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18

Erst um Mitternacht, als die Abendgesellschaft vorbei war, konnte Ann mit Dr. Malvina Wormser allein sprechen. Die grauhaarige kleine Doktorin beugte sich zum Kaminfeuer vor, die Beine weit auseinandergestellt, den Ellbogen auf dem Knie, eine lange Zigarettenspitze in der rundlichen Hand. Auf ihrer ehrwürdigen Bluse aus kaffeefarbener Seide trug sie eine alte Brosche aus Staubperlen.

»Was ist mit Ihnen geschehen, Ann? Vor einem Monat sahen Sie jämmerlich aus. Heute abend sind Sie ganz rosig. Was haben Sie für Kummer gehabt? Alles, was der Doktor tun kann, ist herausfinden, was die Patientin ihrer Meinung nach hat, und sie dann darin bestärken.«

»Ja, mir ist auch besser. Ich hab aufgehört, mich über das Kind, das ich kriege, aufzuregen.«

»Das – – Santa Maria! Im Ernst?«

»Ja.«

»Hier ist eine Schulter. Komm her und weine. Aber ernsthaft, Ann, mein armes Kind –«

»Nein. Die ganze Aufregung ist vorbei. Was raten Sie mir? Soll ich es kriegen? Oder Abort?«

»Großer Gott!« Dr. Wormser ging mit schnellen Schritten auf und ab, mit ihren winzigen hochhackigen Schuhen aufstampfend, die Hände auf den Rücken gelegt, die Zigarettenspitze im Munde herumdrehend. »Es hat gar keinen Zweck, dramatisch zu werden. Aber, mein gutes Kind, bilden Sie sich nicht ein, daß das nicht eine ernste Sache wäre. Haben Sie nicht vor ein paar Wochen versucht, mich nach einem Abtreiber auszuhorchen?«

»Ja. Aber nicht für mich. Ich hab einen gefunden. Aber ich glaube nicht, daß ich ihn vertragen könnte, für mich selber … Wir sind alle so demokratisch, wir ›sozial denkenden Leute‹, bis es sich um die Verheiratung unserer Schwestern und Töchter handelt, oder um eine Operation. Dann hat's geschnappt! Ich würde eben nicht alles für Tessie tun, was ich für mich selbst tun würde! Es hat gar keinen Sinn, da zu schwindeln! … Meinen Sie, daß Sie mir helfen können? Bitte, verstehen Sie mich richtig, ich will Sie nicht drängen. Ich möchte nicht, daß Sie was riskieren.«

»Ja. Es ist ein Risiko. Ich könnte zehn Jahre Auburn abbekommen. Plus ewiger Schande für mich – und was schlimmer ist, für alle Medizinerinnen. Komisch! Die Frauen sind die ersten, die natürlichen Ärzte. Sie verbinden dem Baby den Finger und denken seine Diät aus; sie haben Geduld und Ausdauer. Sie nehmen den Schmerz ernst, als etwas, was man loswerden muß – die meisten männlichen Ärzte (außer den Juden, die haben Verstand!) sagen: ›Schmerz ist etwas ganz Natürliches, also warum sich darüber aufregen‹ – das heißt, wenn der Schmerz im Bauch eines anderen sitzt – ein Mann, der Doktor ist, hat genau so viel Angst wie irgendeiner seiner Patienten, wenn's in seinem eigenen Bauch sitzt – der schlimmste Patient der Welt, ein männlicher Doktor! Und trotzdem werden in dem einzigen Beruf (außer Regierung und dem dritten) der ihnen von Natur zukommt, die Frauen gerade geduldet. Aber ich verdanke diesem Beruf und seinen Prinzipien etwas.«

Ann hörte nicht zu. Es klang ihr in den Ohren. Ihr schwindelte, sie kam sich hilflos und verloren vor. Sie sollte also wieder, nach der guten alten religiösen Weise, für »Prinzipien« geopfert werden. Sie fuhr auf und hörte Dr. Wormser brummen:

