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Fünftes Buch.
Legenden, Parabeln und Principien religiöser Theorie.

(Fortsetzung.)

Wie der Mensch leicht mit Gott in Verbindung trete.

Es giebt keine große Nation, sagt Mose, welcher Gott so nahe sei wie der Ewige, unser Gott 5. Buch Mose Kap. 4 V. 7.. Die Götter der Heiden scheinen wohl nahe bei den Menschen, aber wie ferne sind sie vielmehr! Die Verehrer der Götzen tragen sie bei sich, tragen sie nach Belieben mit sich fort, haben sie bei sich zu Hause; aber bei alledem mag sich der Götzendiener den Athem ausschreien; sein Gott hört nicht und kann ihn nicht retten.

Wie ganz anders ist der Gott Israels! Er scheint unermeßlich ferne, und doch befindet er sich immer bei uns. – Von der Erde zum Firmamente ist eine Reise von fünfhundert Jahren; so von einem Firmamente zum andern; so vom letzten Firmamente zum himmlischen Sitze; und von diesem zum göttlichen Throne. Welche Entfernung von Gott zu seinem Volke! Und dennoch, der Gläubige lispelt leise in einer Ecke des heiligen Tempels ein Gebet, wie ein Mensch, der ein Geheimniß dem Ohre des Freundes anvertraut, und sein Gebet wird alsbald vom Herrn gehört.

Manchmal trifft es sich, daß der Mensch in einem andern Menschen, in einem Fürsten der Erde einen Beschützer hat. Von einem Unglücke betroffen, eilt er in das Haus des Beschützers; er tritt sofort ein, empfiehlt sich einem Bedienten, einem Höflinge; läßt sich anmelden, ist ungewiß, ob er empfangen wird.

Wie verschieden ist der Herr unser himmlischer Beschützer! Der vom Unglück Betroffne braucht sich nicht dem Engel Gabriel, oder dem Engel Michael zu empfehlen; sondern er wendet sich an Gott, nur Gott erhört ihn. Deßwegen sagt die heilige Schrift: »Wer meinen Namen anruft, wird erhört werden.«

Talmud Jeruschalmi Berachot 9.

 

Warum ein einziger erster Mensch.

Warum wurde ein einziger Mensch geschaffen, Vater aller Geschlechter der Erde zu sein?

Um uns zu lehren, daß, wer einen Menschen tödtet, es sei, wie wenn er eine Welt zerstörte, wer einen Menschen rettet, es sei, wie wenn er eine Welt rettet.

Es wurde ein einziger Mensch geschaffen, für den Frieden der menschlichen Gesellschaft, damit eine Generation nicht zur andern sagen könne, mein Vater war größer, als der deinige.

Es wurde ein einziger Mensch geschaffen, um dem Irrthume der Unwissenden zu begegnen, die an zwei Urheber der Schöpfung hätten glauben können.

Es wurde ein einziger Mensch geschaffen, um von der göttlichen Macht Zeugniß zu geben. In der That ein menschlicher Künstler bringt mit einer einzigen Form, die er in tausend Gegenstände eindrückt, immer die nämliche Form hervor. Aber von der ersten Form Adam's rührt eine unbegrenzte Zahl von unendlich verschiedenen Formen her.

Talmud Sanhedrin S. 37 a.

 

Die Wiederaufstehung der Todten.

O ihr Thoren! sagte ein Ungläubiger zu Gabiha ben Pesisa; ihr Thoren! ihr glaubt, daß eines Tages die Todten in's Leben zurückkehren; wie sonderbar! Der Lebendige stirbt, und der Todte soll wieder leben? Ist das möglich?

Thoren ihr! antwortete der Gelehrte, die ihr nicht glaubet, daß die Todten wieder leben können! siehe doch wer nicht war, ist; wer war, sollte der nicht von Neuem sein können?

Talmud Sanhedrin S. 91 a.

 

Das Wesen der heiligen Gesetze.

Der Gesetzgeber Mose schrieb auf den Willen Gottes sechs hundert und dreizehn Gebote den Israeliten vor.

David faßte sie alle in eilf zusammen (Psalm 15).

