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12

Der nächste der Feuermachergäste war weder ein so hervorragender noch ein so liebenswürdiger Mensch wie Dr. Malvina Wormser. Es war eine Miss Emily Allen Aukett, eine jener prominenten Frauen, von denen niemand genau zu sagen wußte, warum sie eigentlich prominent wären. In Suffragettenzeitschriften wurde von ihr als »Autorin, Vortragender und Reformatorin« gesprochen, aber was sie geschrieben, worüber sie gesprochen und für welche Reformen sie gekämpft hatte, war keiner Seele im Fanning Mansion ganz klar, als die Reichszentrale sie von New York ausschickte, um durch sie den Vertreterinnen der guten Sache in der Provinz Begeisterung und Anspornung zukommen zu lassen.

Sie hatten die Anweisung, dafür zu sorgen, daß Miss Aukett gut untergebracht und verpflegt würde, und man hatte sie darauf aufmerksam gemacht, daß sie vor dem Schlafengehen noch ein warmes Abendessen, und auch Taxen zur Besichtigung des Kampfgebietes und zum Luftschnappen brauchen werde.

»Ja! Warmes Abendbrot! Taxis! Bei uns hier ist ein warmes Abendbrot ein hübsches, großes Glas heißes Wasser!« brummte Miss Bogardus Ann zu. »Sie und Eleanor werden sie herumbugsieren und bemuttern müssen. Bei mir kann man sich, wie Sie wahrscheinlich schon bemerkt haben, nicht darauf verlassen, daß ich nicht beiße!«

Miss Emily Allen Aukett trug noch mehr Armbänder als Eula Towers in Point Royal und war stets bereit, in freigebigem Lächeln ihre Zähne sehen zu lassen. Bei Kerzenlicht war sie fünfunddreißig Jahre alt, im Sonnenlicht fünfundvierzig. Sie gurrte, aber sie kritisierte. Sie gab zu verstehen, daß das Zimmer, das man ihr im Fanning Mansion gab, ziemlich schrecklich, und das Essen im Fanning Mansion noch etwas ärger sei. Sie sprach davon, man solle für die Zubereitung ihres Essens eine »nette Negermammy« kommen lassen – und dabei konnten sie sich oft nicht einmal eine Pastete leisten.

»Nach Neuengland und London und Paris ist es so erfrischend, hier in Ihrem einfachen, kraftvollen Mittelwesten zu sein«, säuselte sie Miss Bogardus zu, die in Maine zur Welt gekommen war.

Miss Bogardus hätte sich nichts daraus gemacht, wenn Miss Aukett ihr Publikum mit ihren beiden Reden gepackt hätte – eine Versammlung im Schützenvereinssaal in der North Side, und eine Ansprache vor der Old Elm Station Literarischen Damengesellschaft. Aber Miss Aukett war viel zu kultiviert, um jemand packen zu wollen, und nicht genügend kultiviert, um etwas anderes zu tun. Sie sprach einige züchtige Worte über die Unbillen, unter denen die Frauen zu leiden haben, aber sie hatte sich keine neuen ausgedacht, und ganz Clateburn, sogar Mamie Bogardus, hatte so ziemlich genug von den üblichen Unbillen. Worüber sie in Wirklichkeit redete, sanft und lispelnd, das waren ihre Bekanntschaften unter den Großen dieser Welt: wie sie einmal mit General Wood den Ozean überquert, und welch feinsinnige Dinge sie zu ihm gesagt hatte, als sie anlegten; die Bemerkungen über den Adel der Mutterschaft, mit denen Elbert Hubbard sie beehrt hatte.

Und des Nachts machte sie, nervös und erschöpft von ihren Orgien der Beredsamkeit, ziemlich barsche Bemerkungen über das warme Abendbrot; es bestand aus Kakao, aufgewärmten Teezwiebäcken und Honig, den Ann ihrem stets hungrigen Ich entzogen hatte.

»Wirklich, Miss Bogardus, ich will nicht meckern, aber diese Aukett ist einfach eine Pest«, klagte Ann später am Abend, während Miss Bogardus sich bemühte, ihren Leitartikel für das Ohio Suffrage Banner, der vor drei Tagen hätte erscheinen sollen, rechtzeitig fertig zu machen.

