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21

Sie hatten drei Seemeilen Sicht. Das Schiff war von der ganzen bekannten Welt abgeschlossen in einem grauen Zauberkreis von regengesprenkelter Dünung und zerfetzten Wolken, die den Horizont verdeckten. Die langweilige Beständigkeit des Festlandes war verschwunden. Ann fand das gleichmäßige Rollen des Schiffs belustigend, sobald ihre Landrattenangst beruhigt war und der Anblick der munteren Deckstewards sie davon überzeugt hatte, daß dies alles normal und in Ordnung sei. Warm eingewickelt in ihrem Deckstuhl, kam sie sich so isoliert vor wie das einsame Schiff; all ihre Betriebsamkeit schien sie verlassen zu haben.

»Von jetzt an, bis ich den Fuß wieder auf die Mole in New York setze, denk ich nicht eine Sekunde lang an Sozialarbeit oder Reformen oder Stellungen oder Weltverbesserer oder sonst was; nur an die Abenteuer, die ich erleben will«, gelobte sie sich.

Sie wollte tanzen hier an Bord, wollte flirten, auf die Fahrgeschwindigkeit des Schiffs wetten, jeden Abend zwei Cocktails trinken. Dann wollte sie sich ausschließlich das Europa der Burgruinen, Fachwerkdörfer, Cafés und großen Galerien ansehen, das Europa der Ansichtspostkarten.

Als Anleitung dazu und zur Inspiration hatte sie sich Andrew Langs »Romanze« mitgenommen:

»Aus fernen Tagen rauscht ihr her,
Ihr Nordlandwälder grün und weit.
Es steht ein grauer Turm am Meer,
Der weiß von meiner Seligkeit.
Die Welle sang, der Strand entschlief,
Und Wipfel brausten kühl und tief.

Die helle Nacht ergänzte mild,
Und langsam losch die Sonne aus.
In weißen Rudeln zog das Wild
Entlang dem Saum des Wäldergraus.
Der Tag ging auf, und mit dem Licht
Entschwand es wie ein Traumgesicht.«

Das war das Europa, das sie suchte; ein Europa ohne Streiks und ohne Statistiken, ohne Nachkriegs-Inflationen und ohne amerikanische Touristen, die Buchweizengrütze mit Ahornsirup haben wollen. Sie war so abgespannt, daß die Müdigkeit in ihren Muskeln saß, wie Asche im Haar einer Trauernden. Aber – oh, nur noch einen Augenblick oder zwei für Berufssorgen. Sie mußte die Inventur der Gedanken über ihre Arbeit abschließen.

Ja, sie war froh, daß sie für Ardence Benescoten gearbeitet hatte, aus vier guten Gründen: sie hatte einsehen gelernt, daß die schlechteste berufsmäßige »Sozialarbeiterin« – die flüchtigste Bedürftigkeitsprüferin, das schnippischste Telefonmädchen im Institut für Organisierte Wohlfahrtspflege, die verschrobenste Vorsteherin eines Stellennachweises – auf jeden Fall mehr taugte als die beste reiche Amateurin, die herablassend an Ausschußsitzungen teilnahm und die »Wohltätigkeit« als Ersatz für Bridge betrachtete. Waren die Professionals auf die Dauer nicht immer besser – in der Wohlfahrtsarbeit, in der Literatur, in der Medizin, beim Autofahren und in der Prostitution?

Zweitens hatte sie sich eine so erfreuliche Verachtung für die ganz reichen Leute zugelegt, daß ihre Wünsche nie wieder über ein kleines Landhaus und eine bezahlte Stromrechnung hinausgingen. Bei Ardence hatte sie sie kennengelernt: den Bankier, der mit Senatsmitgliedern bekannt ist; den großen Forschungsreisenden, der manchmal als kümmerlicher geologischer Assistent mitfahren darf; den Fabrikanten von Wasserklosetts, der Gesandter in Siam zu werden hofft; die verwelkte alte Frau, deren einziger Unterhaltungsgegenstand die Verschlagenheit und Faulheit ihrer siebenundzwanzig Dienstboten ist. Im Gegensatz zur Meinung der sozialistischen Zeitschriften waren sie durchaus kein Geschlecht von Übermenschen, die sich mit satanischer Voraussicht dazu verschworen, die ehrlichen Arbeiter niederzuhalten. So tüchtig waren sie gar nicht! Sie waren einfach fade und meistens gelangweilt.

