Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtzehntes Buch.
Nationale Sitten und Anschauungen.

Die messianischen Zeiten.

Zehn Dinge werden die messianischen Zeiten von der unsrigen unterscheiden. – Das Licht der Sonne verhundertfacht – fortwährende Strömungen klaren Wassers in Jerusalem, die Quellen von Gesundheit und Kraft für Alle sein werden – die Pflanzen werden tausendfache Früchte tragen – alle Ruinen der Welt wieder aufgerichtet – Jerusalem wieder auferbaut aus leuchtenden Saphirsteinen – Friede unter den wilden Thieren – Harmonie unter allen Lebenden und Israel – keine Seufzer und Thränen mehr in der Welt – der Tod überwunden – Freude allenthalben.

Rabboth S. 131 b.

 

Die Welt war bis jetzt der Gottheit nur verlobt; in der messianischen Zeit wird das Band der Vermählung geschlossen werden.

Rabboth S. 133 b.

 

Eine Königin seufzt in ihrer Burg mit ihren Töchtern, verlassen von der königlichen Familie. Ihre Schwiegersöhne kehren zurück, darüber sind ihre Töchter erfreut, aber sie seufzt noch.

Es kehren die Söhne zurück; ihre Schwiegertöchter freuen sich darüber, aber sie seufzt immer noch. – Endlich kehrt der Gemahl zurück und die Königin ist trunken vor Freude.

So, in der Zukunft, wird Jerusalem bei der Ankündigung seiner zurückgeführten Söhne noch seufzen; bei der Ankündigung seiner zurückkehrenden Töchter, wird es immer noch seufzen; erst dann wird sein Jubel voll sein, wenn ihm die Ankündigung des Reiches Gottes werden wird.

Rabboth ebendas.

 

Drei Tage vor der großen Erlösung Israels, steigt der Prophet Elia auf die Berge des heiligen Landes und weint und ruft: »Bis wann wird euere Trauer dauern?«

Hierauf am ersten Tage läßt er folgende Worte ertönen: »Es kommt der Friede der Welt; es kommt der Friede der Welt. Und die Frevler selbst freuen sich.«

Am zweiten Tage ruft er: »Es kommt das Glück der Welt, es kommt das Glück der Welt. – Und die Frevler selbst jubeln.«

Am dritten Tage ruft er: Es kommt das Heil, es kommt das Heil der Welt. Und die Frevler selbst sind froh.«

Und Elia setzt zur Erinnerung an die Frevler hinzu: »o Zion! siehe, es regiert dein Gott.«

Jalkut Jesaja S. 53 b.

 

Mystische Vereinigung Gottes mit Israel.

Der Herr hat seinen Namen unzertrennlich mit Israel verbunden.

So fürchtet ein Fürst, der einen kleinen Schlüssel von kostbarem Schatze hat, ihn zu verlieren und um der Gefahr zu begegnen, hängt er eine Kette daran, die ihn an sich befestigt.

Dieses kleine Volk Israel, hat der Herr gedacht, könnte sich leicht in dem Meere der Völker verlieren. Aber ich befestige es an meinen heiligen Namen und es wird sich nie verlieren.

Talmud Jeruschalmi Taanith.

 

Toleranz in den religiösen Meinungsverschiedenheiten.

Die Schule Schamai's und die Schule Hillel's, in fortwährenden religiösen Streitigkeiten miteinander, theilten Israel in zwei große Partheien, wovon die eine der ersten und die andere der andern anhing.

Eine Schule erklärte für unrein viele Sachen, die die andere für rein hielt; jene erklärte die Heirathen in gewissen Verwandtschaftsgraden für ungesetzlich, die diese erlaubt glaubte. Und dennoch lebten die zwei Partheien und die zwei Schulen einträchtig miteinander; sie enthielten sich nicht, der Eine im Hause des Andern zu essen und schlossen Ehen unter einander.

Talmud Jebamoth Seite 14 a.

 

Trauer um die Zerstörung Jerusalems.