»Ich weiß, mein Kindchen. Früher war ich der Meinung, daß jedes Mädel, das Frauenrechtlerin ist, auch gerettet ist, aber wir haben wohl auch Rückfälle wie die Männer. Was sollen wir mit ihr tun?«

»Sie wissen doch, daß wir vier nach Tafford fahren und dort zu organisieren versuchen müssen; dort zu arbeiten, ist so ziemlich das Schwierigste im ganzen Staat. Wie wär's, wenn Sie uns die Aukett mitgeben würden?«

»Wird gemacht. Jetzt rutschen Sie ins Bett, Kind, und gehen – – Oder nein. Es ist noch nicht zwölf, Ann. Ich weiß, daß Sie müde sind, aber dieser Nichtsnutz, die Bandolph, hat uns sitzenlassen und ihren Haufen Kuverts nicht zu Ende adressiert. Diese schrecklichen Helferinnen! Wollen Sie sie nicht fertigmachen, liebes Kind? Und Miss Aukett – der werd ich sagen, daß sie Tafford reizend finden wird!«

 

Tafford war eine kleine Industriestadt, aber alt; seine Industrien saßen schon seit drei Generationen am Ort: Uhren, Gewehre und Schreibmaschinen; dazu brauchte man gutbezahlte, vorsichtige, tüchtige Handwerker und nicht neugekommene Herumtreiber, Polen, Ungarn und Italiener, so daß es nicht, wie in einer Fabrikstadt eigentlich zu erwarten gewesen wäre, eine nennenswerte Anzahl von Sozialisten gab. Die Ortschaft war, wie Hartford in Connecticut oder jede beliebige amerikanische Stadt namens Springfield, so konservativ, daß sie an eine englische Kathedralenstadt erinnerte, nur daß die Kathedrale fehlte. Tafford verachtete das Frauenrechtlertum; voran ging in dieser Hinsicht der Bürgermeister Mr. Snowfield, dessen hochnäsige und schwarzgepanzerte Gattin Vizepräsidentin der Vereinigung der Frauenrechtgegner Ohios war. Aber es gab in Tafford eine alte Getreue, eine zweite Kriegsaxt wie Mamie Bogardus, eine verwitwete Mrs. Manders, die unablässig für das Frauenwahlrecht kämpfte, unablässig Rednerinnen von der Clateburner Zentrale anforderte und nicht unterzukriegen war, weil ihr Vater Methodistenbischof in Ohio gewesen war und vor dem Bürgerkrieg in der »Tunnelgesellschaft«, die entlaufene Sklaven unterstützte und ihnen die Flucht nach Kanada ermöglichte, eine führende Rolle gespielt hatte.

Dieser Stadt Tafford, dem Ehrenwerten Mr. Snowfield und Mrs. Manders überlieferte die Kriegsaxt Emily Allen Aukett auf Gnade und Ungnade, als Garde schickte sie aber barmherzigerweise Ann, Pat, Eleanor und Maggie O'Mara mit. Mrs. Manders hatte die Große Oper gemietet und in Tafford Plakate anschlagen lassen, auf denen zu lesen stand, daß die Bürger in Miss Emily Allen Aukett »eine der größten Denkerinnen und Autorinnen der Welt« hören würden.

Mrs. Manders holte sie von dem um fünf achtzehn von Clateburn kommenden Zug ab und musterte die fünf scharf, um herauszufinden, welche von ihnen die große Denkerin und Autorin sein könnte. Sie verzog die Nase, als Emily ihr auf dem Bahnsteig mit ausgestreckten Händen und Zähnen entgegentanzte und hervorgurgelte: »Ich bin Miss Aukett – das sind meine Leutnants – so liebe Mädchen – ich finde es ganz reizend, nach Paris und London und New York jetzt in dieser geschäftigen Stadt des Mittelwestens mit ihrer Kraft und Einfachheit zu sein.«

»Weiß nicht, ob es so reizend ist«, flötete Mrs. Manders. »Ich wollte Sie telegraphisch im Zug erreichen. Der Besitzer der Großen Oper hält den Vertrag nicht ein. Die Antis werden ihn wohl am Kragen gekriegt haben. Haben ihm Angst eingejagt. Ich habe versucht, einen anderen Saal zu bekommen. Ging nicht. Sie haben's erreicht; wir sitzen fest.«

»Können wir nicht ein Straßenmeeting abhalten oder eine Versammlung auf einem unbenutzten Grundstück, Mrs. Manders? (Ich bin Ann Vickers von der Zentrale.) Wir sind es gewohnt, und Miss Aukett wird sicher nichts dagegen haben.«

