor zurückbrachte. »Wir behandeln die Sträflinge nicht so schlecht, was?«

»Ganz entschieden nicht. Allerhand! Es gibt eine Menge anständige Menschen draußen, die froh wären, wenn's ihnen so gut ginge!« sagte ein Baptist.

»Aber wollen Sie uns nicht die Frauenabteilung des Gefängnisses zeigen?« fragte ein Campbellit.

»Die wird renoviert, grade jetzt, deswegen können wir sie nicht zeigen«, antwortete der Wärter. »Aber sie ist genau so schön – die Frauen haben einen Turnsaal, schöne Bibliothek, große Unterrichtsräume, eleganten Speisesaal – ich kann Ihnen sagen, ne richtige Universität!«

»Wenn Sie meine Ansicht hören wollen«, sagte ein Presbyterianer; »Sie behandeln diese Gauner zu gut!«

»Tja, das kann schon sein. Aber wir haben sie fest in der Hand. Wir bringen ihnen DISZIPLIN bei. Keine Albernheiten … Oh! Danke!« sagte der Wärter, als ihm ein Anglikaner einen Vierteldollar gab.

 

Von der Hemdennäherei, im Stockwerk unter den Zellen, konnte Ann nur etwas sehen, wenn sie gelegentlich ungebeten eindrang. Miss Peebee, die Werkstattaufseherin, starrte sie immer wütend an und hielt ihr darüber eine Rede mit Bibelsprüchen. (Miss Peebee hatte an jedem Sabbatnachmittag eine kleine ernsthafte Bibelstunde für Mädchen, darunter Birdie Wallop.) Aber Ann ließ nicht nach.

Niemals vorher hatte sie eine Arbeitsstelle gesehen, auf der es nicht den geringsten Stolz auf die Arbeit gab, keine Befriedigung über eine erledigte Aufgabe und keine Kameradschaft mit den andern Arbeitern. Das Gefängnis lehrte seine Schüler, daß alles andere, und da möge das Verbrechen auch noch so gefährlich sein, disziplinierter Arbeit vorzuziehen sei.

Die elektrischen Nähmaschinen in der Hemdenwerkstatt waren unmodern. Die Nadeln waren ungeschützt; oft wurden den Frauen die Hände gequetscht. Der lange dröhnende Raum bekam Licht nur durch kleine Fenster hoch oben an der Wand und durch verbraucht aussehende elektrische Lampen, und was die Ventilation anging – die gab es nicht. Die Frauen wurden oft an der Maschine ohnmächtig und dann mit kaltem Wasser und Quälereien wieder auf die Beine gebracht. Keine Unterhaltung, welcher Art immer, war gestattet, nur mit der Vorarbeiterin durfte gesprochen werden, über Arbeitsdinge. Miss Peebee saß auf einer hohen Plattform und klopfte mit einem leichten Rohrstock. Sie gebrauchte ihn oft, zur Erziehung der kleinen Farbigen, der Eglantine Inch, die gern sang. Manchmal bewegte Eglantine die Lippen, wenn sie, vom Maschinenlärm gedeckt, vor sich hin sang, und dann war Miss Peebee überzeugt, Eglantine spräche mit dem Mädchen an der nächsten Maschine, kam herunter und erzog sie durch Stockprügel auf die Arme. Aber Eglantine hatte Glück; sie wurde selten in die Einzelzelle gesteckt; sie war eine zu fixe Arbeiterin und produzierte zu viele Hemden für die Vertragsfirmen, trotz all ihren Asthmaanfällen.

Aber Josephine Filson, eine Mörderin, die ihr eigenes uneheliches Kind umgebracht hatte, war immer im Pech. Sie bewegte sich langsam, sie hatte einen unsicheren Blick, sie schien niemals den richtigen Stolz darauf aufzubringen, daß sie grobe Baumwollhemden nähen durfte; und in ihrem Fall war, wie Miss Peebee auseinandersetzte, Nachlässigkeit unentschuldbar, denn die Filson war Lehrerin gewesen und hatte Chancen gehabt.