Nach der Zerstörung Jerusalems nahmen einige Abergläubische, geängstigt von dem Schmerze und von der betrübenden Erinnerung, den Vorsatz an, nie mehr weder Speise, noch Wein zu genießen.

Ein Gelehrter, Rabi Jehoschua, der diese Strenge der Enthaltung, die sich von Tag zu Tag mehr unter den Mitbrüdern verbreitete, nicht billigte, hielt mit einigen von ihnen diese Unterredung:

»Meine Freunde! warum wollet ihr euch denn des Fleisches und des Weines enthalten?«

»Meister! antworteten jene, Thränen vergießend, wie sollten wir Solches über uns bringen können? Eines Tages opferte man das Fleisch der Opferthiere auf dem Altare; jetzt ist der Altar umgestürzt. Eines Tages wurden Ausgießungen von Wein abgehalten; jetzt haben sie aufgehört.

»Ihr solltet alsdann aufhören, Brod zu essen, weil man ehemals Speiseopfer darbrachte.«

»Meister! es ist gerecht; wir werden kein Brod mehr essen; wir werden uns von Früchten ernähren.«

»Aber von den Früchten wurden die Erstlinge im Tempel dargebracht.«

»Es ist wahr; nun gut, wir werden von denjenigen Früchten essen, von welchen die Erstlinge nicht dargebracht wurden«

»Aber ihr solltet auch nicht einmal Wasser trinken, weil die Ausgießungen von Wasser, die im Tempel geschehen, aufgehört haben.«

Die Armen wußten nicht mehr, was antworten und verstummten.

Da fuhr der Weise also fort: »Ich werde euch nie rathen, jede Trauer abzulegen, denn unser Unglück ist allzu furchtbar. Aber eine übermäßige Trauer nimmermehr; denn die menschliche Gesellschaft würde dabei nicht bestehen. Verhalten wir uns vielmehr in allen Dingen der Art, daß immer das Andenken jenes großen Unglücks lebendig erscheine. Mauerst du ein Haus, laß ein Andenken deines Schmerzes daran. Trägst du ein glänzendes Mahl auf, verzichte auf etwas, um deine Erinnerung darzuthun. Berauschest du dich an den Hochzeitsfreuden, so streue in der Stunde des feierlichen Segens, ein Körnchen Asche auf die Stirne des Bräutigams Diese sämmtlichen Gebräuche sind in unsern Ländern in Abgang gekommen.. Wer um die Zerstörung Jerusalems trauert, wird dessen zukünftige Freuden genießen.

Talmud Baba Batra S. 60 b.

 

Die Alten und die Neuen.

Ein Weiser Rabbi Jochanan sagte: »Ein Nagel der Alten war mehr Werth als der Bauch der Modernen.«

Ihm widersprach ein anderer Weiser, Resch Lakisch, mit folgenden Worten: »Ganz im Gegentheil; wir sind viel mehr Werth als sie, denn, trotz der Sklaverei und der Leiden, pflegen wir dennoch das heilige Gesetz.

Talmud Joma S. 9 a.

 

Ehre dem Sabbathe und den Festen.

Rabbi Chija, Sohn Abba, wurde von einem reichen Herrn in Ludkia glänzend aufgenommen und an eine reiche, mit den ausgesuchtesten Speisen besetzte Tafel gesetzt. Und während die Tischgenossen sich's wohl sein ließen, wiederholte ein Junge von Zeit zu Zeit den heiligen Text, der sagt: »Alles ist von Gott, die Erde und alle ihre Güter Psalm 24. V. 1.«

Der Gelehrte fragte seinen reichen Wirth, durch welches Verdienst er glaube, daß der Herr ihm so viele Güter hier auf der Erde zugetheilt habe. Der Wirth antwortete, daß er in seinen ersten Jahren das Gewerbe eines Metzgers ausübte und das wenige Fleisch, das er für sich behalten konnte, für den Sabbath bestimmte.

Rabboth S. 13 a. Talmud Sabbath S. 119 a.