»Aber leider muß ich doch etwas dagegen haben«, winselte Miss Aukett mit verminderter, wenn auch immer noch pestilenzialischer Süßigkeit. »Ich habe das Gefühl, daß man bei einem Straßenmeeting nicht so viel Überredungskunst in seine Botschaft legen kann. Und dann sind die Leute so unwichtig!«

Mrs. Manders (sie sah um nichts weniger mütterlich, taubengrau und fromm aus als jede andere Diakonswitwe) sagte in scharfem Ton: »Na, heute werden wohl die unwichtigen Leute allein die Botschaft bekommen. Ich kenne ein hübsches unbenutztes Grundstück; ein bißchen schmutzig, aber keine Ziegel, mit denen die Kinder schmeißen können. Wir werden riskieren, daß man uns ins Loch steckt. Ist schon zu spät, jetzt vom Bürgermeister eine Genehmigung zum Abhalten eines Straßenmeetings zu bekommen. Dem Gesetz nach braucht man ja keine – unbenutztes Grundstück, Privatbesitz. Aber davon läßt sich die Polizei in unserer Stadt nicht abhalten!«

Ann, Eleanor und Pat blickten mit dem Gleichmut alter Söldner drein. Maggie lachte leise. Miss Aukett blieb die Luft weg. Dann lächelte sie. Aber aus Miss Auketts Lächeln war alles Gold und Wohlwollen verschwunden, und es klang, als hätte sie auf etwas Sandiges gebissen, als sie sagte: »Ich werde natürlich tun, was ich kann. Das tu ich immer. Aber die grobe Rednerarbeit werden wohl leider diese jungen Personen machen müssen. Sie sind es ja gewohnt!«

Mrs. Manders handelte stets rasch. Im Nu war veranlaßt, daß in einem Schaufenster gegenüber dem Eingang der Großen Oper ein handgeschriebenes Plakat aufgehängt wurde:

 

TAFFORD HAT ANGST VOR DEN FRAUEN!

Wir wollten
Heute abend in der Großen Oper
sprechen, aber

MAN ERLAUBT ES UNS NICHT

Kommt zum Meeting im Freien
Ecke Blair & Stafford Sts. 8 Uhr abends

Hört die sensationelle Wahrheit
Heute abend – Mittwoch

 

An der Ecke des Grundstücks hatte sie einen kleinen Jungen mit einer Trommel und einen hinkenden Veteranen aus dem Spanischen Krieg mit einer Trompete aufgestellt.

Als die Kreuzfahrerinnen fünf Minuten vor acht in Mrs. Manders' asthmatischem Pope-Hartford-Wagen ankamen, war das Grundstück gefüllt. Das Publikum war nicht unfreundlich gesinnt wie die wohlanständigen Leute im Sinfoniesaal in Clateburn; es waren zum größten Teil Entrechtete, Arbeitslose, Kesselwärter, Pförtner, Tagelöhner, Scheuerweiber, und sie bewunderten die Courage der Kämpferinnen; sie riefen freundlich Hurra, als Mrs. Manders und die Mädchen das Automobil vorsichtig in das Zentrum der Menge steuerten, Flugblätter auspackten und eine Gasflamme anzündeten. Aber im Schein dieser düsteren und zuckenden Flamme sahen die Menschen wild aus: unrasierte Gesichter, eingewickelte Hälse über kragenlosen Hemden, mit Kohlenstaub und mit Kalk beschmierte Hüte, stechende Augen von Geschirrwäscherinnen.

Miss Emily Allen Aukett starrte Eleanor, das einzige weibliche Wesen in der Gesellschaft, das erkennbare Spuren von Vornehmheit aufzuweisen schien, sprachlos an und sagte: »Oh, das ist ja ein fürchterlicher Mob! Bringen Sie doch Mrs. Manders bei, daß es zu gefährlich ist! Wir müssen sehen, daß wir von hier fortkommen!«

»Na! Los, Mädels, gebt ihnen Saures. Hurra für das Frauenwahlrecht!« brüllte die Menschenmenge, als Mrs. Manders auf den Hintersitz des Wagens stieg und die Arme emporstreckte.

»Sie werden auf uns losgehen!« schluchzte Miss Aukett.