»Aber gegen Sie habe ich auch Pflichten. Und ich glaube, daß Sie zu nützlich sind, als daß man dieses Pack von tollen Hunden, das wir ›Gesellschaft‹ nennen, Sie wie ein verängstigtes Kätzchen jagen lassen kann. Nun hör mal zu, mein Kind.«

Dr. Wormser wirbelte ihren Stuhl herum, ließ sich in ihn fallen und sprach mit erhobenem Zeigefinger in unnatürlicher Strenge:

»Als unbeamteter Beamter des Staates, muß ich Ihnen klar und deutlich sagen, Ann, daß die Abtreibung ein Verbrechen ist. Als Arzt rate ich Ihnen davon ab, sich eine Abtreibung machen zu lassen. Es ist unnatürlich und gefährlich. Es kann sein, daß Sie nie wieder ein Kind bekommen können. Und jede Frau sollte ein Kind haben, und wenn es nur der regelrechten Funktion wegen ist. Aber als Frau rate ich Ihnen dringend, den Abort machen zu lassen und nachher den Mund darüber zu halten. Solange die Männer – und was schlimmer ist, die Weibchen-Frauen, die sich von der Männerpsychologie beherrschen lassen – unsere einzige uns eigentümliche Funktion, das Kinderkriegen, zu etwas Unanständigem und Besonderem machen, müssen wir uns wehren und realistisch denken, und ebensoviel lügen und verbergen wie sie.

So! Ich geb Ihnen mein Wort, ich habe erst fünf Aborte gemacht. In jedem Fall war ich der Meinung, die Patientin sei wertvoller für die Welt als das, was ich mich rühme, meine Ehre als Arzt und als Bürger zu nennen. Ich will Sie keinem anderen Menschen anvertrauen. Sie werden sich zehn Tage Urlaub nehmen, vom Freitag nächster Woche an. Sie werden sich hier um vier Uhr melden; wir fahren hinaus in mein kleines Landhaus auf Long Island, operieren da, und Sie bleiben zehn Tage draußen. Nicht einmal eine Köchin kommt mit. Ich nehme meine beste Schwester mit, Gertrude Waggett. Die ist großartig. Knochig wie ein Irischer Wolfshund und schweigsam wie der Schnee im Winterwald. Sie haben mich lyrisch gemacht! Die wird bei Ihnen bleiben, wenn ich in die Stadt zurückfahre. Gute Nacht, mein Kind. Vier Uhr, verstanden, Freitag in acht Tagen. Gute Nacht!«

 

Von der Bahnstation weit draußen an der Südküste von Long Island fuhren sie zu Dr. Wormsers Bungalow. Es war September. Die Bäume sahen lederbraun und verwaschen golden aus. Ann schaute über leblose Marschen auf eine bleifarbene See; die Luft war frisch und salzig, und man spürte den fischigen Geruch der Marsch, aber es war kühl, und sie schauderte. Dr. Wormser schwieg; die große, schmalnasige und goldbebrillte Miss Waggett war nicht negativ, sondern positiv, aggressiv schweigsam. Ann schauderte wieder.

Auf einer alten ausgefahrenen Makadamstraße, die durch Sümpfe führte, kamen sie auf einen langen Sandstreifen, auf dem verstreut Sommerhäuschen standen. Im Juli hatten sie sicher ganz fröhlich ausgesehen, mit schreienden Kindern und kreischenden Grammophonen und braunen jungen Leuten in roten Badeanzügen. Jetzt lagen die Häuser in hoffnungsloser Verlassenheit da. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt; auf den Veranden standen keine bunten Stühle, die grauen Schindeln waren mit verwehtem Seesand gesprenkelt.

Öde und leer! Und was hatten diese beiden finsteren Frauen mit ihr vor? Sie war gefangen. Niemand, an den sie sich wenden konnte, in dieser Wildnis, die von salzigen Sümpfen und brüllenden Brechern eingerahmt war. Jetzt herausspringen und fliehen!

»Es ist ziemlich still, abgesehen von den Wellen«, sagte sie.