Ferner brauchte sie sich keine Sorgen darüber zu machen, was sie nach ihrer Rückkehr anfangen sollte. Lindsay Atwell saß im Kuratorium des Instituts für Organisierte Wohlfahrtspflege und hatte mit dem Direktor gesprochen. Sie konnte, sobald sie wollte, eine ausgezeichnete Stellung als Stellvertretende Leiterin haben.

Und die vierte Gabe, die Miss Ardence Benescoten ihr unwissentlich geschenkt hatte, war die Freundschaft mit Lindsay Atwell. Er war da, dahinten in New York; eine ständige und beruhigende Tatsache, wie Dr. Wormser, wie rauchverschleierte Sonnenuntergänge oder wie die Fifth Avenue im Schnee bei Dämmerung.

 

Da war der Diamantenhändler. Er machte die Überfahrt zwei- bis sechsmal im Jahr und wußte deshalb alles über Schiffe. Jedenfalls konnte kein Kapitän mit so fließender Beredsamkeit die automatische Steuerung erklären, kein Obersteward mit solcher Emphase Vorschläge aus dem Menu und der Weinkarte machen. Aber all seine Informationen waren nur Präludien zu einer kleinen Affäre. Er brachte es fertig, selbst einem Satz wie: »Heute morgen habe ich einen Tümmler gesehen«, den Sinn zu geben: »Ich möchte mit Ihnen schlafen.« Ann hatte theoretisch nichts dagegen, sich wieder verführen zu lassen. Es war eine nette Gelegenheit dazu, Ferien, keine Vortragsverpflichtungen. Aber sie hatte etwas dagegen, keine individuelle Frau zu sein, sondern nur eine Nummer.

Da war der Junge, der gerade Princeton absolviert hatte und jetzt zum Studium an der Sorbonne hinüberfuhr. Er war erfrischend wie kaltes Wasser. Aber er kam ihr so jung vor! Obwohl Ann selbst erst acht Jahre aus dem College heraus war, kam sie sich vor wie eine Hundertjährige, etwas lädiert und optimistisch nur aus Trotz und reiner Energie, als der Junge schwärmerisch sagte: »Sie sind in der Sozialarbeit? Oh, das möchte ich auch! Meinen Sie nicht auch, daß schließlich und endlich die wichtigste Sache in der Welt Gerechtigkeit ist?«

Das gute Kind! Was dachte es sich dabei? Was war denn »Gerechtigkeit«? Vor einem Jahr hätte sie darauf antworten können. Nun dachte sie grüblerisch: »Er hatte schon recht, Pontius Pilatus.«

Da war die Gruppe der soliden, ernsthaften, unverliebten, unidealistischen Alkoholiker an der Bar, die sie gegen Ende der Überfahrt fast als männlichen Kameraden anerkannten. Sie schnüffelten nicht wie der Diamantenhändler oder der Theaterunternehmer, mit geblähten Nüstern nach dem Geruch der Wäsche schnuppernd, um die Kabinen der Frauen herum. Sie reagierten das in Whisky-Sodas, endlosen Geschichten und wieherndem Gelächter ab. Ein Bergwerksingenieur, ein paar Zeitungsleute, ein österreichischer Arzt, ein verschrobener, konservativer Fabrikant aus Chicago, ein italo-amerikanischer Antipasti-Importeur, ein schottischer Bankvorsteher aus Trinidad und ein ehemaliges Kongreßmitglied aus Arkansas.

Sie nannten sich »Wirklich Tasmanischer Sabbat-Heiligungs- und Kaninchen-Jagd-Verein«.

Das war etwas Wirkliches, war Realität.

Ann schalt sich selbst ob dieser ungeistigen Ansicht.

