Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

1

Gelber Fluss, der träg sein Wasser dahinwälzt, Weiden, die ihre Zweige in der lauen Augustluft bewegen, und vier Kinder, die berühmte Leute spielen – ein Spiel, das die berühmten Leute selbst zweifellos auch spielen müssen. Vier Kinder mit hellen Stimmen, harmlose, frische Kinder, die in ihrer gesegneten Unschuld nichts davon wissen, daß mit Fünfundvierzig Kompromiß und Müdigkeit da sein werden.

 

Die drei Jungen, Ben, Dick und Winthrop, hatten das ganze Frühjahr hindurch unter Geschichtsunterricht gelitten und bemühten sich jetzt, etwas Ordentliches damit anzufangen, indem sie Königin Isabella und Kolumbus spielten. Es herrschte Uneinigkeit darüber, wer von ihnen Isabella sein sollte. Während sie noch darüber stritten, kam in das Weidengehölz, jenes kleine Heiligtum der Kindheit, ein singendes Mädchen.

»Nanu, da kommt ja Ann Vickers. Die wird die Isabella sein«, rief Winthrop.

»Ach herrje, nein, sie wird uns das Ganze versauen«, sagte Ben. »Aber die beste Isabella wird sie wahrscheinlich doch sein.«

»Nö, gar nicht! Sie taugt nichts beim Baseball.«

»Nein, beim Baseball taugt sie nichts, aber sie hat einen Schneeball auf Reverend Tengbom geschmissen.«

»Ja, stimmt, den Schneeball hat sie geschmissen.«

Das Mädchen blieb, die Hände in die Seiten gestützt, vor ihnen stehen – ein stämmiges Ding mit kräftigen Schultern und mageren Beinen. Außer ihrem frischen, reinen Teint hatte sie nur eine Schönheit: dunkle, überraschend große, leuchtende Augen.

»Komm her, Isabella und Kolumbus spielen«, rief Winthrop ihr zu.

»Kann nicht«, antwortete Ann Vickers. »Ich spiel Pedippus.«

»Verflixt noch mal, was ist denn Pedippus?«

»Das war ein alter Eremitaner. Vielleicht hat er auch Pelippus geheißen. Auf jeden Fall war er ein alter Eremitaner. Er war ein mächtiger Prinz, und dann verließ er das Königsschloß, weil er sah, daß es sündhaft war, und er entsagte allen Freuden des Fleisches und ging in die Wüste und lebte dort von – ach, von Hafermehl und Erdnußbutter und so weiter und so weiter, in der Wüste nämlich, und betete die ganze Zeit.«

»Das ist ein miserabliges Spiel. Hafermehl!«

»Aber die wilden Getiere der Wüste, die waren immer in seiner Nähe, Pumas und so, und er zähmte sie, und sie kamen immer zu ihm, um ihn predigen zu hören. Jetzt geh ich ihnen predigen! Und ganz, ganz große Bären!«

»Ach los, spiel erst mal Isabella«, sagte Winthrop. »Du kannst auch meinen Revolver haben, solang du Isabella bist – aber wiedergeben – wenn ich Kolumbus bin, muß ich ihn haben!«

Er reichte ihr den Revolver, und sie untersuchte ihn kritisch. Obwohl es in der ganzen Kinderwelt weit und breit bekannt war, daß Winthrop ein so denkwürdiges Besitztum sein eigen nannte, hatte sie die berühmte Waffe noch niemals in der Hand gehabt. Es war ein richtiger Revolver, Kaliber 6 mm, von dem kein einziger Teil fehlte; allerdings war der Lauf so verrostet, daß man an der Mündung keinen Zahnstocher hineingebracht hätte. Bezaubert und ein wenig ängstlich schwenkte Ann ihn hin und her. Daß sie ihn in der Hand hatte, flößte ihr ein Gefühl der Heldenhaftigkeit und des Tatendranges ein, und wahrscheinlich verlor sie augenblicklich die ganze keusche Erhabenheit des Eremiten Pedippus.

»Also schön«, sagte sie.