»Ja.« Dr. Wormser erwachte aus ihrer Trance und lächelte wie eine freundliche und weltliche Tante. »Ich weiß. Es muß Ihnen bedrückend vorkommen. Geben Sie sich Mühe, es schön zu finden. Wenn Sie sich zehn Tage lang richtig entspannen können, werden Sie nicht nur die Operation überstehen, sondern als neuer Mensch zurückkommen. Die weisen alten Alchemisten! Die Elemente – Erde und Luft und Feuer und Wasser. In der Stadt verlieren wir sie; und dann werden sie zu Nerven und zu verkalkten Arterien. Versuchen Sie nicht, intelligent zu sein, diese Woche lang. Sie sind nicht die kluge Miss Vickers. Sie sind eine irrende Schwester. Glänzend! Sie können eine wirkliche Führerin der Frauen werden, nicht eine Reformierdame. Und ich habe etwas mitgebracht, was Sie wirklich als geistige Nahrung brauchen – sechzehn Detektivgeschichten!«

»Ich wollte durchlesen, was ich von Freud –«

»Das werden Sie bleiben lassen! Sie werden von netten zahmen Sachen lesen, von Morden und Scotland Yard. Da sind wir! Wir wollen das Haus warm kriegen und operieren heute abend um neun.«

»Oh, nein, nein. Können wir nicht bis morgen warten?«

»Und Sie noch verängstigter werden lassen, als Sie jetzt sind? Huh! Es ist komisch mit euch derben Sportmädchen – neurotischer als Salondamen, weil ihr es nicht mit hysterischen Anfällen und neuen Röcken abreagiert … Ann! Liebling! Es wird kein bißchen schlimm!«

Dr. Wormsers Haus sah auf den rollenden Ozean, dazwischen lagen grasige Dünen und endloser Strand. Es war so einfach wie die verlassenen Sommerhäuser, an denen sie vorübergefahren waren, abgesehen von einer Büchersammlung, die so durcheinandergewürfelt war wie eine verrückte Sofadecke, einem wirklich großen Kamin und, neben der Küche, einem Operationsraum mit Apotheke, bis zur halben Höhe der Wand weiß gekachelt. »Die einzige anständige chirurgische Einrichtung, und bakteriologische auch, im Umkreis von fünfzehn Meilen«, protzte Dr. Wormser. »Ich hab hier ziemlich viel Praxis im Sommer – Leute aus der Stadt. Im Dorf ist nur ein Doktor. Ein alter. Männchen, natürlich. Wie er über die ›Medizinhennen‹ lacht! Ich bin sein Lieblingswitz bei Tisch. Und sein Operationstisch ist ein verstellbarer, der aussieht wie ein abgenutzter Friseurstuhl – vielleicht nicht ganz so sauber! Sehen Sie, hier ist mein Fulgurisierapparat; das ist der Schrank für Reagentien und Farben und so weiter …«

Während Dr. Wormser schwatzte, wußte Ann, daß sie sie beruhigen wollte; ihr mit beleidigend deutlicher Tröstungsabsicht sagen, daß sie fachmännisch behandelt werden würde. Ann hörte nicht zu. Nichts war in ihrem Gehirn und in ihrem Herzen als die kalte Leere des Schmerzes.

Es waren zwei Schlafzimmer da, außerdem boten zwei Couches im Wohnzimmer gastliche Möglichkeiten. »Sie bekommen das Zimmer da auf der rechten Seite – das sieht gerade aufs Meer hinaus. Miss Waggett und ich hausen in dem anderen.«

Ann war zu stumpf, um zu protestieren.

»So, jetzt werden Miss Waggett und ich ein bißchen heißes Wasser machen und das Operationszimmer heizen – ich hab einen elektrischen Ofen, das ist ein richtiger kleiner Vesuv – und uns allen eine Tasse Tee kochen – inzwischen gehen Sie mal da rein und ziehen sich ein Nachthemd an. Miss Waggett hat Ihnen ein schönes einfaches auf Ihr Bett gelegt … Ann! Sie sehen so entsetzt aus! Wollen wir lieber bis morgen warten?«

Nichts als primitives Entsetzen klang aus Anns heiserem: »Nein! Um Gottes willen, ich will's hinter mir haben!«

»Bravo! Du kannst dich drauf verlassen, Kleines!«

Langsam zog sie sich aus, zog das grobe Nachthemd über den Kopf und setzte sich auf das Bett; ihr war etwas kühl, und mit zuckenden Fingern zündete sie eine Zigarette an. Sie überlegte, ob man sie in dieser Todeszelle, in die man sie plötzlich verschleppt hatte, rauchen ließe.