Mrs. Manders hatte zu den Zuhörern wie zu Nachbarn gesprochen, Ann hatte ihren vertrauten – allzuvertrauten – Einleitungsspruch begonnen, der besagte, daß die Frauen keine Privilegien haben wollten, sondern die Möglichkeit zu arbeiten; da gellte machtgeschwellt ein Polizeiauto die Straße herauf. Ein Dutzend Schutzleute drängte sich, angeführt von einem Leutnant, mit erhobenen Knüppeln durch die Menge.

»Gott sei Dank!« ächzte Emily Allan Aukett; und die damenhafte Eleanor Crevecoeur fuhr auf sie los: »Sie blöde Person! Wieviel wollen Sie dafür haben, daß Sie nach New York zurückfahren?«

In ihrer Angst hörte Miss Aukett das wahrscheinlich gar nicht. Sie glitt durch die Wagentür hinaus, sie schmiegte sich, so eng es ging, an den großen Polizeileutnant an, der sich an den Wagen heranschob, sie schüttelte den sanften, leuchtenden Balsam ihres Lächelns über ihn aus. Er merkte nichts davon. Er fragte Ann, die auf dem Sitz stand und auf ihn hinunterblickte, auf seinen bösen Mund im flackernden Licht hinunterblickte: »He, Sie, junge Dame! Wo haben Sie Ihre Redegenehmigung?«

»Wir brauchen keine. Wir brauchen überhaupt keine«, sagte Mrs. Manders kühl. »Kümmern Sie sich gefälligst um ihre eigenen Angelegenheiten, Leutnant. Das ist kein Straßenmeeting. Privatgrundstück. Wir brauchen keine – –«

»Einen Schmarren brauchen Sie keine Genehmigung! Sehen Sie doch, wie die Menschen bis auf die öffentliche Straße hinaus stehen! Damit ist es ein Straßenmeeting. So, jetzt halten Sie Ihre Klappen und schauen, daß Sie hier wegkommen oder ich steck Sie alle ins Loch!«

Die Kühle der Bischofstochter war verschwunden, und Mrs. Manders schrie ihn an: »Stecken Sie uns ins Loch! Los! Wir wollen eingesteckt werden!« (Miss Emily Allen Aukett schlüpfte, wie Eleanor kaltgrinsend beobachtete, hinter den Leutnant und verkroch sich in der Menge.) »Das ist das einzige, was auf solche Schafsköpfe wie Sie, aus denen diese Stadt besteht, Eindruck machen wird!«

»Jetzt hab ich aber genug von Ihnen, Mrs. Manders! Über Sie weiß ich genau Bescheid. Schämen sollten Sie sich, eine gesetzte Person wie Sie, Tochter eines Geistlichen, und Sie lassen sich mit diesen fremden hergelaufenen Frauenzimmern ein! Lauter Rote und Anarchistinnen! Wenn Sie nicht mit den besten Familien verwandt wären, würd ich Sie hopp nehmen – ja, und wenn ich noch eine Unverschämtheit von Ihnen höre, dann passiert vielleicht noch ein Unglück mit meinem Knüppel! Ihre feinen Verwandten werden nicht mehr lange zusehen, wie Sie Ihre Kisten machen, das kann ich Ihnen flüstern; ich bin genau im Bilde. Also ihr – – Jungs! Aufräumen hier! Pilwaski! Rein hier, Sie fahren den Wagen zu der alten Dame nach Hause – Sie steigen auch ein, Monahan, und sehen zu, daß keiner von diesen Drachen loskommt!«

Als Pilwaski den Wagen hinauslenkte, sah Ann, wie ein Volkshaufe von den Beamten zurechtgewiesen wurde, die dieser selbe Volkshaufen zur Wahrung der Ruhe angestellt hatte. Am liebsten wäre sie hinausgesprungen, hätte sie die Schutzleute totgeschlagen, gekämpft und gemordet, bis sie selbst umgebracht würde, aber sie wurde von Wachtmeister Monahan festgehalten und nahm auf ihrem erhöhten Standpunkt im Wagen ein Bild in sich auf, das sie niemals vergessen konnte; ein Bild, das zur Folge hatte, daß sie selbst noch in den Tagen, als sie eine vorsichtige öffentliche Beamtin war, im Grunde ihres Herzens Revolutionärin blieb. Mit dem großen Leutnant an der Spitze marschierten acht Polizisten in die Menge hinein. Acht gegen fünfhundert. In den Zeitungsberichten mußte es sich höchst heroisch ausnehmen; das war es aber keineswegs. Sie machte eine Entdeckung, die es ihr später unmöglich machte, den gefühlsmäßigen Pazifismus zu akzeptieren, der in den Jahren von 1920 bis 1930 überall (außer in Rußland und Japan) modern wurde: die Entdeckung, daß unbewaffnete Massen gegen einen bewaffneten, ausgebildeten Trupp hilflos sind; daß weder Alter, Geschlecht, Argumente noch sanfte Vernunft Schutz gegen Gewehre und Knüppel gewähren.