»Du bist Isabella, und ich bin Kolumbus«, erklärte Winthrop, »und Ben ist König Ferdinand, und Dick ist ein eifersüchtiger Höfling. Die ganzen Leute am Hof, weißt du, wollen mir eins auswischen, und du sagst ihnen, sie sollen aufhören, und – –«

Ann holte sich mit einem Sprung einen abgeknickten Weidenzweig. Sie hielt ihn mit der linken Hand über den Kopf – die Rechte ließ den zauberhaften Revolver nicht los – schritt geziert zurück und befahl: »Auf die Knie, meine Vasallen. Nein, Ferdinand, du, du wirst wohl stehen müssen, wenn du mein Prinzgatte bist – nein, du wirst doch besser auch knien, sicher ist sicher. Nun sprecht, Kolumbus, was kann ich heute für euch tun?«

Der kniende Winthrop schrie: »Euer Majestät, ich will Amerika entdecken … Jetzt fängst du an auszuwischen, Dick.«

»Ach je, ich weiß nicht, was ich sagen soll … Hör ihn gar nicht an, Königin, der ist ja eine verrückte Nuß. Amerika gibt's überhaupt nicht. Seine ganzen Schiffe werden über den Rand von der Erde herunterrutschen.«

»Wer bestimmt hier, Höfling? Ich und sonst keiner! Natürlich kann er drei Schiffe haben, und wenn ich ihm mein halbes Königreich geben muß. Was denkst du, Prinzgatte? – dich mein ich, Ben.«

»Wer? Ich? Ach, mir ist es recht, Königin.«

»Dann vergebt euch zu den Schiffen.«

Am Flußufer lag angetäut eine alte Sandzille. Dorthin rannten die vier Kinder – Ann mit dem Revolver herumfuchtelnd. Sie lief ihnen allen voraus, sie war die schnellste und aufgeregteste. Bei der Zille rief sie: »Jetzt bin ich Kolumbus!«

»Nein, bist du nicht«, protestierte Winthrop. »Ich bin Kolumbus. Isabella und Kolumbus kannst du nicht sein! Und außerdem bist du überhaupt nur 'n Mädel. Jetzt gibst du den Revolver her!«

»Ich bin auch Kolumbus! Ich bin der beste Kolumbus. Also! Du kannst mir nicht einmal sagen, wie die Schiffe von Kolumbus geheißen haben!«

»Kann ich!«

»Also, wie haben sie geheißen?«

»Ja, jetzt fällt mir's nicht – – Du kannst ja auch nicht, du Obergescheite!«

»So, ich kann nicht, ich kann nicht, was!« krähte Ann. »Sie haben geheißen Pinto und Santa Lucia und – und die Armada!«

»Herrje, das stimmt. Da ist es schon besser, sie ist Kolumbus«, sagte bewundernd der entthronte König Ferdinand, und der große Seefahrer führte seine getreue Bemannung an Bord der Santa Lucia; der Sprung über den einen Meter breiten Wasserstreifen hatte durchaus nichts Zartes und Mädchenhaftes.

Kolumbus nahm seinen Platz am Bug ein – soweit man bei einem vorn und hinten gleich gebauten Kahn von einem Bug sprechen kann – beschattete die Augen mit der Hand, blickte über das zehn Meter breite Flüßchen hin und rief: »Ein großer, furchtbarer Sturm kommt, ihr Männer! Holt das Großsegel scharf bei! Refft alle anderen Segel! Katzen und Doria, wie das donnert und blitzt! Munter, munter, meine wackeren Männer, euer Kommandant legt mit Hand an!«

Mit vereinten Kräften bekamen sie alle Leinwand herunter, bevor der Orkan sich auf das wackere Fahrzeug stürzte. Der Orkan (vielleicht unterstützt von der Mannschaft, die sich auf eine Kante der Zille stellte und gehörig herumsprang) drohte die unglückselige Karavelle zum Kentern zu bringen, aber die Mannschaft rief tapfer hurra. Zweifellos flößte ihnen das Beispiel ihres Kommandanten Mut ein: er stand kühn da, das rechte Bein vorgestellt, die eine Hand an der Brust, in der anderen den Revolver, und rief laut: »Päng, päng, päng!«

Aber der Sturm blies gehässig weiter.

»Wir müssen ein Seemannslied singen, damit man sieht, daß wir wackere Herzen haben!« befahl Kolumbus und begann sein Lieblingslied zu singen:

»Bimmelt Glöckchen, bimmelt Glöckchen,
Bimmelt immer weiter.
Ach, so eine Schlittenfahrt
Ist doch wirklich schön und heiter!«

Der Sturm gab es auf.

Jetzt näherten sie sich Watling's Island. Über die tobenden Wasser blickend, aus denen hier und da ein Hecht emporsprang, gewahrte Ann an der Küste herumvagabundierende Trupps von Wilden.

»Seht, dort, unter den Palmen und Pagoden! Wilde Rothäute!« rief Kolumbus warnend. »Wir müssen uns darauf vorbereiten, unser Leben teuer zu verkaufen!«

»Ist gut so«, stimmte die Mannschaft bei, die furchtbaren Wollkrautscharen jenseits des Flüßchens nicht aus den Augen lassend.

»Was soll denn das vorstellen, was ihr da macht, Kinder?«

Es war eine völlig fremde Stimme.