Inwiefern sollten diese munteren unkomplizierten Spötter »realer« sein als Dichter, die den Schleier von den Geheimnissen der Seele nehmen, als gequälte Reformatoren, die in einem menschlichen Wesen nicht hundertfünfzig Pfund durch Beefsteakessen und Schlaf auf Roßhaarmatratzen am Leben erhaltenen Fleisches sehen, sondern eine Größe in einer Gleichung, die das Paradies auf Erden ausdrückt?

»Ja, aber sie sind eben einfach realer!« sagte Ann.

In dieser alkoholischen Gesellschaft vergaß Ann eine Welt, deren Bewohnerschaft in abgearbeitete »Weltverbesserer« und »Fälle« zerfiel, gewann sie vieles von der Weisheit zurück, die sie als zehnjähriges Kind in Waubanakee besessen hatte; sie begriff, daß die meisten Menschen weder Engel mit Brillen noch arme Leute mit Tuberkulose waren, sondern solide, sture, unromantische Bürger, die mit Vergnügen frühstückten, um sieben, acht oder neun in ihre Büros, Läden oder Fabriken gingen, sich für Spiele, die in der schnellen Fortbewegung kleiner Bälle bestehen, interessierten, komische Geschichten sowie den Anblick von Politikern und Bischöfen liebten, sich mit ihren Frauen zankten und an ihren Kindern herumnörgelten, sie aber trotzdem gern hatten und für sie nach Wohlstand jagten, die unerwartet viel von den kleinen Details ihrer Berufsarbeit verstanden, die es allen Befürchtungen der Propheten zum Trotz fertiggebracht hatten, durch die dreißigtausend Jahre seit der letzten Eiszeit durchzukommen, Kaffee und Rasierapparate und die autogene Schweißung zu erfinden, und wahrscheinlich noch weitere dreißigtausend Jahre weitermurksen würden. Und sie waren gutartig, wenn sie eine Sache begriffen hatten. Ihre beängstigendsten Blödsinnigkeiten – Krieg, Klatsch, Niedertracht, Eitelkeit – stammten nicht aus angeborener Bosheit, sondern aus Mangel an Wissen und Mangel an Phantasie.

Nein! Die wirklichen Tasmanier brachten ihr wieder bei, daß die Masse der gewöhnlichen Menschen nicht aus so hoffnungslosen Kretins und Sadisten bestand, wie Mamie Bogardus, Belle Herringdean und, wenn sie vor acht Uhr dreißig aufstehen mußte, sogar auch Dr. Wormser dachten, sondern gutes Material war, dem nur eine Umstellung der Drüsen oder eine zufällige Krise fehlte, um zu Heiligen oder Helden zu werden. Und das war gut so. Denn wenn die meisten Menschen Idioten wären, wie Anns intellektuelle Bekannte zu glauben schienen, wozu sollte man dann wählen oder Krankenhäuser einrichten, Artikel schreiben oder etwas für die Gemeindeschulen tun, oder überhaupt irgend etwas anderes unternehmen, als sich Shakespeares Werke und eine Tonne Bohnen mitnehmen und sich in eine Höhle zurückziehen?

Die Entdeckung, die Ann da machte – daß Leute tatsächlich Leute sind – war gar nicht so einfach und selbstverständlich.

Generationen hindurch hatten die Prediger gejammert, daß die meisten Leute überhaupt keine Leute wären, sondern Untermenschen und Teufelsgezücht, weil sie tranken und sich prügelten, hurten und rauchten und nicht in die Kirche gingen. Neuerdings, seit dem Krieg, war in Amerika eine Sekte entstanden, die mit nicht weniger Ernst behauptete, die meisten Leute seien überhaupt keine Leute, sondern Untermenschen oder gar Baptisten, weil sie nicht genug trinken, sich prügeln, huren, auf die Kirche schimpfen und vor dem Frühstück rauchen. In ihrem Vertrauen auf die Zukunft des Menschengeschlechts war Ann also nicht nur eine Revolutionärin, sie war eine Nihilistin.

Mit geheimen Entschuldigungen vor der Kriegsaxt und vor Eleanor erfreute sie sich von elf bis eins und von fünf bis Mitternacht schuldbewußt der ausschließlich männlichen Kameradschaft der Wirklichen Tasmanier; sie war glücklich darüber, daß sie als Mann behandelt wurde, der sich nicht gleich über eine gute saubere Schweinerei entsetzt, und besonders glücklich darüber, daß sie ein Gegenstand fieberischen Klatsches für alle andern Frauen an Bord war.

