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15

Als sie an jenem zweiten Abend ins Hotel Edmond (ein grotesker Name für Liebende!) kam, war sie froh, daß Lafe ihr sagen ließ, sie möchte gleich hinaufkommen. Sie hätte es nicht ertragen können, ihn unter den Blicken der wartenden Damen in der Halle zu begrüßen. Und sie hätte es nicht ertragen können, wenn er glatt und höflich gewesen wäre, als sie an die Tür seines Zimmers klopfte. Wenn er geschwatzt hätte, wäre sie unverschämt gegen ihn geworden; hätte er ihr augenblicklich etwas zum Trinken aufgenötigt, so hätte sie – es wäre ihr unmöglich gewesen, es nicht zu tun – irgendeinen höhnischen Witz darüber gemacht, daß er »seinen Mädels fleißig zutrinke«.

Aber er sagte gar nichts. Er sah bleich aus und hatte einen flehenden Ausdruck. Wortlos, ein wenig zitternd, umarmte er sie, küßte sie, führte sie an der Hand zu dem verbeulten Diwan und setzte sich, den Arm vertrauensvoll um sie legend, schweigend neben sie. Sie hatte eine Nacht und einen Tag der Erregung durchgemacht, und nun ruhte sie in dem Gefühl seiner Gegenwart; sein Kuß und ihr Gegenkuß schienen Stücke einer ewigen Beziehung zu sein. Als sie zusammen auf die Couch sanken, war er nicht täppisch und technisch und albern wie Glenn Hargis. Er lag, seine Hand unter ihrer Wange, ruhig neben ihr und sprach sehr ruhig von Dingen, die sie eines Tages tun könnten … Zusammen in London studieren, mit einer kleinen Wohnung in Bloomsbury und Spaziergängen durch High Wycombe … Die landwirtschaftlichen Verhältnisse im Mittelwesten und ihre Zukunft untersuchen; nicht bloß Diagramme, sondern etwas wirklich Menschliches, das als klassisch erhalten bliebe wie die Arbeit Bryces.

Nicht sie, sondern er merkte, daß es schon neun Uhr war. Ohne sich ungeschickt mit Fragen aufzuhalten, ob sie ausgehen wolle, bestellte er Essen. Und als der Kellner das letzte Tablett hinausgetragen hatte, schmiegte sie sich mit solcher Selbstverständlichkeit in seine Arme, als ob sie schon seit vielen Monaten so vertraut mit einander wären. So natürlich, so süß, so frei von aller Unrast, dachte sie verträumt, während seine niemals ruhenden Finger die Umrisse ihrer Lippen, ihrer Kehle abtasteten.

Zehn Tage lang – er hatte mit Hilfe irgendeiner Zauberei, die er niemals erklärte, seinen Urlaub verlängert – waren sie täglich zu den verschiedensten Stunden und den größten Teil aller Nächte zusammen. Wenn man im Wohlfahrtshaus ein wenig erstaunt über die Verspätungen der sonst untadelhaft pünktlichen Miss Vickers war, so sprach niemand darüber, denn sie war sehr kurz angebunden mit spaßhaften vorurteilslosen Menschenfreunden, die gern klatschten.

Es war nur um so aufregender, sich sechs Stunden, nachdem man mit einem Gefühl gefährlicher Heimlichkeit zum Lunch in einem koscheren Restaurant gewesen war, wieder im Hotel Edmond oder einem italienischen Café oder in der kosmopolitischen, aber höflichen Atmosphäre des Brevoort zum Essen zu treffen. In diesen sechs Stunden hatten sie an so vieles gedacht, was gesagt werden mußte, daß sie sich nur durch die tugendhafteste Selbstbeherrschung davon abhalten konnten, einander anzurufen; bedeutende, aufregende Dinge, etwa der folgenden Art: sie habe eine absonderliche Ähnlichkeit mit Ethel Barrymore; sie müsse wirklich Ethan Frome lesen; selbstverständlich könne er sich, ohne seiner Selbstachtung zu nahe zu treten, zum Theater- und Kabarettkorps versetzen lassen; es sei Unsinn, daß sie daran denke, regelmäßige Gymnastikstunden zu nehmen – ihre Fesseln würden immer schmal bleiben, und er halte überhaupt gar nicht so viel von diesen mageren Hühnern; Beethovens Größe verhindere einen nicht daran, Mozart zu würdigen; Tanks müßten schrecklicher sein als Maschinengewehrfeuer; die I.W.W.'s hätten mehr Logik als die American Federation of Labor; Mrs. Buzon Waverley von der Cleveland Federated Charities sei eine schreckliche Politikerin und Schmeichlerin; Lafes purpurrot-grüner Pyjama sei scheußlich und sehr komisch; sie hätten Sehnsucht danach, in die Vermonter Berge zu gehen … es gebe, wie ihnen über Tischtüchern, die mit Zigarettenasche beschmiert waren, klar wurde, außer ihren eigenen merkwürdigen Persönlichkeiten wirklich kein Gesprächsthema, das ihrer ernsthaften Aufmerksamkeit wert sei.