 


Es war der Rüsttag des großen Versöhnungstages. Auf dem Markte machten sich ein israelitischer Schneider und ein Diener eines Fürsten einen Fisch streitig. Beide boten um die Wette einen größern Preis; als das Gebot auf zwölf Denare gekommen war, ließ der Diener dem Schneider den Fisch. Der Fürst zankte den Diener aus, weil er keinen Fisch gekauft habe; und der Diener entschuldigt sich, indem er ihm das Geschehene erzählte und erklärte, daß es ihm eine Thorheit geschienen hätte, so viel Geld für einen Fisch auszugeben Der erzürnte Fürst schickte nach dem Israeliten und fragte ihn, wie er es wagte so viel auszugeben und zeigte sich ungehalten darüber. Antwortete der Schneider: »Wir haben einen Tag im Jahre, an welchem wir Verzeihung für unsre Sünden erlangen können und ich sollte ihn nicht ehren?

Der arme Schneider erhielt den Lohn für die Ausgabe, denn in dem Fische fand er einen Edelstein.

Rabboth S. 13 b.

 

Die Engel des Sabbaths.

Rabbi Jose, Sohn Jehuda sagte:

Am Vorabend des Sabbath, wenn der Gläubige nach vollendetem Gebete, vom Tempel nach Hause geht, stellen sich zwei Engel, der eine des Guten und der andere des Bösen, ihm zur Seite und begleiten ihn.

Der Fromme tritt in die häuslichen Räume ein und die Engel treten mit ihm ein.

O theurer Anblick! Die Sabbathlampe erglänzt von einem lieblichen Lichte; der Tisch, das Haus, Alles ist festlich geschmückt Am Sabbathe soll sich, nach den religiösen Bräuchen, das Haus des Israeliten, soviel als möglich rein, geschmückt, darstellen. Insbesondere soll ein Lampe angezündet werden, die, eigens für die Festtage bestimmt, den häuslichen Tisch beleuchte und um welche sich die Familie in gemüthlichen Unterredungen versammele. Auch im Hause des armen Israeliten findet sich am Sabbathe eine solche Lampe, ein weißes, mehr oder weniger elegantes Tischtuch. Die Uebung dieser Gebräuche und Pflichten ist hauptsächlich der Frau anvertraut..

Der Engel des Guten erhebt ein Freudengeschrei und sagt: »Möge für viele Sabbathe noch sich dir dein Haus so festlich und froh darstellen!«

Und der Engel des Bösen antwortet gegen seinen Willen: »Amen.«

Aber wenn die Lampe nicht leuchtet und der Tisch und das Haus, Alles in Unordnung, schmucklos, nackt ist, so ruft der Engel des Bösen jubelnd: »Mögen immer deine Sabbathe so hingehen.«

Und der Engel des Guten antwortet seufzend und weinend: »Amen.«

Talmud Sabbath S. 119 b.

 

Die Waffe Israels.

Die Waffe Israels ist das Gebet; es ist eine von seinen Vätern ererbte Waffe, die es nie verlassen hat. In den größten Gefahren, nahmen die Erzväter und Mose zum Gebete ihre Zuflucht; alle Propheten priesen das Gebet als einzige Waffe Israels. – David ging dem mit mächtigen Waffen angethanen Riesen blos mit dem Namen Gottes bewaffnet entgegen. Die von Esau abstammenden Generationen prahlten gegen Israel mit der von ihrem alten Vater ererbten Kraft und ihrem Schwerte! Israel setzte nur das Gebet von den Vätern ererbt, entgegen.

Jalkut S. 67 b.

 

Liebe zum heiligen Lande.

Ula, aus dem heiligen Lande gebürtig, lag sterbend in Babel. Als er sich dem Tode nahe fühlte, fing er an, bitterlich zu weinen. Seine Schüler sagten: »Warum weinst du? Wir werden deinen Leichnam in das heilige Land tragen, um ihn dort zu begraben.«

Antwortete der Gelehrte: »Wehe mir! Genügt das denn? Ach! ich hauche den letzten Athemzug nicht in meinem Lande aus. Den letzten Athemzug am mütterlichen Busen aushauchen, ist eine ganz andere Sache als ihn am Busen einer Fremden aushauchen.«

Wer im heiligen Lande begraben ist, ist wie wenn er unter dem Altare begraben wäre.