Sie wandten sich um und sahen einen neuen Jungen auf dem Ufer stehen. Ann starrte ihn voll Bewunderung an, denn das war ein Held direkt aus einem Geschichtenbuch. Solchen Spielgefährten gegenüber wie Ben und Winthrop empfand sie keine Ehrfurcht, sie wußte, daß sie, abgesehen von den Künsten des Baseball und des Spuckens, ebenso gut ihren Mann stellte wie die beiden. Aber der fremde Junge, der vielleicht zwei Jahre älter war als sie, war ein Gott, ein Krieger, ein Führer, etwas Gefährliches, etwas Herrliches: lockenköpfig, breitschultrig, schmal in der Taille, überlegen lächelnd, mit schmaler, stolzer Nase.

»Was soll denn das vorstellen, was ihr da macht, Kinder?«

»Wir spielen Kolumbus. Mitspielen?« Anns Demut überraschte ihre Mannschaft.

»Och! Spielen!« Der Fremde sprang an Bord – ein glatter Sprung, wo die anderen gekeucht hatten und aufgeplumpst waren. »Zeig mal die Kanone her.« Er ließ sich gleichgültig den Revolver von Kolumbus geben, und anbetend überreichte sie ihn. Er machte ihn auf und sah in den Lauf. »Der taugt ja gar nichts. Ich schmeiß ihn ins Wasser.«

»Ach, bitte, nicht!« Ann jammerte schon, bevor Winthrop, dem der Revolver gehörte, kriegerische Töne ausstoßen konnte.

»Schon gut, Kindchen. Behalt ihn nur. Wer bist du denn? Wie heißt du? Ich heiße Adolph Klebs. Mein Papa und ich, wir sind eben hergezogen. Er ist Schuster. Er ist Sozialist. Wir wollen hier bleiben, wenn man uns nicht rausschmeißt. Aus Lebanon haben sie uns rausgeschmissen. Hah! Ich hab keine Angst vor ihnen gehabt! ›Sie brauchen mich bloß anzufassen, und Sie haben schon ein Ding im Auge‹, das hab ich zum Polizisten gesagt. Er hat sich nicht getraut, mich anzufassen. Also los, wenn wir Kolumbus spielen sollen. Ich bin Kolumbus. Gib die Kanone wieder her. Also an die Arbeit, Kinder, und die Seite bemannt. Da kommt ein ganzer Haufen Rothäute in Kanus an.«

Und jetzt rief Adolph-Kolumbus: »Päng, päng, päng!« während er die primitiven Amerikaner mit der europäischen Kultur bekannt machte, indem er sie niederschoß, und keiner von seinen Gefolgsleuten hielt sich wackerer und schrie lauter als Ann Vickers.

Sie hatte noch niemals ein männliches Wesen kennengelernt, bei dem sie das Gefühl hatte, es sei ihr überlegen, und in dieser Unterordnung fand sie mehr Freude als früher in ihrer heiteren und kecken Souveränität.

 

In der kleinen Stadt Waubanakee, die ungefähr in der Mitte von Illinois, ein wenig südlich vom Zentrum des Staates, liegt, war Ann Vickers' Vater Schulinspektor; man kannte ihn allgemein als »Professor«. Auf Grund seiner Stellung gehörte er zusammen mit den drei Ärzten, den zwei Bankpräsidenten, den drei Anwälten (von denen einer Friedensrichter war), dem Besitzer des Boston Store und den drei Geistlichen von der anglikanischen, der kongregationalistischen und der presbyterianischen Kirche zur Gentry des Ortes.

In seiner Realität hat Waubanakee mit Anns Geschichte nicht viel zu tun. Wie die meisten Amerikaner, die von der Hauptstraße zur Fifth Avenue, Michigan Avenue oder Market Street kommen, und ganz im Gegensatz zu den meisten Engländern und kontinentalen Europäern, die aus der Provinz stammen, hatte sie nach ihrer Kindheit keinen Kontakt mehr mit dem Boden, auf dem sie geboren war; sie kehrte nach dem Tode ihrer Eltern nie wieder zurück und hatte kein Verlangen danach, sich als Krönung ihrer Laufbahn und ihrer Errungenschaften dort ein Gut zu erwerben oder, wie ein angloindischer Prokonsul, auf dem Friedhof des Örtchens beerdigt zu werden.

Ihre Mutter starb, als Ann erst zehn Jahre alt war, ihr Vater ein Jahr, nachdem sie vom College abgegangen war, und Geschwister hatte sie nicht. Später, als sie älter geworden war, da war Waubanakee für sie eine Erinnerung, ein wenig komisch, ein wenig rührend – ein Bild, das sie in der Jugend gesehen hatte, etwas Unwirkliches, Romantisches und Verlorenes.