 

Sie traf sich mit ihm in einem schäbigen Toreingang, in einer schäbigen und alten und lärmenden Stadt, an einem nebligen Nachmittag, in dessen Dunst die Straßenlaternen schwammen; das Ganze hatte etwas Ungehöriges und Erregendes; zusammen glitten sie fort und tranken Tee in einem Versteck.

Es war in der Cedar Street, wo er rätselhafte Geschäfte mit einem Effektenmakler hatte, in einem Viertel New Yorks, in dem an schiefergrauen Nachmittagen die gewundenen Straßen eine Erinnerung an London bewahrten.

Er blieb auf den heiseren Anruf einer Bettlerin mit einem Korb Brezeln stehen und ließ einen Vierteldollar in ihre Hand fallen.

»Das ist ja etwas Wunderbares für einen Fürsorger von Beruf! Schmarotzende Bettler ermutigen!« sagte sie.

»Ich weiß! Ich wollte ganz sinnlos jemand etwas geben – wie man Opferwein vor dem Altar ausgießt – um den Göttern zu sagen, wie glücklich ich bin, daß ich dich gefunden habe!«

 

Einmal kam sie, als sie ihn am Abend erst um neun Uhr sehen konnte, früh am Nachmittag zu ihm und brachte ihm rote Rosen. Er sah sie verwundert an; in seinen Augen standen Tränen. »Mir hat noch nie ein Mädel Blumen gebracht! Ich hab nie in meinem Leben gehört, daß eine Frau einem Mann Blumen bringt!« rief er.

 

Sie wollten im Wohnzimmer seiner kleinen Wohnung Änderungen machen, damit es etwas behaglicher würde. Sie hatten kriegerische Konferenzen darüber, ob der Diwan der Länge nach an der Wand, neben der Heizung, stehen bleiben sollte. Keuchend und stöhnend, »Nimm dein Ende rum!« knurrend, hoben sie ihn auf und versuchten es mit ihm in einer Ecke neben der Tür.

Hoffnungslos!

Das Wohnzimmer hatte eben seine Eigenart, wie ein Fordwagen, um die nicht herumzukommen war, was immer sie taten. Aber sie kaufte für ihn in der Mulberry Street ein Kaffeeservice aus Majolika, und daraus tranken sie Kaffee, während er jubelte: »Denk doch bloß! Das ist das allererste komische Zuhause, das wir in der ganzen Welt haben!«

 

Sie hatte einmal irgendwo bei H. G. Wells die Worte »die netten kleinen Schlampereien des Lebens« gelesen und damals voll der Anmaßung Point Royals und Waubanakees höhnisch den Mund schief gezogen. Jetzt verstand sie das. Sie lachte über Lafes Socken – diese lächerlichen Stücke, die an fadenscheinigen, jedoch seinerzeit üppigen roten Haltern hingen. Sie lachte über die jungenshafte Lächerlichkeit eines »Sport«-Unterhemdes mit dem kurzen Hinterende. Sie lachte darüber, wie sich in ihm die altjüngferliche Pedanterie, mit der er – darin war er genau so wie sie – Kamm, Bürsten, Nagelscheren und Schuhanzieher in genau ausgerichteten Parallelen auf der Kommode anordnete, mit der männlichen Eigenschaft vereinigte, die Zigarettenasche achtlos auf den Fußboden zu streuen.