Talmud Ketboth S. 111 a.

 

Rabbi Abba küßte die Steine zu Acco In Palästina..

Rabbi Chanina machte es sich zur Aufgabe, die Straßen der Stadt in gutem Zustande herzurichten und zu erhalten, aus Liebe zum heiligen Lande und damit die Leute nur Gutes vom heiligen Lande sagen könnten.

Rab Chija, Sohn Amra, wälzte sich im Staube des Landes um das Wort des Sängerkönigs zu erfüllen, das da lautet: »denn deine Knechte haben ihr Wohlgefallen an den Steinen deiner heiligen Stadt und lieb ist ihnen ihr Staub Psalm 102 V. 15..

Talmud Ketuboth Seite 112 a. und b.

 

Die Zerstreuung Israels.

»Ich werde sie über die ganze Erde aussäen Hosea Cap. 2 V. 25.,« hat der Herr gesagt. Der Mensch säet, um den Samen hundertfach vermehrt, einzusammeln. So hat der Herr die Söhne Israels unter alle Nationen der Erde zerstreut, damit die Zahl der Glaubenden tausendfach sich vermehre.

Pesachim S. 87 b.

 

Es war eine göttliche Gnade, daß die Söhne Israels sich in allen Theilen der Welt zerstreut fanden.

Ein Römer prahlte bei einem Gelehrten Israels mit der Milde seiner Regierung und sagte: »Ihr wäret grausamer als wir; euer König David, als er Sieger blieb, sendete alle Männlichen Edom's in den Tod; wir lassen euch leben.«

Antwortete ihm der Gelehrte: »Eure Milde ist die Milde der Unmacht. So weit auch euer Reich sei, euer Schwert würde nicht alle Israeliten treffen. Es würden noch welche in andern Winkeln der Erde bleiben, die ein fortwährendes Zeugniß von eurer Grausamkeit ablegen würden.

Pesachim ebendas.

 

Ansehen der Lehrer der Religion.

Als die Wissenschaft den Kalender noch nicht fest geordnet hatte, wurden in Jerusalem, von Zeit zu Zeit, die vorzüglichen Epochen der Feste durch die Untersuchung der Mondphasen bestimmt. Einmal erschienen einige Zeugen vor dem Präsidenten Gamaliel, die behaupteten, den Neumond am Himmel gesehen zu haben. Gamaliel nahm sie auf und auf jene Behauptung setzte er den Anfang der heiligen Festtage fest. Dem Rabbi Jehoschua schienen jene Zeugnisse falsch und er drückte seine offene Mißbilligung darüber aus. Der Vorsitzende gerieth in Zorn und schickte ihm diesen Befehl: »Ich befehle dir, mit Stock und Geld, gerade an dem Tage, auf welchen nach deiner Berechnung das große Versöhnungsfest fallen würde, vor mir zu erscheinen«

Der arme Rabbi betrübte sich sehr darüber, daß er genöthigt wurde, einen Tag zu entweihen, der, nach seiner Berechnung, als heilig betrachtet werden sollte, als er den Weisen Akiba traf und dieser also zu ihm sagte:

»Dein Gewissen hat dir nichts vorzuwerfen. Das göttliche Gesetz hat dem religiösen Tribunale die Bestimmung der Feste anvertraut; die von ihm nach seiner Wissenschaft festgesetzten Epochen sind dem Herrn angenehm. Jedes Zeitalter hat sein religiöses Tribunal; jedes ist in seinen Entscheidungen eben so angesehen, wie die angesehnsten Richter der vorhergegangenen Zeitalter. Der Gläubige muß sich den Entscheidungen des religiösen Tribunals, das nach Gewissen urtheilt und das in seiner Zeit ist, unterwerfen, und um nichts Anderes sich bekümmern. Wenn wir die Aussprüche unseres Präsidenten verwerfen wollten, so müßten wir nochmals auf die Aussprüche aller Richter von Mose bis hierher zurückkommen.«

Der Gelehrte, durch diese Worte beruhigt, erschien vor dem Präsidenten mit seinem Stocke und mit seinem Gelde, wie an einem Werktage und es war doch der Tag, an welchem das Versöhnungsfest, nach seiner Berechnung, war.