»Ewiger, wer darf weilen in deinem Zelte, wer darf wohnen auf deinem heiligen Berge? Der untadelig wandelt, und Recht übt, und Wahrheit redet in seinem Herzen; nicht verleumdet mit seiner Zunge, seinem Nächsten nichts Böses thut, und Schmähung nicht erhebt gegen seinen Verwandten; der Verächtliche ist gering in seinen Augen, aber die den Ewigen fürchten, ehrt er; er schwört zu seinem Schaden, und ändert es nicht; sein Geld giebt er nicht auf Zins, und Bestechung gegen den Unschuldigen nimmt er nicht.«

Der Prophet Jesaja faßte sie in sechs zusammen (Kap. 33 V. 15).

»Wer in Gerechtigkeit wandelt und redlich spricht, wer Gewinn durch Bedrückung verschmäht, wer seine Hände schüttelt, daß sie nicht nach Bestechung greifen, wer sein Ohr verstopft, daß er nicht Blutworte höre, die Augen verschließt, um dem Bösen zu entfliehen.«

Der Prophet Micha führt sie auf drei zurück (Kap. 6 V. 8).

»Was verlangt Gott von dir? Gerechtigkeit zu üben, die Milde lieben, in Bescheidenheit wandeln vor deinem Gotte.«

Der Prophet Jesaja verbesserte sie, und beschränkte sie auf zwei (Kap. 56 V. 1): »Beobachtet das Recht und thuet Liebe.«

Der Prophet Amos führte sie auf eines zurück (Kap. 5 V. 4): »So spricht Gott zum Hause Israel: suchet mich und lebet.«

Ein Gelehrter bemerkt: Aus dieser Stelle könnte man annehmen, man solle Gott suchen durch die Erfüllung des ganzen Gesetzes. Achtet vielmehr auf Habakuk, der (Kap. 2 V. 4) sie auf eines zurückführt: »Der Gerechte wird in seinem Glauben leben.«

Talmud Maccoth S. 23 b.

 

Die Gesetze der Natur, und die Sünde.

Ein Philosoph sagte zu Gamaliel: »Euer Gott nennt sich selbst eifervoll; einen Gott, der keine andern Götter duldet, als sich selbst 5. Buch Mose Kap. 4 V. 24.. Aber statt die Anbeter der Götzen so zu bedrohen, warum wendet er nicht vielmehr seinen Zorn gegen die Götzen selbst?«

Ein Fürst, antwortete der Weise, hatte einen entarteten und ungehorsamen Sohn. Dieser hatte unter seinen vielen Unarten auch die Keckheit, seinem Hunde den Namen des eigenen Vaters zu geben. Der Vater geräth in heftigen Zorn; gegen wen? gegen den Hund, oder gegen den Sohn?

Aber, antwortete der Philosoph, wenn Gott alle diese Götzen vernichtete, so wäre keine Gefahr des Irrthums mehr vorhanden. Wohl! versetzte Gamaliel; das wäre ganz gut, wenn Jene Gegenstände anbeteten von keinem Werthe. Aber sie beten die Flüsse, die Luft, das Feuer, den Mond, die Sonne, die Sterne an. Soll der Herr wegen der Thorheit dieser seine Schöpfung zerstören? Wenn Einer Sämereien stiehlt, und sie in den Boden streut, soll dieser Samen nicht Frucht bringen, weil gestohlen? Aber die Natur folgt den Gesetzen, die Gott ihr gegeben hat, und diese Thoren, die sie mißbrauchen, werden für ihre Thaten Rechenschaft geben.

Ein gewisser Sonan sagte zu Gamaliel: »Wir wissen Beide, daß diese Götzen nichtig und lächerlich sind. Aber wie erklärst du es denn, daß viele Kranke, die mit vielen Beschwerden zu ihnen gehen, geheilt zurückkehren?«

»Höre, antwortete der Weise. Wenn Gott den Sterblichen eine Krankheit sendet, so verpflichtet er diese durch einen Eid Eine orientalische Ausdrucksweise, wodurch die unveränderlichen Gesetze der Natur bezeichnet werden sollen., daß sie dieselben zu einer bestimmten Epoche, oder durch ein bestimmtes Heilmittel freigebe. Der Zufall will, daß einige Kranke in jenem Augenblicke hingehen, von den Götzen die Heilung zu erflehen. Sollen die Krankheiten ihren Schwur brechen, weil diese sich wie Narren benehmen?«

Talmud Aboda Sara S. 54 und 55.