Lafe war ein großer Freund hübscher Kleinigkeiten. Ann ließ sich in sehr netter Weise von seinem goldenen Zigarettenetui imponieren, von seiner Uhrkette aus Gold und Platin, von seinem Ring mit dem Rubinsolitaire, seinen importierten englischen Militärbürsten, seinem Leder- und Kristallflakon, seinem schmalen damaszierten Taschenmesser aus Schweden. Was sie aber wirklich rührte, waren seine durchaus nicht hübschen alten Pantoffeln – roter Saffian, abgeschabt, die Hinterteile auf die Hacken niedergetreten. »Ach, du armer Kerl! Ich werde eine gute Hausfrau sein und dir zu Weihnachten neue Pantoffel schicken«, rief sie, die Pantoffel mit einer geradezu lächerlichen Geste an die Brust drückend … Zusammenzuckend hielt sie ein. Wo wird er nächste Weihnachten sein? Nirgends, wo Männer Pantoffeln tragen!

 

Sie hatte gedacht, sie hatte es sogar gegenüber Eula Towers und Pat Bramble ausgesprochen, daß das Rasieren eines Mannes etwas widerlich Häßliches an sich haben müsse. Wenn sie jemals heiraten sollte, müßten alle diese kläglichen Dinge abseits, im Badezimmer, erledigt werden! Jetzt aber lächelte sie, wenn sie zusah, wie er sich Seifenschaum auf seine schwarzen Stoppeln schmierte, den Kopf komisch zur Seite neigte und, während er schabte, die Haut mit den Fingern der linken Hand spannte, ohne den Streit zu unterbrechen, den er mit ihr über Vachel Lindsay führte. Gute, harte Männerstoppeln – weicher Schaum von Rasierseife – humorlose Männerbegeisterungen!

Und sie lernte gewisse unanständige Worte, bei deren Gebrauch sie zusammenzuckte, während er sie auslachte.

Nicht sie, er sprach vom Heiraten.

»Gehen wir los und tun wir's gleich jetzt!« rief er. »Sollen wir uns wie vernünftige Leute von einem Friedensrichter trauen lassen oder von einem Rabbi oder von einem Presbyterianergeistlichen oder – – Es wär doch ein Heidenspaß, eine große Kiste daraus zu machen und sich von einem hochkirchlichen anglikanistischen Pfarrer zusammentun zu lassen, der sein nettes Kleidchen an hat – –«

»Anglikanisch!«

»Eh?«

»Anglikanistisch ist Unsinn, es heißt anglikanisch – anglikanische Kirche und so weiter.«

»Schön, mein Herz! Du kannst von einem Kleinstadtjuden nicht erwarten, daß er alle Feinheiten dieses Abnehmespiels versteht, das ihr Religion nennt! Aber ich wollte sagen, heiraten wir in der St.-Sowieso-Kirche mit dem ganzen Krampf, der dazu gehört. Ich glaube, die Anglikaner würden uns trauen. Wir sind beide nicht geschieden – bis jetzt! Und wir haben nur in bescheidenem Maße Unzucht getrieben. Und stell dir die Sensation vor. Wir werden alle Leute einladen, die wir kennen. Es wär ein schönes Theater, alle diese guten gewissenhaften Agnostiker in einer feinen anglikanistischen Kirche beisammen zu sehen!«

»Liebling! Sei ernsthaft.«

»Bin ich!«

»Bist du sicher, daß du mich heiraten willst?«

»Bin ich!«

»Woher weißt du das?«

»Ich bete dich an!«

»Woher weißt du das?«

»Ach Gott, darauf kann man nicht antworten, es ist eben so! Aber mir scheint – – Willst du mich heiraten, Ann?«

»Ich weiß nicht genau. Es würde mich vor Langeweile bewahren.«

»Dann drauf und los, auf alles gefaßt!«

»Nein, bitte, denk mal ernsthaft nach. Du gehst nach Frankreich, und dort drüben wirst du großartige Amerikanerinnen kennenlernen, die Fahrerinnen bei der Sanität sind, und hübsche Französinnen. Dann wirst du wütend sein, wenn du an mich gebunden bist. Du wirst sagen: ›Ich hab sie eigentlich nie gekannt. Ich war einfach wahnsinnig vor Kriegshysterie.‹ Dann wirst du mich hassen.«

»Niemals! Ich weiß, was ich will!«

»Aber du hast auch schon früher Mädels gern gehabt, äh, sehr gern gehabt, nicht wahr?«