Die Polizisten schoben sich in die Menge hinein, indem sie höchst einfach und systematisch auf jeden Kopf einschlugen, der zu sehen war – alte Männer, Frauen, achtjährige Knaben und ausgewachsene Arbeiter, das ging alles in einem. Wenn jemand protestierte, bekam er zwei über den Kopf und außerdem Fußtritte in die Seiten, sobald er sich im Schmutz wälzte. Als sie sich halb durch die Zuhörer durchgeprügelt hatten und alles taumelnd, den Vordermann stoßend, flüchtete, packten die acht Schutzleute die ersten besten acht, die gerade zur Hand waren, am Kragen, beförderten sie mit Fußtritten in den Patrouillenwagen, der nach dem Polizeiauto gekommen war, und fuhren mit Glockengeläute fort.

Als Mrs. Manders' Auto, von Pilwaski gesteuert, sich an den Patrouillenwagen anschloß, blickte Ann zurück und sah Männer, denen das Blut in mehreren Strömen aus Stirnwunden in die blinden Augen lief, Männer, die, das Gesicht nach oben, im Schmutz lagen oder schluchzend mit flatternden Händen umherwankten. In diesem Augenblick hörte sie auf, lediglich Frauenrechtlerin zu sein, und wurde Menschenrechtlerin.

Miss Emily Allen Aukett war vor ihnen mit einer Autodroschke in Mrs. Manders' Wohnung gelangt. Sie weinte zierlich neben einem Topf Geranien.

Mrs. Manders ignorierte Emily. Als sie im Wohnzimmer waren, wo sie von den Schutzleuten Pilwaski und Monahan nicht gehört werden konnten, erklärte sie: »Wir werden morgen vormittag zum Bürgermeister gehen und ihm sagen, daß wir eine Genehmigung für Straßenreden haben wollen. Bekommen werden wir sie nicht. Aber vielleicht werden eines Tages die Bürger merken, wem die Straßen gehören, und das Gas und das Wasser! Was sagen Sie, Miss Vickers – und ihr, Mädels?«

»Großartig!« antwortete die Kittchenstaffel.

»Ach nein!« rief Emily Allen Aukett klagend. »Ich habe Ihnen ja schon vorher gesagt, was heute abend geschehen wird! Das alles ist so würdelos!«

Dann sprach die Tochter des Bischofs: »Ja, und wenn man ein Kind gebiert, ist man auch würdelos, meine Liebe! Sie brauchen nichts zu befürchten. Ihr Zug geht heute abend um elf sechzehn. Ich bringe Sie mit dem Wagen hin. So. Und wir, wir werden um neun Uhr früh hier aufbrechen …«

Bevor Mrs. Manders zu Bett ging, rief sie die Totenwache der Abendblätter an und machte die Mitteilung, daß es am nächsten Morgen vor dem Rathaus zu interessanten Ereignissen kommen könnte; dann telefonierte sie noch den Bürgermeister in seinem Haus an, um sich für halb zehn anzusagen. Zum erstenmal hörten die Mädchen die methodistische Boadicea lachen: »Aber Euer Ehren, ich muß mich über die Sprache, die Sie führen, sehr wundern, wenn ich auch noch sehr gut in Erinnerung habe, daß Sie schon als kleiner Junge empörend ungezogen waren und immer Vaters Äpfel stahlen, und …«

Mrs. Manders strahlte. »Er wird ganz bestimmt die Polizei da haben.«

»Und mich werden Sie nicht da haben, dem Himmel sei Dank«, näselte Miss Emily Allen Aukett.