Die Wirklichen Tasmanier bestärkten sie nicht in ihrer Erwartung eines Märchen-Europa ausschließlich aus »Nordlandwäldern grün und weit; in weißen Rudeln zog das Wild«. Deren Erwartungen bezogen sich, soviel ihr klar wurde, auf die Bar im Savoy, die Rennbahn in Longchamps und Büros in Cheapside, am Boulevard Haussmann und Unter den Linden. Aber sie wollte den Tower von London sehen, das Domkapitel in Salisbury und eine Klippe voll Goldmeerfenchel über der See.

 

Spät an ihrem ersten Nachmittag in London verließ Ann ihr sittenstrenges Hospiz in Bloomsbury. Sie lief unbekümmert und planlos herum, ohne ihren Baedeker zu Rate zu ziehen. Sie warf einen Blick in Lincolns Inn und Temple, sie freute sich über das Fachwerk an Prince Henry's Council Chamber, über Erinnerungen an Lamb und Thackeray, sie sah das Grab von Goldsmith und die normannische Rundkirche. Aber nach einem Gewirr von Brücken und donnernden Verkehrsstraßen fand sie sich in Bermondsey und entdeckte ein London, das in den berauschenden Prospekten der Dampfergesellschaften nicht erwähnt war.

»Sie müssen sich das wirkliche London ansehen«, hatten ihr alle Leute gesagt. Schön, hier war sie im wirklichen London, wenigstens in einem wirklichen London, in Bermondsey, und sie begriff, daß das majestätische London, ebenso wie das prächtige New York, vermutlich wie jede Stadt in der Welt, nichts war als ein, zwei Quadratkilometer von schönen Läden, Schlafzimmern und öffentlichen Gebäuden, umgeben von Quadratmeilen von Häusern gleich Verschlagen auf einem Schlachthof, Talmiläden und schmutzigen Fabriken. Die Seitenstraßen Bermondseys, trostloser noch als die Brooklyns, waren lange Reihen gesichtsloser Häuser, in denen menschliche Wesen offenbar so wenig eine lebenswerte individuelle Existenz führen konnten, wie Ameisen in einem Ameisenhaufen. Die zahllosen Kinder waren schmutzig; die Männer, die von der Arbeit kamen, erschöpft und verbraucht; die Frauen zertretene Geschöpfe.

Mit dem Verstand wußte Ann längst, daß Armut in England nicht erfreulicher sein konnte als Armut in Harlem oder San Francisco. Aber mit dem Gefühl hatte sie nichts dergleichen geglaubt. Die Frauen englischer Vikare und die Schriftsteller aus England, die in ihren Vorträgen in Amerika durchblicken ließen, daß sie einer reiferen und verfeinerteren Zivilisation angehörten als das unkultivierte Amerika, hatten in Anns Phantasie die Vorstellung erweckt, ganz England bestände nur aus Landhäusern inmitten von Wiesen, die ununterbrochen, Sommer und Winter, voller Lerchengesang und Rosen wären, und dazu käme ein London, das sich ausschließlich aus alten Kirchen, Buckingham Palace, den eleganten Wohnungen von Baronets, den malerischen Mansarden von Dichtern und den Reden von Mr. Winston Churchill zusammensetzte.

Aber hier waren Meilen zweistöckiger, von Kohlenrauch geschwärzter Ziegelhäuser. Dann machten die Pubs auf. Und diese Londoner Wirtshäuser waren von allem, was sie zu sehen bekam, der schlimmste Schlag gegen die Romantik.