»Ach – ja – nein, nicht richtig. Jedenfalls glaub ich, daß das in Zukunft ausgeschlossen ist, wenigstens, wenn ich deiner sicher bin! Und außerdem – du weißt, es ist möglich, daß ich nicht zurückkomme.«

»Oh!«

»Aber möglich ist es doch, das weißt du. Rechnen müssen wir damit. Und dir könnte auch was passieren. Wir scheinen sehr unvorsichtig gewesen zu sein, und – ach, ich glaube, ich denke wohl radikal genug über den ganzen Quatsch von der Heiligkeit der Ehe, aber es wäre ein bißchen schwer für einen kleinen Jungen, wenn er seinen Schulfreunden erklären müßte – ich meine, es wär eine harte Nuß für ihn, zu erklären, daß er keinen Vater und keinen Namen hat. Ja. Es wär schon besser.«

»Ach, das kann unmöglich passiert sein. So was passiert einer Fürsorgerin nicht. Nein, wirklich; lach nicht. Irgendwie passiert so was eben nicht. Außerdem könnt ich was tun.«

»Das ist nicht so leicht.«

»Sei nicht albern. Das muß sein. Es ist wahrscheinlich komisch; gegenüber den Mädels im Corlearshaus schwing ich große Reden über sexuelle Dinge, aber ich versteh wirklich nicht viel davon, wie man sich vor dem Kinderkriegen in acht nimmt. Aber das kann ich herauskriegen. Außerdem kann, wie ich schon gesagt habe, keine Rede davon sein … mitten im Monat, und so; ach, bring mich nicht dazu, so unromantisch und scheußlich zu sein! Ich meine bloß – nein. Ich will dich jetzt nicht heiraten. Wenn du zurückkommst, sofort – –«

»Wenn ich zurückkomme!«

»Schön, also gut! Wenn du zurückkommst und mich noch haben willst. Lieber! Jetzt muß ich aber rasch machen.«

Er sprach nicht wieder vom Heiraten. Das war ihr lieb. Es bewies, wie gut sie sich ohne jedes Gerede verstanden.

 

Wie alle Liebenden mußte sie, so verlockend es auch war, sich heimlich zu treffen, den Geliebten ihren Freunden zeigen. Sie führte ihn zu Dr. Malvina Wormser, wo Lafe unter dem besänftigenden Einfluß der Doktorin zu schnurren anfing und in etwas komischer Weise von Kompaniefeldwebeln und ihrer Verehrung für die DISZIPLIN erzählte. Aber Dr. Wormser war jenseits alles Irdischen wie Gene Debs und Kardinal Newman und El Greco, wie Sterne und Kometen und das tiefe Mitternachtsblau; sie war nicht, wie Bäume und eisige Schneestürme und der Staub der Straße zu verstehen, wie Pat und Eleanor und Adolph Klebs und Pearl McKaig; und eine Liebende wird mit der Klugheit ihrer Liebeswahl nur auf irdische, faßbare Freunde Eindruck machen wollen, ebenso, wie der starke Mann seine Macht und der Berühmte seinen Ruhm nur gleichstehenden Rivalen zeigt.

Ann telefonierte mit Pat Bramble und Eleanor Crevecoeur, um eine kleine Gesellschaft zu arrangieren. Dazu ausersehen war die Wohnung in der Dreizehnten Straße, wo Eleanor mit ihrer schweigsamen »Braut« George Ewbank, dem Sekretär der Glidewell Taxicab Company, in idyllischer Sünde zusammenlebte. Die Wohnung nahm das oberste Stockwerk eines hohen Gebäudes ein und hatte eine wahre Scheune von Wohnzimmer, das mit den grellfarbigen Originalen von Magazintiteln vollgehängt war; diese Prachtstücke hatte Eleanor aus der Redaktion des Modejournals gestohlen, in die sie sich aus ihrer ersten Stellung in New York, bei der Möbelhändlerzeitung, heraufgearbeitet hatte. Außerdem waren verstaubte Batikstreifen da, Couches, unzulängliche Stühle und die große, breite, stammelnde, beruhigende Person George Ewbanks. Hinter dem Wohnzimmer (das selbstverständlich »Atelier« genannt wurde) lagen ein Schlafzimmer, ein Bad und eine minimale Küche.