 

Zweck der religiösen Vorschriften.

Das heilige Gesetz hat die Thiere bezeichnet, von denen wir uns ernähren dürfen, die Art, wie sie getödtet, die Thiere, deren Fleisch verboten ist. Was kann Gott daran liegen, ob man das Thier so oder so tödte, um es zu essen? daß das eine und nicht das andere als Speise diene? Aber alle diese Vorschriften haben den Zweck, die Menschen auf die Probe zu stellen, oder sie zu reinigen. – In den ersten Jahrhunderten der Schöpfung war den Menschen die Erlaubniß gegeben, Alles zu genießen, wie das Kraut des Feldes; den Israeliten dagegen, angekommen am Fuße des Berges Sinai, wurden in großer Anzahl Vorschriften und Verbote mitgetheilt. Ein vorsorgender Rathschluß des göttlichen Geistes. Ein einziges Verbot von geringem Werth wurde dem Adam auferlegt, und doch wurde es verletzt. Wie würde es um die andern in jenen ersten Zeiten gewesen sein? Im allgemeinen Gerichte wird eine Stimme ertönen in folgenden Worten: »Wer das Gesetz beobachtet hat, erscheine, um den Lohn dafür zu empfangen.«

Jalkut S. 36 b.

 

Die geheimen Gründe des Gesetzes.

Aus welchem Grunde wurden uns nicht die inneren Gründe der göttlichen Vorschriften geoffenbart? Weil der Mensch in seiner Anmaßung sich leicht eingebildet hätte, sich ihnen entziehen zu können. – Bei zwei Anordnungen des Gesetzes wurden die Gründe hinzugefügt, und in diesen gerade hat der Weiseste der Menschen sich schwer verfehlt. – Das Gesetz hatte den Königen verboten, die Zahl der Pferde allzusehr zu vermehren, damit sie nicht Gelegenheit hätten, mit Aegypten in Verbindung zu treten. Salomo sagte: Ich werde mir viel Pferde halten, und doch werde ich mich durch keinen Bund mit den Aegyptern verbinden. Was geschah? Er hielt Pferde, und bekam ägyptische Verwandtschaft 1. Könige Kap. 11..

Das Gesetz hatte den Königen verboten, viele Frauen zu halten, aus Furcht, daß sie ihr Herz verderben möchten.

Salomo sagte: ich werde viele Frauen halten, und werde mich nicht verderben lassen. – Er hatte viele Frauen und diese verleiteten ihn zum Götzendienste.

Talmud Sanhedrin S. 2l b.

 

Der moralische Zweck des Lebens.

Der Mensch, sagt Eliphas aus Theman Hiob Kap. 5 V. 7. ist zur Mühe geboren. Zu welcher Mühe? Zu jener der körperlichen, oder der geistigen Arbeit? Die Religion lehrt, daß der Mensch zur Entwickelung seines Geistes geschaffen ist. Aber in welchen Dingen soll der Geist arbeiten? nicht in eiteln und gleichgültigen Dingen, sondern in der Religion.

Es ist, setzt Rabba hinzu, unvermeidliches Loos der Sterblichen, hienieden zu leiden. Glücklich der, dessen Mühen in der Religion sind.

Talmud Sanhedrin S. 99 b.

 

Werth der talmudischen Vorschriften.

Abaja sagte: Wer die talmudischen Vorschriften beobachtet ist ein Heiliger. Ein Heiliger? antwortete Rabba. Mag sein, aber wer sie nicht beobachtet, mag wohl kein Heiliger sein, aber ein Frevler kann er doch nicht genannt werden. Wisset ihr warum der Erstere ein Heiliger genannt werden kann? Weil er sich dessen beraubt, was ihm erlaubt wäre.

Talmud Jebamoth S. 20 a.

 

Verschiedenheit der Urtheile der Talmudisten über die talmudischen Vorschriften.

Im Anfange der talmudischen Epoche wurde eine feierliche religiöse Sitzung gehalten, um über die Mittel nachzudenken, wie man der gefürchteten Erschlaffung, oder den Gefahren der häufigen Berührung mit den heidnischen Nationen vorbeugen könne. Damals wurden Vorschriften von größter Strenge festgesetzt, die in allen Zeiten des Mittelalters beibehalten wurden.