Miss Waggett stand in der Tür, in weißem Mantel und Kappe, eine Gazebinde vor dem Mund. »Also, Miss Vickers, es ist so weit.«

Der langsame Marsch zum Galgen.

Als sie von der unbarmherzigen Hand in das Operationszimmer geführt wurde, sah sie eine neue Dr. Wormser, auch in Weiß, mit einer neuen, großen, scheußlichen und sehr fachmännisch aussehenden Brille, die ihr Eulenaugen machte. Sie war vor Energie nicht wiederzuerkennen.

»Also los! Ann Vickers, verdammt nochmal, Sie hören jetzt auf, sich selbst zu bemitleiden und hysterisch zu machen! Sie wollen ein Offizier der Sozialarmee sein? Ja Kuchen! Jede pollackische Mutter, zu der Sie sich herablassen, weiß mehr vom wirklichen Leben! Und ich – wissen Sie, daß ich manchmal an einem Vormittag zehn schwere Fälle habe, von denen die meisten buchstäblich hundertmal so schlimm sind wie Ihrer? Sei vergnügt, Liebling! Es ist gleich vorbei!«

 

In welchem Augenblick sie aufgehört hatten, ihr Äther zu geben, darauf konnte sie sich nicht besinnen. Im Halbschlaf der Narkose hatte sie das Gefühl, daß es wichtig wäre, sich das zu merken. Und sie hatte eine vage Erinnerung an einen Augenblick, in dem alle Menschenwürde, alle Individualität, alle Selbstachtung untergegangen war in einer Flamme von Schmerz, aber sie war nicht sicher, ob das ihr oder jemand anderem geschehen war. Über diese beiden maßlos wichtigen aussichtslosen Probleme zerbrach sie sich stundenlang verzweifelt den Kopf. Oder vielleicht waren es Sekunden. Plötzlich wich der Nebel von ihrem Gehirn, und ihr Blick fiel auf Dr. Wormser, die gelassen neben ihrem Bett stand, während Miss Waggett, noch gelassener, ein Tablett mit einem Glas Wasser zurechtstellte.

»Na also! Alles überstanden! Großartig!« piepste die Doktorin.

Alles überstanden! Das Leben lag wieder frei vor ihr, und wenn dies ein Verbrechen gewesen war, das von allen anständigen Völkern verdammt wurde – von Völkern, die in diesem Augenblick (es war das Jahr 1917) ihre Anständigkeit und ihren Haß gegen das Böse durch ein Riesenaufgebot von Tanks, Giftgas und flüssigem Feuer manifestierten – dann wußte sie nicht, was Verbrechen und was Verbrecher waren.

(Im Bezirksgefängnis von Tafford hatte sie den ersten Schritt getan, jetzt tat sie den zweiten; dieser Weg führte sie später in das Dunkel der Gefängnisse, in denen die vernünftigen Leute, um es nicht sehen zu müssen, die Qual und die verzweifelte Langeweile derer einschließen, die sie »Verbrecher« nennen. Zu Gene Debs im Gefängnis, Jesus am Kreuz und Savonarola auf dem Scheiterhaufen konnte sie jetzt Dr. Malvina Wormser als Schurken hinzuzählen. In der Zukunft kamen noch Tom Mooney, Sacco und Vanzetti, die I. W. W. 's von Centralia und die acht Negerjungen von Scottsboro in Alabama dazu. Aber das wußte sie noch nicht; noch sah sie in Amerika den einzigen Galahad unter den Nationen, der, in einer Rüstung aus bestem makellosem Stahl, ganz darin aufgeht, den Heiligen Gral des internationalen Friedens und Glaubens zu suchen.)