Die wandernden Barden vom Schlage Mr. Gilbert K. Chestertons hatten sie gelehrt, daß in England alle Bierausschänke voll wären von Melodien, Gelächter, lustigen Wirtshausschildern und Gesprächen über Sonnenuntergänge. Diese Heiligtümer wollte sie bewundern. Sie sah Frauen in Umschlagtüchern in ein Pub in der Tooly Street hineingehen – es nannte sich »Eber und Bulle«, aber vernünftigerweise hätte es »Kaltes Kotelett und Suppenfleisch« heißen sollen. Sie nahm ihren Mut zusammen und ging den Frauen nach, bestellte sich ein Glas Bier und setzte sich auf eine saubere, aber trostlose Bank in einem sauberen, aber graugestrichenen Raum. Der Schanktisch, eine Theke aus Fichtenholz, war gelb gestrichen und mit einer künstlichen Maserung versehen, die ein Holz imitierte, das niemals, weder zu Lande noch zu Wasser, existierte. Das Barmädchen war eine Dame von sechzig mit streng geschlossenen Lippen und streng gescheiteltem Haar, die nicht aufhörte, an einem und demselben Glas herumzupolieren, als müßte sie einer persönlichen Abneigung Luft machen. Vor dem Schanktisch standen zwei ehrwürdige Damen in Umschlagtuch und Schürze, und ein Herr unter Mittelgröße, der statt des Kragens ein Halstuch umhatte.

Sie husteten, um die Unterhaltung einzuleiten. Ann horchte. Und nun kam die Lyrik, die Chestertons malerischen englischen Trunkenboldes in der malerischen englischen Gasse würdig war:

»Guten Abend, Mrs. Mitch.«

»Oh! Ich hab Sie ja gar nicht erkannt! Guten Abend, Mr. Dewberry.«

»Bißchen kühl heute.«

»Ja, ziemlich.«

»Tja, guten Abend, Mrs. Mitch.«

»Nabend, Mr. Dewberry.«

Dann mürrisches und bierduftendes Schweigen; nur das Barmädchen antwortete einem unsichtbaren lustigen Zecher im Extrazimmer: »Eine Pinte Bitter? Jawohl, der Herr! Eine Pinte Bitter!«

Ann ging nach Hause und aß unterwegs in einem ABC-Restaurant ein Dinner aus Fleischbrühe, Hammelfleisch und Rosenkohl. Da es zu spät war, um noch irgend etwas anderes zu unternehmen, ging sie in ihr Hotel, das Royal William, zurück und setzte sich in die Halle mit der immergrünen Aspidistrapflanze und der Wandverkleidung aus lackiertem braunem Linoleum; sie versuchte, sich in ihrer betrübten Einsamkeit durch die Lektüre der Peersliste in Whitakers Almanach zu erheitern, der mit Bradstreets Nachschlagebuch und dem ABC-Führer zusammen die Bibliothek des Royal William bildete.

Wie alle Amerikaner war sie der Meinung gewesen, daß die meisten Adelstitel auf die normannische Eroberung zurückgingen; nun sah sie mit Staunen, wie viele Peerswürden seit 1890 verliehen worden waren, und wie wenige vor 1600. Dann fiel ihr ein: »Ach, hör doch auf! Kann ich die Zahlen denn nie aus dem Kopf kriegen? Daten! Statistik der Bevölkerungsbewegung! Zahl der Scheidungen auf hunderttausend – neun Komma sieben plus! Lohntarife! Genaue Entfernung in Kilometern von Marble Arch zum Metropole in Brighton! Was ist das für ein Gehirn! Das hat man von der Wohlfahrtsarbeit! Kannst du nie dein Metermaß von Intellekt zu Hause lassen und in der Phantasie leben? Kannst du nicht die Gegenwart von John Keats und Karl dem Ersten spüren?

Nein, wenn du's durchaus wissen willst, ich kann's nicht! Karl der Erste! Bloß weil er einen Spitzenkragen und einen Bart wie ein Zahnarzt hatte! Ich will über Lohntarife Bescheid wissen! Ein paar Leute, gar nicht so wenige, die am Sonnabend ihre Lohntüten kriegen, scheinen sie für ebenso wichtig wie Schatzkammern und Schießscharten zu halten!«

Aber die schönen Namen! Wenn Vater bloß Leopold E. Godolphin Walmesley Wilfrid Cavendish Tatem Vickers, K. M. G., D. S. O., F. R. F. P. S. G., Erster Baron Waubanakee hätte sein können, was hättest du da für Chancen gehabt, Mädelchen!