Gamaliel lief ihm entgegen und küßte ihn auf die Stirne und sagte: »Komm an meinen Busen, o mein Meister und Schüler, Meister in Wissenschaft und Schüler im Gehorsam.

Talmud Rosch haschana S. 25 a.

 

Die religiösen Disputationen.

Der König Salomo Koheleth Cap. 12. V. 11. lobt die Schlachten der Weisen; es sind dieses die religiösen Disputationen der Meister des Glaubens, die sich in verschiedenen Academien versammeln, und widersprechende und entgegengesetzte Entscheidungen geben. Die Einen erklären unrein, was die Andern rein erklären; die Einen erlauben, was die Andern verbieten. Und der Gläubige sage nicht: »In solchem Widerstreite der Meinungen, wie kann ich das heilige Gesetz lernen?«

Denn sowohl die Einen, als die Andern legen das nämliche göttliche Wort aus; und die Einen und die Andern bringen keine andere Autorität und keinen andern Beweis, als das heilige Gesetz bei, den Einen und den Andern ist das Wort Gottes heilig.

Gieb aufmerksames Gehör, suche dir Einsicht zu erwerben, hinreichend, um die Worte Aller wohl zu verstehen; die Worte dessen, der freispricht, und dessen, der verurtheilt, dessen, der erlaubt, und dessen, der verbietet.

Alle stecken sich ein und dasselbe Ziel; die Verherrlichung des Herrn.

Talmud Chagiga S. 3 b.

 

Eine akademische Schlacht. Ein Sittengemälde.

Es waren die Zeiten des Vorsitzes Gamaliel's. Ein Studirender – es war der später berühmt gewordene Rabbi Simeon Sohn Jochai – hatte Zweifel, ob das letzte Gebet des Abends vom heiligen Gesetze als Pflicht vorgeschrieben, oder blos von den Weisen angerathen und empfohlen sei. Er befragte darüber einen in Israel sehr verehrten Gelehrten, Namens Jehoschua, welcher behauptete, daß jenes Gebet dem freien Willen des Gläubigen überlassen und nicht streng vorgeschrieben sei. Der Schüler war mit jener Antwort nicht ganz zufrieden und zog den Vorsitzenden selbst zu Rathe, welcher ihm versicherte, daß jenes Gebet von den Weisen als eine Pflicht vorgeschrieben sei.

Der Jüngling verwunderte sich über diese entgegengesetzte Lösung und erzählte dem Vorsitzenden die entgegengesetzte Antwort des ersten Gelehrten.

Zum Zorne geneigt, runzelte der Vorsitzende die Stirne, befahl dem Studirenden, zu warten, bis alle seine Collegen anwesend seien, und alsdann, in Gegenwart Aller, seine Frage zu wiederholen.

In kurzer Zeit ist die Academie voll von den größten Gelehrten Israels, unter welchen Rabbi Jehoschua, und von einer zahlreichen Menge Zuhörer. Es wird stille, und der Schüler setzt, nach den empfangenen Befehlen, die Frage auseinander: ob das letzte Gebet des Abends vorgeschrieben oder willkürlich sei.

»Es ist vorgeschrieben, antwortet der Vorsitzende mit feierlichem Tone. Dann, den Blick um und um wendend, setzt er hinzu: Ist Jemand hier, der entgegengesetzter Ansicht ist?«

»Keiner! antwortet frei Rabbi Jehoschua

»Keiner! wiederholt streng der Vorsitzende; keiner! und doch wurde mir in deinem Namen selbst ein entgegengesetzter Ausspruch berichtet. Jehoschua, stelle dich; du bist nicht würdig, zu sitzen, wo Andere sitzen; hier sind die Zeugen, die dich Lügen strafen.«

Der arme Gelehrte stellt sich folgsam und sagt: »Wenn der Zeuge schon im Grabe wäre, könnte ich den Todten Lügen strafen. Aber er lebt, kann ich Lügen strafen den, der lebt?«

Der Zorn Gamaliel's wurde von jenen Worten nicht im Mindesten entwaffnet. Die Sitzung beginnt, die gelehrten Discussionen werden gewechselt und Jehoschua wird immer stehen gelassen, in Mitten der sitzenden Collegen.