Jene Thatsache ist in den talmudischen Annalen berühmt, und wird so oft unter der Bezeichnung Bo bajom – an jenem Tage – erwähnt.

Seit damals aber waren die Ansichten der Gelehrten über die Zweckmäßigkeit jener Strenge verschieden. Und der Talmud selbst hat folgende Verhandlung aufbewahrt. Elieser, der jene Strenge billigte, sagte: An jenem Tage haben sie das Maaß bis an den Rand voll gemacht. Wenn man in ein gehäuft volles Gefäß mit Gurken und Kürbissen noch Senf thut, so nimmt es den Senf ein und verstärkt ihn.

Jehoschua, der sie mißbilligte, sagte: An jenem Tage haben sie das Maaß übervoll gemacht. Wenn du in ein, mit Honig ganz angefülltes Gefäß Melonen und Kürbisse thust, so tritt der Honig über das Gefäß heraus.

Talmud Sabbath S. 153 b.

 

Sonderbare Freiheit der Auslegung.

Man unterredete sich über das biblische Kapitel von der Verurtheilung des ungehorsamen Sohnes 5. Buch Mose Kap. 21 V. 18 folg.. Ein Gelehrter erhob sich und sagte: Wie? weil ein junger Mensch über das Maaß ißt und trinkt, soll er zum Tode verurtheilt werden? Nein, ein solches Urtheil wurde nicht vollzogen und soll nie vollzogen werden.

»Aber warum wurde denn jenes Kapitel im Gesetze geschrieben?« »Es wurde geschrieben, damit es uns als Stoff zum Studium diene, und wir mit dem Studium Gelegenheit zur Belohnung haben.«

Ein anderer Weiser bezeugte, er habe dem Vollzuge eines solchen Urtheils beigewohnt.

Ein ander Mal sprach man von den fürchterlichen biblischen Vorschriften gegen die zum Götzendienste verleitete Stadt, welche zerstört werden sollte 5. Buch Mose Kap. 13 V. 13.. Ein Gelehrter sagte: »Ein solches Urtheil wurde nicht vollzogen, und wird nie vollzogen werden.«

Ein andrer sagte: »Wenn in einer solchen Stadt sich nur eine einzige Mesusa befände, so genüge diese, sie zu retten.

Ein anderer sagte, er habe ein Beispiel einer solchen Strafe gesehen.

Talmud Sanhedrin S. 71 a.

 

Rabbi Schimeon, Sohn Lakisch, sagte: Es giebt Stellen im heiligen Gesetze, die, nach dem ersten Anblicke zu urtheilen, als ketzerisch verbrannt werden sollten; die aber, wenn man sie recht versteht, vielmehr das Wesen des Gesetzes enthalten.

Talmud Cholin S. 60 b.

 

Rab Ammi sagte: Das Gesetz redet zuweilen in Hyperbeln (Ausdrücken, die nicht buchstäblich zu verstehen sind), so redeten die Propheten, redeten die Gelehrten.

Talmud Cholin S. 90 b.

 

Die Werke und der Glauben.

Nicht das Studium ist die Hauptsache, sondern die That.

Aboth Kap. 1.

 

Ein Schriftgelehrter, dessen Inneres nicht seinem Äußeren entspricht, ist kein Schriftgelehrter.

Talmud Joma S. 72 b.

 

Gegen diejenigen, die Wissenschaften studiren, aber keine guten Werke üben, pflegte ein Gelehrter folgende Worte auszurufen: »Wehe dem, der kein Haus hat, und ein großes Thor an sein Haus macht.

Ebendas.

 

Ein anderer ermahnte seine Schüler folgendermaßen: Ich beschwöre euch, Freunde! ich beschwöre euch, machet euch nicht zu Erben zweier Höllen Zwei Höllen, weil, der weiß, und nicht recht und gut handelt, größere Strafe erhält, als der, der nicht weiß, und nicht das Gute thut, weil er es nicht kennt..

Ebendas.