Und da war Pat Bramble, zart und leuchtend wie immer, und noch immer porzellanglatt bis auf ein, zwei Linien neben den Augen; Eleanor Crevecoeur, so strahlend, daß sie für das Auge, wenn auch nicht für das Tastgefühl, weniger eckig wirkte; und Lafe Resnick; und Ann, nahezu schlank in einem enganliegenden, hoffnungslos extravaganten korallenroten Abendkleid. Es war also eine großstädtische, intellektuelle, ihrer sozialen Stellung bewußte Gesellschaft, typisch für New York, ein Gegenstand der Sehnsucht für die Hauptstraße und Zenith, und es war nichts anderes zu erwarten, als daß die Unterhaltung brillant sein würde.

»Das ist mein Freund, Hauptmann Resnick – Miss Crevecoeur, Miss Bramble, Mr. Ewbank – unser Hausherr – Hauptmann Resnick.«

»Guten Abend«, sagte Eleanor.

»Na, Sie sind ins Heer eingetreten, seh ich. Ich werd wohl auch eintreten müssen«, meinte George.

»Gar nichts wirst du! Zu den französischen Nuttchen da rüberfahren? Das würde dir so passen!« rief Eleanor.

»Na, ich weiß nicht. Man muß doch sozusagen seine Pflicht tun. Finden Sie nicht, Resnick? So denk ich wenigstens darüber. Seine Pflicht tun. Ich werd wohl ins Heer eintreten müssen. Ausgehoben bin ich noch nicht, aber ich werde wohl eintreten müssen«, erklärte George Ewbank.

»Ja, wir müssen wohl alle das Unsere tun«, antwortete Lafe.

»Ja, man kann sich nicht drücken. Ich bin leidenschaftliche Pazifistin, aber ich bin überzeugt, wir haben alle die Pflicht – wie es nun einmal ist, ich meine, wenn man bedenkt, was Deutschland eigentlich repräsentiert und so weiter – das Unsere zu tun, jetzt, meine ich«, sagte Pat Bramble.

»Ihr seid alle Idioten. Aber ich glaube, ich versteh, was ihr meint. Aber ich bin dagegen«, warf Ann ein.

»Also liebe Ann, wie die Dinge nun einmal stehen, ist es jetzt wirklich nicht an der Zeit, eine so frivole Haltung gegen den Krieg einzunehmen. Wir haben eben eine große und ekelhafte Arbeit durchzuführen«, erwiderte Eleanor.

»Ja, das ist auch meine Ansicht. Wir müssen das Unsere tun. Ich meine – ich bin organisierter Sozialist, aber wie die Situation nun einmal ist, werden wir wohl weitermachen und die Arbeit bis zu Ende schaffen müssen«, sagte Lafe.

Ann war entzückt darüber, daß Lafe so gut zu diesen alten Freunden paßte, daß er bald neben Pat saß, sie bei der Hand hielt und munter flirtete – aber natürlich nicht ernsthaft! – und daß sie alle an ihm Gefallen zu finden schienen. Sie begann ihn vorzuführen. »Erzähl doch die Geschichte von dem Frauenarzt und dem Agronomieprofessor«, bat sie, und: »Hört mal! Hauptmann Resnick behauptet steif und fest, daß Rußland noch in diesem Jahr kommunistisch wird. Erklär es doch mal, Lafe.«

Als sie mit Eleanor hinausging, um das Essen hereinzuholen (die beste kalte Pute mit Salat und Gurken aus dem Delikatessenladen in der Sechsten Avenue), gurgelte Eleanor hervor: »Er ist entzückend, meine Liebe. Aber ein nervöses Aas, nicht? Aber er ist kolossal klug, und reizend. Ihr vertragt euch wohl sehr gut?«

»Einigermaßen. Ja.«

»Übrigens – Teufel, wo sind die Preiselbeeren? Diese verfluchte Katze, sie ist an die Pute gegangen! Denkt ihr beide ans Heiraten?«

»O nein. Eigentlich nicht. Ich bin wie du. Ich finde, diese Ehefesseln sind einfach ein Aberglaube. Ich würde ihn nicht an mich fesseln wollen, selbst wenn er es wollte.« Und bei sich: »Er soll's nur probieren, loszukommen!«

Um ein Uhr nannte Lafe alle beim Vornamen, hatte er Pat und Eleanor geküßt – Eleanor schnappte nach Luft und wurde aufgelöst und bekam Schleieraugen – hatte eine Stunde am Klavier gesessen und Gilbert und Sullivan gespielt.