 

Dr. Wormser war fort, Miss Waggett beschäftigte sich schweigend mit der Herstellung von Eiergrogs und Creme-Toasts, und Ann saß den ganzen Tag und die ganze Woche lang in einem Liegestuhl auf der Veranda, in höchst feminine und häusliche rosafarbene Steppdecken gewickelt. Von der Operation als solcher war sie in zwei Tagen erholt und hätte nach Hause gehen können. Jetzt heilte sie die Wunden der Sinnlosigkeit. Sie sah die Brecher nicht – um beachtet zu werden, waren sie etwas zu monoton, ein aufgeregter Brecher nach dem anderen, so unoriginell und so lärmend wie eine Herde von Politikern. Sie achtete nicht auf den Ozean, aber sie fühlte ihn. Sie hatte Zeit genug, den Kleinkram ihres Berufslebens zu vergessen und ein Teil von der Größe der Erde zu sein.

Tagelang dachte sie über ihren unromantischen Roman nach. Sie kam sich keineswegs »ruiniert« vor, noch konnte sie viel lustbetonte Empörung gegen ihren »Verführer«, gegen die Männer im allgemeinen oder gegen die Gesellschaft aufbringen. Es tat ihr eher leid, daß sie wahrscheinlich niemals das Rührstück des »Ruiniertseins« erleben würde; kein Vater rief Gott an, Er möge sie bestrafen, oder jagte sie hinaus in Sturm und Regen mit dem Baby unter dem fadenscheinigen Umschlagetuch; kein kirchenfrommer Chef statuierte ein Exempel an ihr; sie hatte keine Aussicht auf Krankheit und Hunger, während sie sich in einer Dachkammer, durch deren zerbrochene Fenster die kalte Winterluft hereinpfiff, bewußt für das Kind der Schande aufopferte.

Das dünkte sie ein romantischeres Leben, als an ihrem Schreibtisch im Wohlfahrtshaus zu sitzen und einen Klassenplan für kaufmännisches Rechnen zu entwerfen.

Sie saß und dachte nach, wie viele andere traditionell dramatische Situationen wohl im kalten Licht der Realität ihren schrecklichen Glanz verlieren würden … Hassen die Helden im Krieg wirklich den bösen Feind ebensosehr wie das versalzene Fleisch oder bösartige Offiziere? Und wenn sie im Dreck liegen und sterben, macht es ihnen dann wirklich solche Freude, ihr Leben für ihre diversen Könige und Vaterländer hinzugeben? Sind irgendwelche Überlieferungen hieb- und stichfest? Halten Richter immer ihre Pflichten heilig, oder kommt es vor, daß sie, wie Schullehrer, die einen Schüler schlagen, weil sie sich über ihn ärgern, ihrer persönlichen Bösartigkeit nachgeben? Sind Amerikaner immer großmütig und kameradschaftlich, Deutsche immer tüchtig, Engländer immer ehrenhaft, und Franzosen immer logisch?

Diese Fragen behelligten nicht Ann allein. Von 1890 bis 1926 kultivierten alle intelligenten jungen Männer und Frauen gewohnheitsmäßig eine liberale Sozialkritik, die »radikal, aber vernünftig« war, das heißt niemals in Handlungen umgesetzt wurde. Diese ganze Generation lang wurden die klugen Verbalinjurien, die in Bernard Shaws Frühzeit modern geworden waren, vom Mittelstand mit Vorliebe verwandt. Es war die Zeit, da Senatorensöhne und Bischofsenkel mit liebevoller Vorfreude von dem zeitlich nur vage festgelegten Tausendjährigen Reich sprachen, in dem »am letzten Pfaffendarm der letzte König hängt«. Wie die Mittlere Victorianische Epoche heiter behauptete, daß alle Vikare keusch und viele intelligent seien, daß alle Prinzen des königlichen Hauses gute Manieren hätten, und daß türkischrote Brüsseler Teppiche ein hübscher Fußbodenbelag seien, so waren zwei Generationen später die »Intellektuellen« so rührend unkompliziert, daß sie glaubten, alle Bankiers verbrächten ihre Nächte damit, Pläne zu schmieden, wie sie die Armen ärmer machen könnten; alle Kongreß- und Parlamentsmitglieder steckten enorme Schmiergelder ein und stürben ausnahmslos in Palästen an der Riviera; alle Geistlichen, insbesondere Baptisten in Kleinstädten, hielten sich Mätressen in prunkvollen Appartements; und alle sozialistischen Agitatoren opferten sich ausschließlich für das Wohl der Menschheit und lebten mit Freuden von Schwarzbrot und kaltem Wasser.