 

Rabba sagte: Wer die Religionswissenschaft besitzt ohne Gottesfurcht, ist wie ein Mensch, der die inneren Schlüssel zu einem Hause hat, und nicht die äußeren. Wie wird er hineingehen können?

Talmud Sabbath S. 31.

 

Rabbi Eleasar sagte: Wer mehr Wissenschaft besitzt als Werke, gleicht einem Baume mit vielen, belaubten Zweigen, und wenig Wurzel; ein leichter Wind entwurzelt ihn. – Wer mehr Werke, als Wissenschaft hat, gleicht einem Baum mit wenig Zweigen, aber tiefen Wurzeln; auch ein Sturmwind bewegt ihn nicht von der Stelle.

Aboth Kap. 3.

 

Rabba sagte: Der Zweck der Weisheit ist Buße und gute Werke.

Berachot S. 17 a.

 

Der nämliche Weise sagte: Was nützt es, große Kenntnisse im heiligen Gesetze zu haben und widerspenstig sein gegen Vater, Mutter, Lehrer, Vorgesetzte? Der versprochene Lohn wird dem zu Theil, der wirkt, nicht dem, der studirt, dem, der zur Ehre Gottes wirkt. Wer blos für die eigne Ehre wirkt, für den wäre es besser, er wäre nicht geboren.

Ebendas.

 

Das eigne Leben und das der Andern.

Zwei Reisende hatten sich in einer Wüste verirrt. Einem allein war noch, als einziger Rest aller ihrer Lebensmittel, eine Flasche Wassers übrig geblieben. Getheilt, würden sie Beide sterben; Einem allein gelassen, würde sie hinreichen, ihm Kraft zu geben, um aus der Wüste herauszukommen. Was schreibt die Pflicht dem vor, der der Besitzer der Flasche ist?

Es erhob sich Ben Petora, und sprach: Es sterben lieber Beide, als daß der Eine Zuschauer des Todes seines Genossen sei.

Es widersetzte sich Rabbi Akiba und sprach: »Die Erhaltung des eigenen Lebens geht dem des Andern vor.«

Talmud Baba Mezia S. 62 a.

 

Das Wenige genügt.

Das Buch des Gesetzes spricht Gott zu Jehoschua Jehoschua Kap. 1 V. 8. soll nie aus deinem Munde weichen!

Ein Gelehrter legte diese Stelle in folgender Weise aus: Der Mensch, der ein Kapitel des heiligen Gesetzes am Morgen, und ein anderes am Abend studirt, hat schon der, von der Religion vorgeschriebenen Pflicht genügt.

Ein Anderer entgegnete: Um diese Pflicht zu erfüllen, ist es hinreichend, Morgens und Abends das Schema Das israelitische Bekenntniß. zu sprechen.

Hierauf bemerkte ein Weiser: Eine solche Erleichterung soll man dem Volke nicht lehren (aus Furcht vor Mißbrauch).

Ein anderer Weiser widersprach, und erklärte, es sei vielmehr ein verdienstliches Werk, sie dem Volke bekannt zu machen.

Menachot S. 99 b.

 

Der Werth der Wunder.

Das Wunder genügt nicht, um eine Wahrheit zu beweisen.

In dem Lehrhause war eine wichtige Streitfrage zwischen Rabbi Elieser und seinen Collegen in Verhandlung, nämlich über die Anwendung der Gesetze über die reinen und unreinen Dinge. Alle von Rabbi Elieser angeführten Gründe, um seine Meinung zu vertheidigen, waren widerlegt und zurückgewiesen worden. – Wenn das Recht auf meiner Seite ist, rief endlich unwillig der Gelehrte, so möge es der Johannesbrodbaum, der nahe bei uns steht, beweisen. Bei diesen Worten reißt sich der Baum von seinen Wurzeln los, und begiebt sich auf die entgegengesetzte Seite. – Was thut's? rufen die Collegen einstimmig. Wozu kann der Johannisbrodbaum in unsrer Frage dienen? – So mag denn fuhr Elieser fort, jener Bach, der neben uns fließt, den Beweis liefern. – Und, o Wunder! siehe, der Bach fließt plötzlich rückwärts. – Was thut's? riefen die Gelehrten. Mag das Wasser rück- oder vorwärts fließen, es beweist nichts für unsre Frage. – Nun gut, sagte Elieser erzürnt, die Mauern des Saales werden für mich zeugen. – Und auf einmal biegen sich die Säulen, die Mauern bekommen Risse, und drohen den Einsturz. Da rief Rabbi Jehoschua: Mauern! Mauern! wenn die Weisen in der Auslegung des Gesetzes streiten, was habt ihr damit zu thun? Ehrfurchtsvoll ob dieser Worte, stürzten die Mauern nicht ein; ehrfurchtsvoll vor dem ersten Gelehrten, richteten sich die Mauern nicht wieder auf; und sie blieben gebogen und hängend.