Und doch stand alles, was sie später in ihrem Leben tat, unter dem Einfluß dieser Kleinstadt und ihrer Gepflogenheiten und unter dem Einfluß der Lebensprinzipien ihres Vaters. Bescheidenheit, ehrliche Arbeit, Schuldenzahlen, Treue gegenüber seiner Lebensgefährtin und seinen Freunden, Geringschätzung unverdienter Einkünfte – er wies ein winziges Legat von einem Onkel, den er verachtet hatte, zurück – und ein Stolz, der ihn vor Kriecherei und Tyrannei bewahrte, das war das Sittengesetz ihres Vaters, und in einem New York, wo Schmarotzer und Sykophanten und munter lügende Leute, nette kleine Leute, kleine verspielte Leute, auch unter Fürsorgern und Gelehrten keine unbekannten Erscheinungen waren, stand sie unter dem Bann dieses Sittengesetzes; das bekümmerte sie auch keineswegs, noch löste es Komplexe in ihr aus … und, da mochte sie sich selbst noch so sehr auslachen, wenn sie ihre Rechnungen am Vierten noch nicht bezahlt hatte, war ihr unbehaglich zumute.

Sie hörte einmal Carl van Doren in einem Vortrag sagen, im Grunde hätte er alle Menschen, die er jemals kennenlernen sollte, schon kennengelernt, bevor er seinen Geburtsort Hope in Illinois verließ. Das fand Ann richtig. Der schwedische Zimmermann in Waubanakee, der von Swedenborg zu reden pflegte, unterschied sich lediglich durch seinen Akzent von dem russischen Großfürsten, der dreißig Jahre später in New York vor ihr voll Liebenswürdigkeit auf metaphysischen Wellen umherplätscherte.

Ja, so tief ruhte Waubanakee in Anns Herzen, daß sie sich immer wieder in ihrem Leben dabei ertappte, wie sie ihre Bekannten ganz naiv in Gute Menschen und Schlechte Menschen einteilte, ebenso automatisch, wie ihre Sonntagsschullehrerin an der Presbyterianer-Kirche von Waubanakee es getan hatte. Da war ein entzückender Junge, ein witziger, stets lächelnder Mensch, der den besten New Yorker Kreisen angehörte, niemals Geld zurückgab, das er sich »geborgt« hatte, und niemals seine Dinnerverabredungen einhielt. Schön! Für die kleine Ann Vickers aus Waubanakee, von der auch in der großen Reformatorin Dr. Ann Vickers (Dr. jur. h. c.) stets ein Stückchen weiterlebte, war dieser Mann schlecht – er war ebenso schlecht, wie der Trunkenbold von Waubanakee für ihren Vater, den Professor, schlecht gewesen war.

Daß sie dieses Vorurteil hatte, konnte sie niemals sehr bedauern.

Sie kam weit genug in der amerikanischen Tradition, um sich ein wenig ihrer amerikanischen Provinzherkunft zu schämen, so wie sich ein englischer Ministerpräsident seiner Geburt in einem schottischen Dorf oder ein französischer Premier seiner Abstammung aus der Provence schämt. Bis zu ihrer Zeit und bis zu ihren Tagen hatte es unter den meisten Amerikanern mit scharfer Beobachtungsgabe und einiger Welterfahrung als vornehm gegolten, entweder darüber zu seufzen, daß Stolz in Arkansas etwas Insulares und Chauvinistisches sei, oder sich, in umgekehrter Bescheidenheit, seiner ländlichen Vollkommenheiten zu rühmen. Allein Ann hatte (zusammen mit einigen hundertzwanzig Millionen anderen Amerikanern) das außerordentliche Glück, zu dem großartigen, wenn auch entsetzlichen Zeitpunkt zu leben, da die Vereinigten Staaten schüchtern begannen, nicht ein uneheliches Kind Europas in sich zu sehen, sondern den Herren ihres eigenen stolzen Hauses.

So ehrgeizige, unternehmende amerikanische Mädchen wie Ann bleiben mit dem Ort ihrer Geburt und auch mit ihren Familien nur in sehr lockerer Verbindung, wenn sie nicht in der letzten Generation jüdischer, deutscher oder italienischer Abkunft sind. Sie verlieren so zwar die Fülle und Sicherheit der europäischen Familienzusammengehörigkeit, dafür sind sie aber auch frei von dem geistigen und sozialen Inzest solcher nörgelsüchtiger Verwandtschaft.

Aber in Manhattan freute Ann sich eines Tages ein wenig darüber, daß sie durch ihren Vater und durch Waubanakee mit der Bourgeois-Kolonie verbunden war, aus der bis zum Jahre 1917 ganz Amerika bestand.


 << zurück weiter >>