Die Menge der Zuhörer gerieth wegen der Herabwürdigung jenes Weisen in Bewegung, wird ungeduldig, erzürnt sich, fängt an, offen gegen die Strenge des Präsidenten zu murren. »Schon mehrere Male, ruft sie, ist der arme Jehoschua unwürdig von Gamaliel behandelt worden; gestern eine Demüthigung, heute eine andere; es ist eine unerträgliche Tyrannei.«

Der Tumult wächst; die Rufe, die Drohungen ertönen von allen Seiten, man gebietet dem öffentlichen Redner In den academischen Sitzungen war eine Art Dolmetsch, Methurgeman genannt, der die Sachen dem Volke deutlich erklärte, indem er sich des demselben geläufigen Dialects bediente. Stillschweigen; Alles ist Schrecken und Verwirrung, die Sitzung wird aufgehoben, und Gamaliel geht hinaus.

Die Gelehrten versammeln sich nun zur Berathung und beschließen einmüthig, Gamaliel des Vorsitzes zu entheben. Aber das Schwierigste war, einen Nachfolger für ihn zu finden, dem Einen fehlte der Glanz der Ahnen; dem Andern die Auszeichnung in der Wissenschaft; Rabbi Jehoschua, den Mitbewerber, den Nebenbuhler Gamaliel's als Vorsitzenden zu erwählen, war vielleicht eine allzugroße Mißachtung des Abgesetzten. Endlich vereinigen sie sich, Rabbi Eleasar zu wählen, als einen Mann von großer Weisheit und Reichthum, von ausgezeichneter Familie, und der kaiserlichen Regierung sehr genehm.

Eine Deputation erscheint bei dem Erwählten, und giebt ihm Kunde von der hohen Ehre, zu der er berufen worden. Eleasar zaudert etwas und behält sich vor, sich mit den Freunden zu berathen. Dann versammelt er seine Verwandten und seine Frau bei sich und setzt ihnen die Ungewißheit, in der sich sein Gemüth bewege, auseinander. Die Verwandten erinnern ihn an die Kämpfe, die er werde zu bestehen haben, an die Gefahr des Sturzes. Aber endlich ruft er mit Entschlossenheit: »das Sprüchwort sagt: einen Tag eine kostbare Vase, morgen mag sie immerhin brechen Ich nehme an.«

Als Gamaliel den Vorsitz geführt hatte, wurde eine strenge Untersuchung über das Betragen der Studirenden angestellt, ehe man sie zur Academie zuließ; denn er glaubte, man müsse Alle diejenigen zurückweisen, deren Gemüth nicht der äußeren Erscheinung entsprach. Mit der neuen Präsidentenschaft hingegen wurde Allen der Eintritt frei gelassen; so wurde die Academie von dem Zudrange der Studirenden überfüllt und die Sitze wurden um Hunderte vermehrt. Gamaliel selbst schloß sich der Menge an und nahm Antheil an der Verhandlung. Aber bei dem Anblicke dieser dichten, studienbeflissenen, viel zahlreichem Menge, als zuvor, wurde er von einer tiefen Wehmuth ergriffen, und er bedauerte, durch seine Strenge, so viele Leute von den heiligen Studien entfernt gehalten zu haben. In der Nacht erschien ihm im Schlafe eine unermeßliche Reihe Krüge, voll mit Asche, ein Symbol jener neuen Menge Die Legende sagt, um den Vorwurf Gamaliel's zu beruhigen, sei ihm im Schlafe die Vision jener Krüge erschienen, um anzuzeigen, daß die Menge aus Leuten von wenig Verdienst bestehe, und daß er nicht zu bedauern habe, sie früher abgehalten zu haben. Sie setzt jedoch hinzu, daß diese Vision zum Zwecke hatte, Gamaliel zu trösten, aber daß es nur eine Fiction gewesen sei.. Aber es war ein Bild, das die göttliche Barmherzigkeit in seiner Seele hervorgerufen hatte, um seinen Vorwurf zu beruhigen, nicht, daß es ein gerechtes Bild jener Studiosen gewesen wäre; denn jene Sitzung war eine Sitzung wichtiger und gelehrter Discussionen und weiser Berathungen. Gamaliel selbst hielt eine lange Discussion mit seinem Nebenbuhler Jehoschua, der ihn durch einleuchtende Gründe zu seiner Ansicht bewog.