 

Sie gab sich Mühe, ihre Pflicht als Reisende zu tun. Sie ging artig nach Oxford, aber sie behielt einen Universitätswürdenträger mit Vollbart und Talar auf einem Fahrrad besser in Erinnerung als Dome und Torbogen. Sie wanderte feierlich durch Schloß Kenilworth und redete sich ein, sie könne das Geklirr der Waffen hören; aber nachher, über einem dieser weichen weißen Fische, die die Engländer für eßbar halten, gestand sie sich, daß sie keinerlei Geklirr gehört hatte, und daß, soweit die Sache sie etwas anging, Kenilworth so gut wie völlig zerstört war.

Von nun an sah sie sich kein einziges Schloß mehr an, kein einziges Versteck des Lustigen Prinzen Charlie. Sie trieb sich in den Fabrikstädten um Manchester herum (sie waren nicht ganz so dreckig wie Pittsburgh) in den modernen Kunstseidefabriken Surreys, in den Missionen an der Commercial Road, und in den Docks von Poplar. Sie entdeckte Cornwall – nicht das Cornwall des Goldmeerfenchels, sondern das der häßlichen Steinhäuser, in denen Zinnbergleute wohnen, die zwei Pfund in der Woche verdienen.

Und weil sie das arbeitende England sah, die Kessel und Kohlengruben und Dynamos hinter den Rampenlichtern, liebte sie es und fühlte sich in ihm unendlich mehr zu Hause als in zerfallenen Abteien. Das England, das sie vor Augen hatte, war nicht tot wie das liebliche Venedig, wie das schlafende Charleston, oder wie Athen, dessen Marmor in goldfarbenen Staub zerfällt. Wie ihr Amerika zu Hause hatte es Probleme zu lösen; es kämpfte; es war lebendig. Es war der Reliquienschrein um Shakespeares Blut, nicht um seine Knochen!

Bei diesen Forschungsreisen war sie nicht auf die üblichen Bekanntschaften des Reisenden beschränkt, als da sind: Kirchendiener, Kellner, Billettverkäufer und andere Reisende mit sehr müden Beinen und Heimweh, die den Unterschied zwischen alten Zisterzienserklöstern und alten Zisternen nicht ganz begreifen.

Sie schickte die Empfehlungsbriefe ab, die nicht abzuschicken sie sich geschworen hatte, und sofort war sie gut bekannt mit Labour-Abgeordneten, Journalistinnen, indischen Nationalisten und pazifistischen Generälen; sie ging auch, wenigstens einigermaßen ehrfürchtig gestimmt, in die Toynbee Hall, die Mutter aller Wohlfahrtshäuser. Wehmütig gestand sie sich ein, daß es für sie keinen Sinn hatte, gebildet über Kathedralen zu schwatzen, zu wissen, wo Dr. Johnson mit Mrs. Thrale (wenn es Mrs. Thrale war) Tee zu trinken pflegte (es war doch Tee?) oder sich zu merken, in welchem Restaurant in Soho es die wunderbaren Schnecken gab und den merkwürdigen Kellner, der Anatole France gekannt hatte – oder vielleicht war es auch Voltaire; und mit Begeisterung sprach sie mit ihren Londoner Berufsgenossen über die Abrüstung (für die sie viel Begeisterung und kein Zahlenmaterial hatte), über die Volksabstimmung im Memelgebiet, den Oedipuskomplex, das Antioch-College, Ramsay MacDonald und die beste Methode, jüdischen Schneidern das Cricketspiel beizubringen.

 

Ann hatte noch nichts vom Kontinent gesehen, obgleich ihr Geld schon zur Neige ging, und es war Zeit, nach Hause zu fahren. Aber es war Frühling, englischer Frühling. Sie lernte von neuem eine Kunst, die das Automobil alle echten Amerikaner hat vergessen lassen, nämlich den Gebrauch der Beine. Sie ging in Kew Gardens spazieren. Mit zwei englischen Studentinnen radelte sie von Reigate nach Tonbridge, von Petworth nach Petersfield. Wenn sie auf diese bescheidene Weise durchs Land reiste und ihr Rad bergauf schob, fühlte sie sich nicht als Ausländerin; sie gehörte zu England ebenso wie zu Amerika. Das stille Sussex lag näher an dem stillen Waubanakee als die Fifth Avenue.