Ann kam zur Zeit des Arbeitsschlusses in die Werkstatt – plötzliches dröhnendes Schweigen schlug ihr ins Gesicht, als die Maschinen abgestellt wurden. Die meisten Frauen gingen im Gänsemarsch hinaus. Wer mit seiner Arbeit nicht fertig geworden war, wurde zur Vermahnung zurückbehalten. Ein männlicher Wärter mit Totschläger war zu diesem Zweck hinbeordert worden. Miss Peebee fuchtelte mit ihrem Stock herum und kreischte Josephine Filson an: »Das ist jetzt der zweite Tag, daß Sie zu wenig haben! Schämen Sie sich denn gar nicht! In die Einzelzelle mit Ihnen!«

»Ach, nein, bitte, Miss Peebee!« bettelte die Filson. »Ich hab mir solche Mühe gegeben – ich hab Kopfweh gehabt – morgen werd ich auch mein Pensum machen, ach, ganz bestimmt! Bitte nicht in die Einzelzelle! Da darf man nicht lesen, und ich bin gerade mitten in so einem schönen Buch, von einem Lord –«

Miss Peebee schrie den Wärter an: »In die Einzelzelle mit ihr!«

Das Beefsteak in Blau trat vor und gähnte. Miss Filson schrie und klammerte sich mit dürren Fingern und abgebrochenen Nägeln an einer Nähmaschine fest. Er riß sie los und zog mit ihr ab; Miss Peebee schnatterte auf Ann los: »Was die sich denkt! Bildet sich ein, sie kann ihre Arbeit liegen lassen und dann noch lesen! Nicht für möglich halten sollte man's!«

Am selben Abend ließ sich Ann von Cap'n Waldo einen Erlaubnisschein dafür geben, Miss Filson in ihrer Einzelzelle aufzusuchen.

Es sah ebenso aus wie in Miss Filsons eigener heimatlicher Zelle, aber sie hatte keine Nahrung außer Brot und Wasser, und alle Schätze ihres Haushalts, die ihr eine lebenslängliche Gefangenschaft ertragen halfen, hatte man ihr fortgenommen: ein Paar Pantoffeln, eine Ansichtspostkarte von Pearlsburg, ein Meter roten Bandes, und ein Staubtuch, das aus der Hemdennäherei gestohlen war.

 

»Entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit«, sagte Josephine Filson. »Ich dachte, Sie wären so wie die anderen Hausmütter, Miss Vickers; entweder kommen sie einen ausschimpfen, weil man seine Arbeit nicht fertiggemacht hat – und ich bin heute fertig geworden, aber die arme kleine Eglantine Inch hat ein paar von meinem Haufen geklaut, und ich konnte sie doch nicht verpetzen, sie ist ja verrückt, das arme kleine Ding – oder sie kommen und wollen einem was von Religion erzählen: daß man sich versündigt hat und sich wieder mit Gott aussöhnen muß.

Früher hab ich mir Mühe gegeben, eine gute Christin zu sein und Gott zu fürchten. Aber seit ich hier bin und Miss Peebee und Mrs. Bitlick und Dr. Slenk gesehen habe – die sagen alle von sich, sie wären gute Christen, und geben Unterricht in der Sonntagsschule, und lieber als wie die möcht ich so sein wie die Schlimmste hier, wie diese Kitty Cognac, die mit Kokain handelt. Ob die Priester so viel verstehen? Die haben nie neun Tage lang auf dem nassen Zement in einer Dunkelzelle gelegen … Damals hab ich zu Gott gebetet, er sollte kommen und mich retten. Er hat nie geantwortet. Ich glaube, Gott ist so wie Verwandte – wenn man ihn braucht, schmeißt er einen raus, damit man ihm keine Schande macht.