Bei diesem glänzenden Beweise der Weisheit seines Rivalen fühlte sich Gamaliel tief gekränkt, daß er ihn mißhandelt hatte, und beschloß, sich in sein Haus zu begeben, um ihn auszusöhnen. Angekommen an dem Hause des Mitbewerbers, sieht er die Mauern desselben ganz geschwärzt vom Rauche. Er tritt ein und sagt lachend zu Jehoschua: »Freund! die Mauern deines Hauses geben zu erkennen, daß du ein Kohlenbrenner bist.«

Der arme Gelehrte, der allerdings von diesem Gewerbe lebte, fühlte sich von diesem bittern Scherze tief verwundet und sagte mit bewegter Stimme: »Wehe dem Zeitalter, dessen Führer du bist; wehe dem Schiffe, dessen Steuermann du bist! Du kennst nicht die Leiden der armen Studiosen, ihre bittern Mühen, um sich ein Stück Brod zu verschaffen.«

Gamaliel wurde von diesem Vorwurfe tief bewegt und flehte mit bittender Stimme um Verzeihung.

Der Beleidigte achtete nicht auf seine Bitten und ergab sich erst dann, als Gamaliel ihn beim Andenken des eignen Vaters um Verzeihung bat.

Als sie sich so wieder ausgesöhnt hatten, dachten sie, wie sie den Weisen die wieder geschlossene Freundschaft mittheilen wollten. Ein daselbst anwesender Wäscher übernahm den Auftrag, und auf ihre Anweisung begab er sich in die Academie und rief: »Dem, der ein königliches Kleid trägt, gebührt das königliche Kleid; aber wer es nie getragen hat, kann er zu dem, der daran gewöhnt ist, sagen: ›lasse deinen Mantel, und ich werde ihn anziehen?‹ Er wollte zu verstehen geben, daß die Würde eines Vorsitzenden dem Neugewählten, einem homo novus, nicht gebühre.«

Bei diesem Ausrufe erschraken die Weisen und fürchteten, daß Gamaliel den Schwarm seiner Diener schicken würde, um sie zu mißhandeln. Die Thüren wurden geschlossen, und Alle standen der Dinge gewärtig, die kommen sollten.

Es begiebt sich Rabbi Jehoschua selbst hin und ruft: »Dem Priester, dem Abkömmling von Priestern, kommt es zu, die heiligen Sprengungen vorzunehmen: wer kein Priester ist, und nicht vom priesterlichen Stamme, kann er zu dem Ersteren sagen: »dein Wasser ist unrein, deine Asche ist unrein?« In den Sühnwassern war die Asche einer verbrannten Kuh eingemischt; es sind Gebräuche, die zur Zeit des Tempels stattfanden.

Schrie ein Gelehrter von drinnen: »Freund! du hast dich also wieder ausgesöhnt? Aber Alles, was geschehen ist, war blos aus Rücksicht auf dich. Sei es immerhin so. Morgen werden wir miteinander gehen, uns mit Gamaliel zu versöhnen.«

Und dennoch wurde Eleasar nicht abgesetzt, sondern der Vorsitz wurde zwischen ihm und Gamaliel getheilt.

Talmud Berachot S. 28 und 29.

 



 << zurück weiter >>