Fünf Jahre später traf Ann Miss Aukett in New York wieder; sie war zum Tee in ihrer Wohnung in der Zehnten Straße und machte die Entdeckung, daß Miss Aukett, in Sicherheit und bei sich zu Hause, liebenswürdig, amüsant und klar war, und daß sie, entsetzlich! wirklich die Berühmtheiten kannte, die zu kennen sie behauptet hatte. Ann seufzte: »Ach, kein einziger Mensch versteht den anderen, nur die Leute, die man am Abend vorher kennengelernt hat, versteht man!« Daß Miss Bogardus, diese Alligatorschildkröte, die freundlichste aller Frauen war, daß Eleanor Crevecoeur Mag O'Mara entsetzen konnte und auch wirklich entsetzte, daß Glenn Hargis, der männliche, schwächer als Eula Towers und ängstlicher als der Reverend Professor Henry Sogles, Magister der Künste, war, daß die aufgeblasene und feige Emily Aukett jeglicher Popularität gegenüber mutige Verachtung an den Tag legte; daß sie selbst, Ann Vickers, ihr Leben, ihren blühendsten Ehrgeiz, an soziale Besserung und Reform und, ganz allgemein, an die Kindererziehung von Erwachsenen wandte und sich doch niemals ganz klar darüber war, ob irgend etwas davon sich überhaupt lohne – was sollte sie mit alledem bei ihrem Studium der Menschheit anfangen?

 

Sie kamen bescheiden genug die Treppe des Rathauses zwischen den wuchtigen Säulen herauf, die in Tafford als massiver Marmor verehrt wurden, in Wirklichkeit aber auf Grund irgendeines unglückseligen Zufalls im Verlauf der Bemühungen der Partei des Bürgermeisters um das öffentliche Wohl mit Bruchsteinen gefüllte Hülsen waren. Sechs Zeitungsberichterstatter, sieben Photographen und neunzehn Polizisten erwarteten sie auf der Treppe.

»Da können Sie nicht hinein, meine Dame«, sagte der Polizeihauptmann zu Mrs. Manders.

»Ich bin eine Bürgerin von Tafford und bestehe auf meinem Recht – –«

»Gehen Sie auf die Straße hinunter und bestehen Sie dort auf Ihren Rechten!« antwortete der Polizeihauptmann. Je ein Schutzmann packte die Frauen, nicht mit schmerzhaftem Griff, aber doch mit ganz gehöriger Roheit.

Mrs. Manders, Eleanor, Ann und sogar Maggie standen ganz still da, und Ann dachte: »Um drei Uhr nachmittag können wir wieder in Clateburn sein. Ich werd mir wohl am besten freinehmen und mein Zimmer saubermachen – –«

Aber Pat Bramble, die kleine und zierliche Pat, riß sich von ihrem Polizisten los, senkte den Kopf und rammte mit voller Wucht seinen Schutzmannsbauch. Er brüllte auf, schlug nach ihr, packte ihr Handgelenk und drehte es um, bis sie schrie. Mechanisch, ohne lang nachzudenken, begannen die anderen drei Mädchen mit den Schutzleuten zu kämpfen und versuchten nach ihnen zu schlagen, während Ann an die alte Dame im Sinfoniesaal denken mußte, die ihnen Vorwürfe gemacht hatte, und ganz ruhig in ihrem braunen, hutlosen Kopf, der sich mit solcher Wut von der pressenden Schulter des Polizisten losriß, dachte: »Durchaus nicht damenhaft, durchaus nicht damenhaft … Hoffentlich kriegen die Photographen das; das wär eine glänzende Propaganda für die Sache … Durchaus nicht damenhaft, durchaus nicht damenhaft.«

Und in diesem Augenblick biß sie ihren Schutzmann.

 

Irgendwo verhaftet zu werden, gleichgültig aus welchem Grunde, das hatte Ann stets für ebenso schmachvoll gehalten, wie bei einem Ehebruch ertappt zu werden. Wer einmal verhaftet worden war, das war ein Verbrecher, etwas ganz anderes als ein menschliches Wesen; ein Geschöpf, das aus unbegreiflichen Gründen Entsetzliches tat und Teil einer verhexten Welt aus Gerichtshöfen und Gefängnissen und Folterkammern und Superlativen unmenschlicher Schuld war. Ein Verbrecher war etwas ebenso Unheimliches wie ein Gespenst; ein Richter oder ein Gefängniswächter etwas so Erhabenes und Außerordentliches wie ein katholischer Priester; und ein Gerichts- oder ein Gefängnisgebäude, alles, was mit einer Verhaftung in Zusammenhang stand, war nicht aus Ziegeln oder Stein oder Holz gemacht, sondern aus aussätzigem und unirdischem Material, das die Sonne und die Luft und den friedlichen Schlaf verfinsterte.