Bevor sie abreiste, hatte sie noch ein Weekend ganz für sich, ohne ihre Studentenfreundinnen.

Ihr ganzes Leben lang hatte sie niemals intime Freunde gehabt, außer ihrem Vater, Oscar Klebs, Lafe Resnick, Pat Bramble, Eleanor und Dr. Wormser. Aber sie war immer in Gesellschaft gewesen. Jetzt entdeckte sie, daß der Sinn des Reisens nicht darin besteht, neue Leute zu suchen, sondern den Leuten zu entfliehen und in fremder Umgebung das eigene fremde Ich zu entdecken.

Sie fuhr mit der Bahn nach Arundel, und dann mit dem Rad nach Amberley, unter den kahlen Höhen von Sussex. Es war das malerische Dorf schlechthin, wie aus einem Weihnachtskalender. Ein paar Minuten lang glotzte Ann wie irgendein braver Reisender und dachte nicht an Zwangsneurosen und die Löhne der Heringsfischer. Sie stieg zu einem eichenumrauschten Felsen ganz oben auf den Hügeln hinauf und betrachtete den Fall Ann Vickers in dieser komplizierten Welt, die alles in sich schließen konnte: die Höhen von Sussex, die Sklaverei in Liberia, Belle Herringdean, den Fürsten Kropotkin, der gerade in diesem Jahr gestorben war, und Präsident Harding, der eben sein Amt angetreten hatte.

Sie mußte zu ihrer Arbeit zurück. Wenn sie zur »Sozialarbeit« zurückkehrte, war es wahrscheinlich für immer.

Darüber mußte sie mit sich ins klare kommen. Nie wieder wird sie dreißig sein und allein in der Frühlingssonne auf einem Hügel in Sussex sitzen, nie wieder wird sie ganz unabhängig sein, soweit ein Mensch das überhaupt sein kann, und die Freiheit haben, sich Arbeit und Umgebung nach Belieben auszusuchen.

Es war ein klar begrenztes mächtiges Reich, das der »Sozialarbeit«, der berufsmäßigen Unzufriedenheit mit den Verhältnissen, wie sie sind. Es war den meisten Leuten, die Gemüse verkauften und Kartoffeln jäteten, unbekannt. Es war vom gewöhnlichen Leben so scharf unterschieden wie die Flotte oder die Priesterschaft, und ebenso wie diese, in Recht oder in Unrecht, von gleicher Leidenschaft besessen. Reform. Eine ganze Welt – Unterstützungsverteilung, Gefängnisreform, Kampf für Redefreiheit, Scheidungsfreiheit und Geburtenreglung, für kurze Haare und Sprungfedermatratzen in Holzfällerlagern – eine fiebernde Welt aus Heiligen, Gaunern, Publizitätshyänen, Humoristen, die Senatoren in Stetsonhüten komisch, und Senatoren in Stetsonhüten, die Wall Street schrecklich finden, aus ernsthaften Vegetariern, die gegen Beefsteaks, und zynischen Ärzten, die gegen die Vegetarier Krieg führen, und aus munteren jungen Leuten, denen es ganz einfach Freude macht, tote Katzen in Heiligtümer zu werfen.

Diese Welt hatte ihre offenbaren Fehler. Noch verhaßter als die ausgekochten Zeitungsleute, die »Ismen« jeder Sorte verreißen, waren Ann, weil sie selbst mit ihnen zu tun hatte, die geisteskranken Mitläufer: die unterernährten Pastoren, die in die Zeitungen kommen, weil sie Anarchismus oder gar Kubismus predigen, und die überernährten Pastoren, die die Massen an sich ziehen, indem sie auf Alkohol und Prostitution (mit interessanten Abbildungen) schimpfen. Die Leute, die die Autorität lieben und sie am billigsten im Umgang mit den furchtsamen und widerstandslosen Armen zu bekommen hoffen. Die Leute, die an der ganzen Menschheit die Kümmernisse ihrer eigenen kümmerlichen Kindheit abreagieren wollen. Die Demagogen, die mit der gleichen Begeisterung erwählte Vertreter Moskaus sowie des Rittenhouse Square sein können.