»Schön, aber im großen und ganzen sind alle diese Dinge wahr!« rief Ann bei sich. »Es ist bloß nicht ganz so einfach. Soll das die nächste intellektuelle Hürde werden: daß man von radikalen Propagandisten erwartet, sie dürften nicht mehr so einfältig und durchschaubar sein wie Evangelisten aus Missouri? War es nicht schön, als wir alle glaubten, wir brauchten nur sozialistisch zu wählen, und dann würde die Beulenpest aufhören, und Ehemänner würden keine Stenotypistin mehr geil ansehen, und Weizen würde immer vierzig per Morgen bringen und jedes Kind würde seinen Dr. phil. in Biophysik mit sechs Jahren machen!«

Sie fing an, die Axiome des Radikalismus ebenso scharf in Frage zu stellen wie früher die Bürgerlichkeit. Was hat sie als Sozialarbeiterin im Corlears Hook erreicht? Hat sie den jungen Leuten des Bezirks irgend etwas gegeben, was sie in den städtischen Schulen nicht haben konnten? Wird das Wahlrecht für Frauen wirklich, wie sie es einst von Seifenkisten herab prophezeit hat, die Kriminalität herabsetzen, allen Kindern Nahrung und Erziehung sichern, allen schwangeren Frauen sachgemäße ärztliche Versorgung bringen, und Hunderten hervorragender weiblicher Staatsmänner den Eintritt in das öffentliche Leben ermöglichen, so daß um 1930 das Land viele Dutzende von weiblichen Senatoren und Ministern haben wird, die von der Jungfrau von Orleans kaum zu unterscheiden sind?

Sind die mit Statistiken überfütterten und liberal gesinnten Fürsorgerinnen, mit denen sie im Corlears House zusammenkommt, wirklich fähig, ein unvergleichlich besseres Regierungssystem einzurichten, als die geldgierigen und zynischen Politiker von Tammany Hall und der Zentrale der Republikaner?

Ist nur das eine sicher, daß sie keiner Sache mehr so sicher sein kann wie in den guten alten Zeiten; daß in der Grammatik der Sozialwissenschaft all die triumphierenden Alsos durch Abers ersetzt sind?

Dann vergaß sie das alles unter dem Einfluß der narkotischen Detektivgeschichte, die Dr. Wormser ihr empfohlen hatte.

 

In ihrer ursprünglichen Angst vor der Schande hatte Ann ausschließlich an ihr eigenes Dilemma gedacht. Weder sie noch die realistische Tessie Katz hatten so viel Phantasie gehabt, viel an das Recht der ungeborenen Kinder zu denken. Jetzt wurde, unvernünftigerweise, das Baby eine Realität für sie, und sie sehnte sich nach ihm, zuerst traurig, dann wild, und beschuldigte sich, es ermordet zu haben. Es wurde ein Individuum; es fehlte ihr, als wenn sie es wirklich gepflegt und seine Wärme gefühlt hätte. Sie begann es mehr zu wollen, als sie je eine Karriere oder den Triumph irgendeines schönen Prinzips gewollt hatte.

Es wäre ein Mädchen geworden. »Woher sie das weiß? Ach, sie weiß es eben, das ist alles! Das ist nun mal so, eine Mutter weiß so etwas! Instinkt. Jenseits der Küchenweisheit der Wissenschaft! Und wie herrlich es gewesen wäre! Denn diese kommende Generation gehört den Frauen.« Wollen mal sehen (träumte sie): wäre das Kind Anfang 1918 geboren worden, dann wäre es 1958 erst vierzig Jahre alt. Um die Zeit ist die Welt vielleicht schon eine große Nation; vielleicht ist die ganze Welt kommunistisch; vielleicht ist sie wieder in kleine, mit einander kriegführende Monarchien zerfallen. Vielleicht sind Windmühlenflugzeuge dann etwas so Gewöhnliches wie jetzt Autos, oder vielleicht sind sie auch schon vergessen im Schutt der gestorbenen Zivilisation. Was immer geschieht, ihr Kind wird es sehen – nein! seufzte sie, würde es gesehen haben – so viel schwindelnder Wechsel in vierzig Jahren wie früher in zwei Jahrhunderten.