Ja, ich hab ein Kind gehabt, und ich war nicht mal verheiratet. Ich war Lehrerin in Coon Hollow. Ich hatte sechzehn Schüler und bekam fünfundzwanzig Dollar im Monat und Freitisch reihum. Es war ziemlich hoch – mächtig kalt. Manchmal stand ich um sechs auf und ging durch den Schnee und machte Feuer und fegte das Schulzimmer aus. Es hat mir nichts ausgemacht; ich hatte ein paar wirklich kluge Kinder darunter. Da war ein reizender Junge dabei, der war so klug, dem hab ich abends immer Stunden gegeben, und jetzt ist er auf der Staatsuniversität und kommt wirklich gut vorwärts! Ich hab gern Unterricht gegeben. Ich bin nicht hübsch, das können Sie ja sehen. Die Jungens haben sich nie viel aus mir gemacht, wie ich noch ein Mädel war. Die haben mir nie viel zugehört. Aber meine Schüler haben mir zugehört, und alle Augenblicke haben sie mir Geschenke und so was mitgebracht – Goldrute und Dattelpflaumen und so. Ich hab schrecklich gern unterrichtet.

Aber ich hab nie einen Freund gehabt – bis damals. Ich wohnte zwei Monate lang an der North Road – da, wo man vom Hollow heraufkommt – ach, Sie kennen Coon Hollow nicht, natürlich; es ist wirklich hübsch da; bevor ich meinen Glauben verlor, dachte ich immer, die Berge sähen aus wie ein Tempel. Also, zuerst wohnte ich bei Ad Titus, und Ed, das war Ads ältester Sohn, ein großer kräftiger Junge, erst zwanzig, aber er und ich, wir machten viel Unsinn zusammen und tanzten. Ich hab nie viel angegeben, aber ich hab gern getanzt – das ist so ein schönes Gefühl, wenn alle Muskeln sich so geschmeidig bewegen, ach, es ist schöner wie Reiten. Es ist komisch, nicht, hier in der Zelle von Tanzen und Reiten zu sprechen!

Ja, und Ed hatte sich mit seinem Mädchen verzankt – das war das Mädel von Lora Dimond, die unten in Johnson's Forge wohnte – und natürlich, wo er doch in dem verdrehten romantischen Alter war, dachte er, er könnte nie ohne Mädel sein. ›Sei nicht so verdreht‹, hab ich immer zu ihm gesagt, wenn wir da abends in Ads Küche saßen – das war ein großer schöner Raum, mit einem richtigen alten Kamin, und so sauber und so – ach, Mis' Titus war tot umgefallen, wenn sie die Schwaben hier gesehen hätte! Ich hab Ed gesagt: ›Du arbeite mal schön, und eines Tages wirst du Bankier oder Rechtsanwalt sein, das kann schon kommen, und dann kannst du dir die Mädchen aussuchen, aber jetzt mußt du nicht dran denken‹, das hab ich ihm gesagt. Aber je mehr ich geredet habe, desto fester war er entschlossen, sich in mich zu verlieben – und ich war so alt und häßlich und dumm, zwölf Jahr älter wie er! Ich hab ihn einfach ausgelacht, aber einmal am Abend, als seine Eltern aus waren und wir Unsinn machten, und draußen bellte der Hund, da kriegt der Ed mich um die Taille zu fassen, und er hat mich so sehr geküßt – ich weiß heut noch nicht, wie das kam – es war gerade so, als wenn ich ohnmächtig geworden wäre. Ich war niemals vorher so richtig geküßt worden. Und da wurde ich sozusagen verrückt. Ich konnte Tag und Nacht an nichts anderes denken wie an ihn – da stand ich nun in der Schule und zeichnete den Kindern eine Karte von Europa auf – ich hab immer gern Karten gezeichnet, all die roten und grünen und gelben Kreiden, und ich konnte wirklich ganz gut Geographie; ich wußte solche Sachen wie die Flüsse von Rumänien, und ich glaube, die Kinder hatten es auch gern, weil ich mir immer so gewünscht hatte, zu reisen und fremde Städte zu sehen und so; und ich hab jeden Monat beim Doktor das National Geographic gelesen, der hat sich's immer gehalten, und so konnt ich den Kindern von Venedig und den Kanälen und allen den Sachen erzählen, und ich glaube, es hat ihnen Spaß gemacht. Aber was ich sagen wollte, ich zeichnete da an der Karte, aber die ganze Zeit mußte ich an Ed denken – seine großen Hände und seine Stimme, oh, die war so tief! – und seine Art zu lachen, und man könnt ihn auf die Brust hauen, den ganzen Tag, so sehr man wollte, und ihm blieb kein bißchen die Luft weg! Und ich konnte mir einfach nicht denken, daß es unrecht wäre, an ihn zu denken; es war, als hätt ich einen vergrabenen Schatz gefunden, und all die wunderbaren Sachen, die ich damit machen konnte.