Ja, sagte Ann zu, sich selbst, es ist eine verrückte, schwierige Welt. Aber alle Welten, sagte sie sich, die über Matratzen, Straßenbahnwagen und Haferbrei hinausgehen, sind verrückt und schwierig.

»Solang es einen hungrigen und arbeitslosen Menschen, ein mißhandeltes Kind, einen Sumpf in der ganzen Welt gibt, der Malaria ausbrütet – und all das wird es zweifellos immer geben – muß ich weiter auf Faulheit und Grausamkeit schimpfen. Ich muß es tun, und wenn es auch dazu führt, daß ich mir selber ekelhaft werde, als eingebildete Person – als sentimentales Geschöpf – als Scharlatan – als Egoistin, die ihren eigenen Sparren gegen die Weisheit der Jahrhunderte setzt (diesen dämlichsten aller Aberglauben!)«

Aber noch war es nicht zu spät für sie, sich der Manie der Nächstenliebe zu entziehen. Sie war nicht deshalb Reformatorin, weil sie im praktischen Leben versagt hatte. Sie hatte nichts Schweres darin gesehen, einem Büro vorzustehen, pünktlich zu sein, Stenotypistinnen Anweisungen zu geben, sich klar darüber zu sein, was ihre Konkurrenten tun würden – in all diesen okkulten Riten, mittels deren Männer Präsidenten, und Badewannenfabrikanten so erlauchte Persönlichkeiten werden, daß ihre Biographien in den Magazinen abgedruckt werden. Sie konnte »etwas leisten« in geschäftlichen Dingen. Man hatte ihr die Leitung der Frauenabteilung einer Bank in Rochester angeboten.

Warum nicht?

Das Geschäftsleben – es war nicht nur der schmutzige Schacher, für den die Intellektuellen es hielten. »Ins Geschäft zu gehen«, das war für eine Frau oder für einen Mann des frühen zwanzigsten Jahrhunderts ebenso natürlich wie für einen Bürger von 1200, die Kreuzzüge mitzumachen. Es war der Geist der Zeit, und wie konnte man das Gesicht einer Epoche verändern, wenn man an ihrem Geist keinen Anteil hatte? Kontrollierten nicht heute die Geschäftsleute die Politik, veranlaßten sie nicht die Prediger, Prosperity zu predigen, und die Schriftsteller, solche Detektivgeschichten zu schreiben, wie die Geschäftsbarone sie als Ablenkung brauchten? War es nicht eine fruchtbare Idee, die begabteren jungen Leute dahin zu beeinflussen, daß sie Kaufleute wurden und auf diese Weise die sicherlich nicht unedle Beschäftigung vergeistigten, die Welt mit guten Schuhen, zarten Beefsteaks, gut schäumender Seife und schönem Linoleum zu versorgen?

War das nicht vernünftig?

»Ach, wahrscheinlich«, seufzte Ann. Sie war abgespannt jetzt. Die Sonne hatte sich hinter Wolken versteckt, und der Wind ging kühl. »Aber ich habe nie nach dem Vernünftigen gesucht, nicht in der Arbeit und nicht in der Liebe. Ich habe nach dem gesucht, was der Soldat ›Abenteuer‹, was der Priester ›Gnade‹ nennt. Ich will weitermachen und ein lästiger Stänker sein! Denn die Weisheit der Welt, ja, selbst die Weisheit der Baptisten und Methodisten, der Wäschereileute und der Garagenmänner, der Republikaner und der Golfspieler ist Torheit vor Gott.«

Als sie aber auf dem Rad nach Arundel zurückfuhr, war ihre Tochter Pride neben ihr und bat sie, ihr die Sicherheit eines Heims zu geben und nicht steinige Wege über windgepeitschtes Hochland.

Und so kehrte Ann im lachenden Frühling – der sich auf dem Atlantik in zwei Stürmen und drei Tagen Nebel manifestierte – nach Amerika zurück.


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