So mag denn die Stimme Gottes selbst den Ausspruch thun! so beschwor Rabbi Elieser; und die Tochter der Stimme erscholl aus der Höhe also: »Was wagt ihr dem Rabbi Elieser zu widersprechen? Das Recht ist auf seiner Seite.« Aber gegen jene geheimnißvolle Stimme erhob sich Rabbi Jehoschua und rief: »Sie ist nicht mehr im Himmel« Worte der heiligen Schrift: 5. Buch Mose Kap. 30 V. 11 u. 12. Diese Stelle will sagen, daß die religiöse Wahrheit schon dem Menschen in dem Gesetze übergeben sei; und daß das Gesetz allein und keine andere Autorität als Lehrmeister der Wahrheit angenommen werden könne, da es das Wort Gottes ist..

Nein, das Gesetz ist nicht mehr im Himmel, wir achten nicht auf diese geheimnißvolle Stimme. Du selbst, o Herr, hast in deinem Gesetze (2. Buch Moses Kap. 23 V. 2) befohlen, daß die Meinung der Mehrheit der Gelehrten diejenige ist, die Geltung habe.

Als Rabbi Nathan mit dem Propheten Elia zusammentraf, fragte er ihn, was man im Himmel von jenem berühmten Streite sage. Der Prophet antwortete: »Der Herr lächelte und wiederholte: meine Söhne haben gesiegt; meine Söhne haben gesiegt.«

Talmud Baba Mezia S. 59 b.

 

Die Bekehrungssucht.

Wenn Jemand in unseren Zeiten sich darstellt, um die israelitische Religion anzunehmen, so muß man, ehe man ihn annimmt, zu ihm sagen: »Bedenke, daß Israel immer dem Spott, den Beleidigungen, den Schmerzen, den Qualen ausgesetzt ist.«

Wenn er antwortet: »Ich weiß das Alles, möchte ich doch würdig befunden werden, ihre Leiden zu theilen;« so muß man ihm ferner sagen: »Bedenke, wenn du bisher uns verbotene Dinge genossest, so war es für dich keine Sünde; wenn du am Sabbath arbeitetest, so war es für dich keine Verschuldung. Aber wenn du unsern Glauben angenommen hast, so würde das Eine oder das Andere eine schwere Strafe auf dein Haupt herabrufen. Es ist wohl wahr, daß der Lohn dessen, der die Vorschriften beobachtet, groß ist, daß das Paradies den Gerechten vorbehalten ist.«

Wenn er schwankt, so gehe er weiter.

Man soll ihn weder zu sehr einschüchtern, noch zu sehr ermuthigen.

Talmud Jebamot S. 47 a.

 

Rabbi Eleasar sagte: Es stehet geschrieben (1. Buch Mose Kap. 12 V. 5) »Abraham nahm mit sich die Seelen, die er gemacht.« Die er gemacht? Aber wenn alle menschlichen Generationen sich versammelten, um ein Insekt zu erschaffen, könnten sie ihm das Leben geben?

Diese Seelen sind die der Götzendiener, die er zu Gott geführt hat. Denn wer einen Götzendiener zu Gott führt, ist, wie wenn er ihn erschaffen hätte.

Rabboth S. 43 b.

 

Gott liebt den Fremdling, und giebt ihm Brod und Kleider, steht geschrieben (5. Buch Mose Kap. 10. V. 10.)

Der Proselyte Aquila bemerkte einem Gelehrten: Welche großen Versprechungen? Brod und Kleider? Ist das Alles? Der Gelehrte antwortete ihm: Der Patriarch Jacob, was erbat er sich von Gott: Brod und Kleider. Gott verspricht, was er sich erbat. Zudem, dieses Brod ist das Brod der Heiligkeit, das Kleid ist das Kleid des Hohenpriesterthums.