Als sie jedoch in der Schwarzen Marie weggebracht wurden – die beiden langen Sitzbänke waren mit ganz gewöhnlichem Wachstuch bespannt, und auf dem Tritt hinten stand ein großer, breiter Schutzmann, so daß durch das Fensterchen kaum noch Licht hereinkam – da hatte sie nicht das Gefühl, an einem verhexten und angsteinflößenden Ort zu sein, sondern in einem holpernden und unbequemen Ford-Lastwagen mit zugezogenen Vorhängen. Sie kam sich nicht vor wie eine Verbrecherin. Sie fragte sich, ob viele Gefangene sich nicht wie Verbrecher vorkämen, sondern einfach wie Menschen, die von ziemlich langweiligen Schutzleuten verhaftet worden sind.

Sie wurden eine halbe Stunde im städtischen Gericht in Polizeigewahrsam gehalten, zusammen mit drei Prostituierten, einer schwarzen Ladendiebin und einer überaus betrunkenen Dame. Ann entsetzte sich nicht vor ihnen. Sie glaubte nicht, daß sie, eine wohlanständige junge Akademikerin, dadurch, daß sie mit diesen Schlampen zusammen eingesperrt sei, geschändet wäre; sie fand vielmehr, daß der Unterschied zwischen den anderen und ihr gar nicht so groß sei, und daß diese armen Geschöpfe für ihre Verhaftung vielleicht ebensowenig konnten wie sie selbst und die Tochter des Bischofs.

Nun wurden Ann, Pat, Eleanor und Maggie die Kittchenstaffel; und dieser Name blieb ihnen auch.

Sie wurden vor einen Polizeirichter geführt, der weder ein Sadist noch ein Spaßvogel war: ein gewöhnlicher rundlicher Mann mit gewöhnlichem blondem Schnurrbart; das Verurteilen von Leuten, die sich gegen die Gesetze vergangen hatten, regte ihn nicht mehr auf als das Verzehren einer Portion Schweinefleisch mit Bohnen.

Sie standen vor dem hohen und schmierigen Pult des Richters und wurden alle fünf (Ann wunderte sich, und Eleanor mußte lachen) angeklagt wegen Ruhestörung, Schimpf- und Schmähreden, Widerstandes gegen Polizeibeamte bei Durchführung ihrer Amtspflicht und Veranlassung eines Straßenauflaufs. Die fünf Schutzleute, von denen jeder einzelne so groß und breit war wie drei der Angeklagten zusammen, sagten aus, »die drei Frauen da« hätten damit gedroht, den Bürgermeister zu überfallen, sie hätten sich, als ihnen gesagt wurde, daß der Bürgermeister sie nicht empfangen könne, auf die Polizisten gestürzt, sie geschlagen und gebissen und ihnen ernsthafte Verletzungen beigebracht.

Der Polizeirichter blickte auf Mrs. Manders hinunter und sah dann den Polizisten an, der hinter ihr stand. Ann hatte den Eindruck, daß er dem Schutzmann zublinzelte, als er fragte: »Aber diese ältere Dame hier – diese Dame hat sich doch nicht an dem empörenden Benehmen der jungen Personen da beteiligt!«

»Nein, Euer Ehren. Sie versuchte, sie davon abzuhalten. Das sind Fremde, die sind nicht von hier – geben an, daß sie aus Clateburn gekommen sind. Sie geben an, daß sie Anarchistinnen sind oder Suffragetten oder so was Ähnliches, und ich hatte den Eindruck, daß sie die alte Dame verführen wollten.«

»Das ist ja nicht wahr. Wenn sie schuldig sind, bin ich doppelt schuldig!« rief Mrs. Manders.

»Mrs. Manders ist freigesprochen. Die anderen vierzehn Tage Kreisgefängnis. Der nächste Fall!«

»Ich verlange, mit diesen Mädchen zusammen zu bleiben! Das ist eine Schmach – –«

»Schutzmann! Bringen Sie die alte Dame hinaus. Der nächste Fall, habe ich gesagt.«

Als die Kittchenstaffel durch die Tür rechts hinten abgeführt wurde, blickte Ann sich um und sah, wie Mrs. Manders, um sich tretend und schlagend, von drei grinsenden Riesen in blauer Uniform in die Freiheit hinausgeschleppt wurde.


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