Als Lafe Ann zur Untergrundbahn brachte, gähnte er: »Das sind nette Leute, Liebling. Auch George, obwohl er ein bißchen blöd ist. Es wird fein sein, wenn die mal als Hausgäste zu uns kommen. Wenn wir ein Häuschen auf Cape Cod haben. Herrgott, denk doch nur – früh am Morgen, Nebel über der Küste, und das Meer und du und ich – vor dem Frühstück rasch mal baden!«

»Ja!«

Ihre zehn Tage gingen zu Ende, und am nächsten Morgen mußte er mit der Bahn nach Camp Lefferts in den Pennsylvaniabergen fahren. Sie hatten die ganze Nacht im Edmond für sich. Der Vorsteherin im Wohlfahrtshaus hatte sie erzählt, sie führe nach Connecticut hinüber und bliebe über Nacht weg.

Sie erwachte, als es dämmerte. Lafes Arm um sie, seine Wange an ihrer Schulter, sein Atem ging friedlich. Still glitt sie aus dem Bett und lächelte auf ihn herab – die offenstehende Jacke seines schreiend gelben Pyjamas, das Olivbraun seiner Brust; sein Arm, dessen Umschlingung sie eben verlassen hatte, ruhte leer, der Ärmel hatte sich verschoben, die weiche dunkle Kehle des Ellbogens war entblößt. Durch die entspannte Hand, die geöffnet dalag, ging ständig ein leichtes Zucken. Aber, so dachte sie voll Stolz, er war lange nicht mehr so überreizt und schreckhaft wie damals, als sie ihn kennenlernte. Wie fremdartig seine Schlankheit hier wirkte, der junge morgenländische Prinz in diesem lächerlichen Bett mit den zerdrückten Baumwollbezügen! Wahrscheinlich war die Bettstelle aus Messingimitation, wenn es so etwas überhaupt gab!

Sie ging leise an das Fenster und sah auf die Straße hinaus, über der stille Leere lag. Sommer, Sommermorgen, und da drin ihr Geliebter, träumend von ihrer Umarmung. Das Pflaster unten roch frisch vom ersten Sprengen. Ein Milchwagen fuhr vorbei; freundlich klappte der Hufschlag des Pferdes die Straße entlang.

Gramercy Park, rechts von ihr, war damals, 1917, noch nicht von Wohnhäusern erdrückt, Madison Square Garden, links von ihr, noch nicht ein Betonklotz und Tummelplatz bürgerlicher Rechtschaffenheit geworden; es gab weder Flaggenstangen der Amerikanischen Legion noch kommunistische Versammlungen, nur verwahrloste, zufriedene Bäume, unter denen die Tramps auf abgewetzten Bänken schliefen. Bäume! Liebende, dachte sie, sollten immer Bäume um sich haben als Symbole ihrer Liebe: der Stamm ein Bild der Festigkeit und Dauer, das zarte Muster verschlungener Zweige ein Bild der Erfüllung. Gegenüber stand eine einsame Ulme verloren im Zement, gebeugt, mit vielen verdorrten Ästen, und dennoch eine Fanfare von Grün; sie stand allein, nicht in einem alltäglichen Wald, der sie geduckt hätte, und darum war sie für Ann ein ganzer Märchenwald – schimmernde Lichtungen, dunkle Baumkronen, Lieder und Frohsinn. Die Sonne ging auf und beschien fröhlich ein schmutziges graues Haus auf der anderen Seite der Straße. Sommer und Sonnenlicht und ein Baum, und da schlief ihr Geliebter! Sie lächelte zu ihm hin, lächelte auf die Straße hinaus; plötzlich verging ihr Lächeln, und ihre Augen wurden glanzlos. Sie hatte in der Ferne den Marschrhythmus gehört, tramp, tramp, tramp, tramp, tramp, tramp, und plötzlich war es nicht mehr Sommer und Liebeszeit, nur noch Krieg.