Und als er dann mal in der Nacht kam und in mein Bett kroch, kam es mir nicht unrecht vor, wirklich nicht; wir waren so glücklich und liebten uns so. Oh, ich war ein bißchen erschreckt und überrascht und so; ich hatte gar nicht gewußt, daß es so wäre. Aber trotzdem, es machte mich so glücklich, daran zu denken, daß ich ihn glücklich machte, und mit der Zeit fand ich es auch schön – ich war so hungrig nach Liebe gewesen, und – komisch! – ich hatte gar nicht richtig gewußt, daß ich es war!

Und als ich dann weiter zu Bart Kelley und dann zu der alten Mis' Clabber zog, war ich immer nur eine Meile oder so von Ads Hof entfernt, und Ed kam jede Nacht und rief wie eine Eule, und ich schlich mich aus dem Haus, und dann lagen wir neben einander im Wald, und ich hielt seine Hand, und wir sangen leise so alte Lieder, ›Es fuhr ein Matrose wohl über das Meer‹ oder ›Jugendzeit – Goldne Zeit‹, oder wir sprachen davon, wie wir etwas Geld aufbringen wollten und heiraten und nach Kalifornien gehen.

Er arbeitete bei seinem Vater, aber er dachte, er könnt es durchsetzen und irgendwo in einer Garage arbeiten, und wir könnten heiraten – er war wirklich ein guter Mechaniker, aber er konnte nirgends eine Stellung kriegen, da hab ich ihm gesagt: ›Sei nicht verdreht, Ed‹, hab ich gesagt, ›ich bin viel zu alt für dich‹, aber er hat gesagt, ach, er war so reizend zu mir, er sagte: ›Jo, du hast mehr los als die ganzen kleinen Mädels hier.‹ Oh, vielleicht war's ihm auch wirklich ganz ernst damit. Ich red mir das gern ein.

Wir hatten ein Spiel – wir sahen nach den Sternen, durch die Baumwipfel durch (ich hab ein bißchen Astronomie gelernt, aber viel verstanden hab ich wohl nicht davon) – und wir malten uns aus, ach, vielleicht sind die Sterne da Welten gradeso wie unsere, aber tausendmal größer, und dann sind vielleicht die Leute da fünfzehnhundert Meter groß, und vielleicht wohnen sie in Städten mit goldenen Mauern, die dreißigtausend Meter dick sind. ›Paß mal auf, Ed‹, sagte ich dann, ›vielleicht, wenn unsere Augen scharf genug sind, können wir die goldenen Städte wirklich sehen. Da ist der Stern – nichts ist zwischen uns und ihm!‹ Ich weiß. Ich war bloß eine simple, verdrehte, lächerliche alte Jungfer, verliebt in einen Jungen, der beinah jung genug war, um mein Sohn zu sein. Es muß wirklich komisch ausgesehen haben. Von goldenen Städten auf den Sternen zu reden – und dabei ein Kind zu erwarten.

Als ich es merkte und ihm sagte, war er richtig nett; er hielt zu mir. (Wenn der hier wäre, aber Gott sei Dank, daß er's nicht ist, er würde den Cap'n Waldo und diesen rothaarigen Wärter umbringen, wenn er sähe, wie sie rankommen und mit ihren dreckigen Händen den Mädels an die Brust fassen!) Aber wir hatten beide gar kein Geld – ich hatte sechzig Dollar gespart, aber davon hatt ich ihm eine goldene Uhr mit Kette gekauft und ihm gesagt, er soll seinen Leuten erzählen, er hätte sie auf der Straße gefunden.