Das Kind nahm Gestalt an. Es mußte das schwarze Haar ihres Großvaters Vickers haben. (Ann weigerte sich, die Autorschaft des Haars Lafe zuzuschreiben.) Sie wird dafür sorgen, daß das Baby einen gesunden Körper hat. Vor allen Dingen soll sie auf Charakter erzogen werden, auf persönliche Sauberkeit. Und in einer Welt, in der die Berufskasten wahrscheinlich gleichzeitig mit individuellem Reichtum und Rang verschwinden würden, soll sie lernen, ihre Hände zu gebrauchen; sie soll sich nicht vor der ehrlichen Geschicklichkeit von Waschfrauen, Köchinnen, Zimmerleuten und Mechanikern zu schämen brauchen.

Was für Freude ihr die Erziehung des Kindes machen wird – –

Dann erinnerte sie sich voller Entsetzen, daß sie das Baby umgebracht hatte. Nie wird es seine Erziehung erleben.

 

Ihre Brüste verlangten nach dem Kind; ihre Phantasie verlangte nach so etwas wie Unsterblichkeit durch die Ausdehnung ihres Ich in dem Kind als Medium.

Es würde heißen – kleine Mädchen hatten bisher immer so bedeutungslose Namen gehabt: Ann, Dorothy, Lois, Gertrude, Betty. Hundertfünfzig Jahre früher hatten Namen einen Sinn gehabt, sie waren schöne Symbole gewesen, wie Charity: Güte, Hope: Hoffnung, Faith: Glaube, und Patience: Geduld. Aber stumpfe Geduld, langweilige Hoffnung und sauertöpfischer Glaube waren nicht mehr die einzigen Tugenden der Frauen. Nein, ihr Mädchen sollte Pride heißen: Stolz; und Stolz auf das Leben, Stolz auf die Liebe, Stolz auf die Arbeit, Stolz auf ihre Weiblichkeit sollten ihre Tugenden sein. Pride Vickers – das einzige Wesen, das Ann immer sehen und verstehen sollte!

Ann hatte keine ausgesprochenen mystischen Anlagen. Sie hielt sich sogar für nüchtern. Und doch war von jetzt an, ohne daß sie sich darüber klar wurde, Pride Vickers eine so reale Person für sie wie irgendein Italienerkind, das vor dem Wohlfahrtshaus herumspielte. Sie hatte, ohne es zu wissen, die Überzeugung: Pride sei nicht umgebracht worden, sie habe nur ihr Kommen aufgeschoben; und wenn sie ein anderes Kind bekommen sollte, würde es Pride und nur Pride sein.

Nicht oft hörte sie Prides Stimme, aber sie vergaß sie niemals ganz, als sie zurückging in eine Welt, in der sie die tüchtige Miss Vickers war, in der es völlig unvorstellbar war, sie könnte ganz gewöhnlich und vulgär »ruiniert« sein, könnte je mystische Anwandlungen haben oder auch nur eine Sekunde lang daran zweifeln, daß der Unterricht in Shakespeare, Korbflechten, schwedischer Gymnastik und dem Grüßen der Landesfahne aus Einwandererkindern flugs musterhafte Staatsbürger mache.

Sieben Wochen nach ihrer Rückkehr geriet das russisch-jüdische Viertel um sie herum in rasende Aufregung über die Nachrichten von der bolschewistischen Revolution, und sie überlegte sich, ob es Pride nicht bestimmt gewesen wäre, diesen 7. November 1917 als vielleicht den größten Tag der Geschichte zu erleben; entweder als den Beginn einer guten neuen Welt, oder als das Ende einer guten alten Welt.


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