Daß er in das schwarze Grauen hinaus sollte – er, der so lebendig und so empfindsam war! In traurigem Zorn über sich selbst dachte sie daran, daß seine hysterische Schreckhaftigkeit sie manchmal gereizt hatte. Er hatte Angst vor Hunden, und wenn sie ihn noch so gutmütig anwedelten, war überzeugt davon, daß sie ihn beißen wollten. Er traute Katzen nicht recht – fand ihre Augen heimtückisch – er hatte Angst vor dem Verkehr an Straßenkreuzungen, vor der dröhnenden Dunkelheit in der Untergrundbahn, vor rutschenden Taxis an nassen Tagen. Lächerlich! Warum konnte er nicht ein bißchen phlegmatisch sein, wie Adolph zum Beispiel? Aber daß diese allzu scharf geschmiedete Klinge zwischen Felsblöcken zermalmt werden sollte …

(Und sie liebte ihn so! Sie hatte nicht gewußt, daß sie mit so vollkommener Hingabe lieben konnte.)

Trostlose Verzweiflung überkam sie. Wieder sah sie ihn vor sich – draußen: Sie waren zum Angriff vorgegangen. Bitteres Gas, das ihnen die Lungen zerriß, strich über sie hin – über Lafe – machte ihn blind gegen die Schrecken faulender Leichen, zerfetzter Baumstümpfe und zerschossener Lastwagen. Das Gas stach wie ein Skorpion in seinen Lungen. (Sie fühlte es und wimmerte vor Schmerz.) Er stolperte, rutschte in ein Granatloch, fiel über einen verwesenden Körper. Es war zu steil; er konnte nicht herauskriechen, konnte dem Toten nicht entkommen. Sein Jammern verklang ungehört. Dann kam ein Flugzeug mit den deutschen Kreuzen an den Flügeln, es flog hoch und schneckenhaft langsam; es warf Bomben ab, immer näher – –

»Oh, ich kann nicht! Ich lasse ihn nicht gehen!« schrie sie.

Entsetzt wandte sie sich zum Bett. Sie hatte ihn aufgeweckt.

»Was ist los? Was war das für ein Lärm?« fragte er nervös.

»Ach, ich, nichts. Bloß irgend jemand – ein Zeitungsjunge wahrscheinlich – unten auf der Straße!« (Wie schnell die Liebe lügen lehrte!)

»Aaauh! Herrgott, bin ich müde! Komm, Liebling, kriech wieder ins Bett. Ach Gott, ich hatte es ganz vergessen. Heute muß ich ja ins Lager. An den Galgen! Meine letzte Nacht im Todeshaus! Jetzt kann jeden Tag der Transport nach Frankreich abgehen!«

Sie war so ärgerlich, wie sie nur konnte – aber nicht ihretwegen, nur um ihn hart zu machen. »Es ist nicht sehr höflich von dir, eine Nacht mit mir eine Nacht im Todeshaus zu nennen!«

»Ach, so hab ich es nicht gemeint – du weißt – –«

»Und außerdem! Du mußt aufhören, zu jammern und dich selber ängstlich und jämmerlich zu machen! Das ist ganz einfach Mangel an anständigen Hemmungen. Hör mal zu, mein Junge! Wenn du mit deinem Exhibitionismus nicht aufhörst, komm ich zu dir ins Lager und schlepp dich an den Ohren auf den Exerzierplatz, vor deinem Oberst und allen, und sag ihnen, daß ich gekommen bin, um dich zurückzuholen, und dann laß ich dich draußen in der Vorstadt Gärtnerarbeiten machen, und das wird dir noch viel unangenehmer sein, als ein Held zu sein!«

Sie lockte ein schwaches Lächeln aus ihm heraus, und sofort brach sie selbst zusammen. Schluchzend umschlang sie ihn, und jetzt vergaß er zum erstenmal sich selbst in dem Wunsch, sie zu trösten. Ihren Kopf an seine Brust legend, redete er ihr gut zu. »Wir wollen noch ein Weilchen schlafen, Liebling. Aufstehen und packen muß ich erst um sieben. Es muß noch früh sein. Schlaf, und vergiß, was für ein Jammerfritze ich bin.«

Und sie wäre auch eingeschlafen; aber durch den Vorhang der Doppeltür zum Wohnzimmer sah sie das Kaffeegeschirr aus Majolika stehen, das sie für ihn im Italienerviertel gekauft hatte. »Daraus wollen wir heute morgen trinken, und dann nicht wieder, vielleicht nie wieder«, dachte sie selbstquälerisch; und sie küßte ihn verzweifelt, bis er ganz wach wurde und ihre Nähe zu sehr empfand, um wieder einschlafen zu können.

