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Ihr Appartement war ebenso modern wie das Stuyvesant-Arbeitshaus und sah, obwohl sie dafür nichts übrig hatte, nahezu ebenso sachlich und nüchtern aus. Als sie noch mit Pat Bramble zusammen wohnte, hatte sie es recht nett gefunden, die Arbeiten des Haushaltführens auf sich zu nehmen. Aber jetzt mußte sie ein- bis zweimal in der Woche ausgehen und bei überaus wichtigen Dinners Ansprachen halten – bei Dinners der Liga zur Verbreitung von Kultur und Bildung in Ländlichen Gemeinden, der Liga für Siedlungswesen in Industriezentren, des Ausschusses für Beschäftigung nicht rückfälliger ehemaliger Sträflinge, der Alumnen der Phi-Tau-Delta-Schwesternschaft des Point Royal College, der Illinois-Gesellschaft, des St.-Stephen-Frauenzirkels für Soziologische Studien (Brooklyn) oder der Unabhängigen Gegenseitigkeitsvereinigung der Bürger des Bezirks Stuyvesant – jetzt mußte sie manchmal bis zwölf Uhr nachts im Gefängnis bleiben – sie wurde täglich von Berichterstattern angerufen, die von ihr hören wollten, wie sie über kurzgeschnittenes Haar als Anreiz zu Verbrechen und über den Einfluß der Romanlektüre auf Sexualverbrechen denke – entzückend zarte Berichterstatterinnen telefonierten sie an, um ihre Ansicht über die Ehescheidung kennenzulernen – entlassene weibliche Sträflinge warteten an ihrer Tür, um sich Rat und ein wenig Hilfe über einige Zeit zu holen – Versicherungsagenten kamen des Abends zu ihr, um ihr zu erläutern, sie habe eine besonders gefährliche Beschäftigung (sie brachten Statistiken mit über die Anzahl der Gefängnisbeamten, die bei Revolten ums Leben gekommen waren) – allmonatlich schrieben ihr 750 331 junge Mädchen, baten sie um ihr Autogramm oder um Ratschläge, wie sie nach New York kommen und in das romantische Reich gelangen könnten, das da hieß »Sozialarbeit« – sie wußte nie, ob Lindsay Atwell um sechs oder um sieben oder um elf auftauchen und bei ihr einen Bissen essen oder sie ins Casino führen wollte – es war keine Pride da, für die sie an gute Luft und Ruhe denken mußte – kurz, sie war nun eine Bedeutende Frau geworden und recht einsam, und da wäre es zu viel gewesen, sich mit Haushaltsdingen und zahllosen Rechnungen abzuquälen; sie hatte sich also ein kleines Appartment in dem neuen Hotel Porto Fino genommen, in den Neunzigerstraßen im Osten, auf halbem Wege zwischen dem Gefängnis und dem Viertel der Theater und Restaurants.

Es war kein sehr großes Hotel. Aber um das wettzumachen, hatte es unbeschreiblichen Marmor, Telephone, Radios, ewig grinsende Pagen mit Affenjacken und gekräuseltem Sizilianerhaar, rätselhafte und unglücklich aussehende alte Männer mit blauen Baumwolljacken und langen grauen Schnurrbärten (sie gingen stets mit Werkzeug umher und reparierten etwas, das nie ganz in Ordnung kam) prächtige Perserteppiche, etwas weniger prächtige japanische Drucke, und Telephonistinnen, die einem sagten: »Ja? Na, ich bestell's Ihnen ja bloß; wer's ist, weiß ich nicht.«

 

Ann hatte ein Wohnzimmer voll der sauberen, sachlichen, tüchtigen Helligkeit von Stahl und Zement und gekörnter Tünche. Hohe Fenster mit metallenen Längspfosten. Von da aus konnte man den East River sehen und die heiseren Rufe der Dampfer hören, von denen Ann sich gern vorstellte, sie führen aus nach Sevilla und Göteborg und Mangalar. Harte, in Zement eingelassene Linoleumböden. Hohe Wände – gerade Wände, die in trübseliger Kahlheit hoch und höher gingen, bis zu einer Decke mit scharfkantigen Trägern, die mit Stuck überzogen waren.

Mit ihrem kleinen Schatz an behaglichen, anheimelnden alten Sachen hatte sie aus dem Zimmer, so es eben ging, einen einigermaßen menschlichen Raum gemacht. Der Divan, auf dem Prof. Vickers an den Sonntagnachmittagen geschlafen hatte. Seine Dickensausgabe. Der David Copperfield, den sie, seitdem sie zehn geworden war, jedes Jahr einmal gelesen hatte. Die Water Babies, die er ihr geschenkt hatte, und die Idylls of the King mit Glenn Hargis' Unterschrift. Vier weiche Sessel, kleine Tischchen, und bei den Sesseln Leuchter zum Lesen. Regale mit braun gebundenen, schweren Büchern: Kriminologie und Strafrechtstheorie und Psychologie und all die anderen schweren, finsteren Wissenschaften, in denen sie Weisheit suchte.

Hinter diesem hohen Wohnzimmer lag ein Schlafraum, der nicht einmal so groß war wie ihr Kämmerchen damals in Waubanakee in Illinois, und ein Badezimmer, so klein, daß es gerade zu einer Brause ausreichte. Dann die Kochnische – New York war die größte Stadt der Welt, und darum gab es nicht Platz genug für einen großen Herd oder eine Reihe kupferner Kessel, aber es war eine ganz reizende elektrische Kaffeemaschine da, und sie hatte einen großen Kater, der auf den Namen Jones hörte.

Eine ganze Menge Menschen kamen zu ihr: Malvina Wormser, Lindsay Atwell, Pat Bramble, wenn sie gerade in der Stadt war, und eine Clique von Sozialarbeitern, wie zum Beispiel Russell Spaulding. Er war auf den Namen James Russell Lowell Spaulding getauft und unterschrieb sich »J. Russell Spaulding«, aber überall in der Welt radikaler Banketteilnehmer war er, aus Gründen, hinter die Ann niemals kam, unter dem Spitznamen »Ignatz« bekannt. Sie hatte ihn im Institut für Organisierte Wohlfahrtspflege kennengelernt, in dem er eine Abteilung leitete. Er zählte vierzig Jahre – also drei mehr als Ann – war ledig und erpicht darauf, sowohl Lebemann wie fortschrittlicher Menschenfreund zu sein. Mr. Spaulding war ein großer Mann mit rundem Gesicht und ein Freund kleiner Späßchen. Als Junge, so mutmaßte Ann, mußte er der traurig-sehnsüchtige Dicke gewesen sein, das Opfer aller »Witze« der Bande in dem Nest in Iowa, wo er seine Kindheit verbracht hatte, und er war nie ganz darüber hinausgekommen, der Bande imponieren zu wollen – in New York einem schattenhaften, nie in Vergessenheit geratenden Iowa imponieren zu wollen. Ann hatte Sympathien für ihn, weil er freundlich war, weil er nie böse wurde, wenn man ihn im letzten Augenblick zum Essen einlud, und weil er, ebenso zuverlässig wie Lindsay Atwell, daran dachte, anzurufen, wenn man einer Erkältung wegen das Haus hüten mußte.


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