Während wir uns überlegten, was wir machen sollten, kamen die Sommerferien. Sonst arbeitete ich im Sommer immer im Notch House und bediente bei Tisch, aber jetzt, wo ich das Kind hatte, mußte ich mich immer übergeben, jeden Tag, und da blieb ich bei Onkel Charley, das war ein methodistischer Diakon, aber wirklich ein lieber guter Mensch, und der kriegte das raus mit dem Kind, und er hat mich nicht rausgeworfen, aber seine zweite Frau kam dahinter und drohte mir, sie wollte mich ins Gefängnis bringen, und da mußte Charley mich gehen lassen, und dann erfuhren Eds Leute davon, und die wurden ganz wild, und schickten Ed weg nach Pearlsburg – sie holten tatsächlich den Polizisten und redeten Ed ein, sie würden ihn in die Besserungsanstalt bringen, wenn er nicht wegginge und fortbliebe.

Er schrieb mir. Er wollte, daß ich zu ihm käme. Er sagte, wir würden schon irgendwie durchkommen. Und ich wollte so gern – ich wurde ganz verrückt, wenn ich mir das ausmalte, er und ich und das Kind in einem hübschen kleinen Haus mit Bildern, und wie wir drei Sonntags spazierengehen. Aber dann – – Ich wohnte bei einer Kleinbauernfamilie, auf der anderen Seite von der Bahn, es waren geizige Leute; Onkel Charley hatte das Geld gegeben. Dann nahmen mich Charleys Frau und der Prediger und noch ein paar andere vor und redeten mir ein, ich würde Eds Leben ruinieren, wenn ich ihn heirate, und ich weiß nicht, vielleicht hatten sie recht, und das wollte ich ja nicht.

Da bin ich dann weggelaufen, damit Ed mich nicht finden und sich nicht sein Leben ruinieren konnte. Ich ging rauf in die Berge. Ich blieb bei ein paar Leuten – das waren so richtige arme Weiße, Lumpen, das schon, aber zu mir waren sie schrecklich nett. Dann versuchte ich weiterzugehen. Ich dachte, ich würde an ein Krankenhaus oder so was kommen – soviel ich weiß, lassen die arme Leute umsonst rein, manchmal. Aber das Kind kam früher, als ich dachte. Ich bekam es oben im Gebirge, und nur eine alte Negerdame, die da oben wohnte, half mir dabei – sie war neunzig, und sie konnte mir nicht viel helfen – und dann hatte sie selbst so wenig, ich konnte nicht mehr annehmen, und dann wanderte ich weiter mit dem Kind im Arm, und da kam ich an eine verlassene Hütte, und da saß ich – ich weiß nicht wie lang; ich glaube, ich war nicht ganz bei mir – vielleicht vier oder fünf Tage lang, und als ich zu mir kam, war das Kind tot, es lag in einer Pfütze – wirklich, ich weiß nicht, ob ich es dahingelegt hatte oder irgend jemand, der vorbeikam. Aber dann kamen die Polizisten und sagten, ich war eine Mörderin! Ich! Und der Richter – Richter Tightam; er ist ein berühmter Taubenschütze, im ganzen Staat bekannt, ich glaube, Sie müssen von ihm gehört haben – der sagte, bei mir war es besonders schlimm, weil ich eine ehrenvolle und verantwortliche Stellung gehabt hätte, und er gab mir lebenslänglich. Noch nicht einmal jetzt kann ich mir's ganz vorstellen – ich werde hier nie wieder herauskommen.

Aber Ed ist jetzt verheiratet und hat zwei kleine Kinder. Onkel Charley schreibt, es ginge ihm gut.

Aber – – Sie sind doch Beamtin. Könnten Sie's nicht mal einrichten, daß ich nur einmal, eine Stunde lang, draußen spaziergehen könnte?«

 

Als Ann von Josephine Filsons Zelle fortging, sah sie ihre Tochter Pride.

»Dafür bin ich hier. Darum muß ich hier bleiben. Ich habe auch mein Kind umgebracht«, sagte sie.


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