 

Sie begleitete ihn auf der Fähre hinüber und brachte ihn zum Bahnhof der Baltimore & Ohio – es war kein schneller Expreß, kein lauter Militärzug, sondern ein ordinärer Bummelzug, mit dem auch fünf oder sechs einzeln reisende Soldaten fuhren.

Sie traf eine Bekannte, Tessie Katz, jung, vibrierend vor Lebendigkeit, hakennasig und hübsch; sie war Pelzverarbeiterin, saß viel im Corlears-Hook-Wohlfahrtshaus und kam oft mit ihren Sorgen (meist Liebessachen) zu Ann. Tessie brachte gleichfalls ihren Helden zur Bahn, einen Jüngling mit rundem Gesicht, der wie ein Barmixer aussah, mit Korkzieherlocken und einem albernen Schnurrbart. Tessie hing an seinen Schultern und jammerte, bis ihr Blick auf Ann fiel. Sie hatte Ann anscheinend immer für eine jungfräuliche Vestalin gehalten, und nun konnte ihr theatralischer Kummer sie nicht davon abhalten, Ann und Lafe mit gespanntem Staunen zu beobachten.

Es war unangenehm. Aber Ann vergaß es, denn Lafe klammerte sich an sie, verzweifelt wie ein Kind. »Du schreibst mir doch jeden Tag, Ann? Zweimal am Tag! Du gibst mir deinen Segen? Hör zu! Ich werde nicht jammern. Wirklich, wenn ich unter Männern bin, tu ich es nicht. Die halten mich für einen freundlichen kleinen Mann aus Granit. Es ist nur dein wunderbares Mitgefühl, das mich weich werden läßt. Los jetzt! Ran! Und zurück mit dem Kreuz der Ehrenlegion – zurück zu dir!«

»Alles einsteigen!«

»Gott schütze dich, Liebling!« Ann floh, ohne sich umzusehen; sie wagte nicht, ihre nassen Augen zu zeigen.

Aber als sie, an einen Pfeiler gelehnt, ausruhen wollte, kam Tessie Katz an.

» Hallo, Miss Vickers! Ich hab ja keine Ahnung gehabt, daß Sie auch einen Freund haben! Oh, der sieht aber gut aus! Wie ein russischer Fürst! Und ein Hauptmann! Donnerwetter!«

»Nanu, guten Tag, Miss Katz. Haben Sie auch jemand zur Bahn gebracht?«

»Ja, meinen Freund. Es ist nur ein Gemeiner, aber ich will Ihnen was sagen, der Junge ist richtig. Der ist Sergeant oder Oberkommandeur oder sonst was, noch bevor der Krieg aus ist. Übrigens, das ist nicht der, von dem ich Ihnen letzten Monat erzählt hab. Das war mal ein kümmerliches Gewächs! Nichts wie n Saufbruder. Aber Morris, der ist süß. Der will mich heiraten, sobald er zurückkommt.«

Ann Vickers fand ihre eigene Liebe und ihren eigenen Schmerz durch Miss Tessie Katz' Tragödie nicht ins Komische gezogen. Tessie war ihre Freundin, ihre Schwester. Die beiden jungen Frauen stiegen Arm in Arm in leisem Gespräch die mühsame Treppe zum Oberdeck des Fährboots hinauf.

Nur einen Augenblick lang war Ann wieder die überlegene Trösterin. »Tessie, ich glaube – Sie wissen, daß in einem Wohlfahrtshaus viel geklatscht wird – es wäre mir lieb, wenn Sie nichts darüber sagen würden, daß ich Hauptmann – daß ich den Hauptmann an die Bahn gebracht habe.«

»Aber ja, da können Sie Gift drauf nehmen, Miss Vickers. Das geht die doch nichts an. Was die nicht wissen, da können sie sich auch nicht drüber aufregen. Und – ach du mein Gott, was wird mir der Bengel fehlen, der Morris; wenn sie ihn mir bloß nicht kaputtschießen!«

Sie hielten sich an den Händen und weinten schamlos in der Sommersonne.


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