Rabbi S. 136 a.

 

Ein Hirte hatte eine zahlreiche Heerde, die er jeden Tag auf die Weide führte, und jeden Abend wieder zurückführte. Einmal mischte sich ein Hirsch freiwillig unter die Heerde, und folgte ihr, und ward ihr unzertrennlicher Begleiter. Die Heerde ging hinaus zur Weide, er mit; sie kehrte zurück, er mit. Der Hirte erwies ihm große Liebe, und empfahl ihn immer den Dienern; und er wollte, daß ihm nichts mangle, und daß ihm nichts zu Leide geschehe. – Die Diener sagten: Warum liebst und hätschelst du den Hirsch am meisten in der ganzen Heerde? Der Hirte antwortete: »Der Arme, an die Freiheit der Wüste gewöhnt, hat seiner Freiheit entsagt, und folgt uns getreulich. Soll ich ihn nicht mehr als Alle lieben?«

So ist es mit denen, die den Irrthum verlassen, und sich der Wahrheit zuwenden; sollen wir sie nicht lieben?

Rabboth S. 225 a.

 

Theorie der Buße.

Wer bei sich denkt: »ich werde sündigen, und Buße thun; ich werde abermals sündigen und von Neuem Buße thun«, dem giebt die göttliche Gerechtigkeit keine Gelegenheit zur Buße. – Wer bei sich spricht: »ich werde das Böse thun, und das große Fasten wird Alles sühnen«, für den wird das große Fasten nichts sühnen Das große Fasten oder der Versöhnungstag ist die ernsteste und hochheiligste Feier der Israeliten. Demselben gehen zehn Bußtage vorher, die das Gemüth zur größern Buße vorbereiten; und diese Epoche wird für besonders geeignet und wirksam gehalten, um die Verzeihung der Sünden zu erlangen. Die Einsetzung und die Bedeutung dieser Feier steht in der Bibel selbst verzeichnet.. – Die Bußtage dienen zur Vergebung der Fehler des Menschen gegen Gott. Aber für die Beleidigungen des Menschen gegen den Menschen kann nichts helfen, so lange die Beleidigung nicht gut gemacht, und der Beleidigte nicht versöhnt worden.

Joma S. 85 b.

 

Rab Adda sagte:

Wer die Früchte seiner Sünden in den Händen hat, und Buße thut, und weint und betet, und indessen die Frucht seiner Sünde nicht wegwirft, womit kann der verglichen werden? Man kann ihn einem Thoren vergleichen, der ein unreines Insekt in seiner Hand hält, und sich in diesen Wassern wäscht, und sich in jenen Wassern wäscht und sich in tausend Wassern wäscht. Aber er wird nie dadurch gereinigt werden, so lange er nicht das Insekt wegwirft.

Talmud Taanith S. 16 a.

 

Theorie des Fastens.

Ein Gelehrter sagte: Wer ein freiwilliges Fasten hält, ist ein Sünder. Das heilige Gesetz schreibt dem Nasir ein Söhnopfer vor, weil er gegen sich selbst gefehlt hat, indem er schwor, sich des Weines zu enthalten. Wenn ein Sünder ist, wer sich durch diese einzige Enthaltung selbst quält, so ist ein doppelter Sünder, wer sich der göttlichen Gaben enthält.

Ein anderer Gelehrter sagte: Im Gegentheil, er ist ein Frommer.

Talmud Taanith S. 11 a.

 

Bei dem öffentlichen Fasten erhebt sich der Ehrwürdigste der Gemeinde, und spricht: »Meine Brüder! Nicht das Fasten, nicht das Bedecken mit einem Sacke Das Bedecken mit einem Sacke war ein gewöhnlicher Bußgebrauch. tragen bei, die göttliche Gnade zu erlangen, sondern die Buße, die guten Werke. Bei der den Niniviten gewährten Vergebung, sagt der Prophet, nahm Gott keine Rücksicht auf ihre Fasten, und auf ihre Säcke, sondern auf ihre Reue.

Talmud Taanith S. 16 a.

 

Das Studium des Gesetzes.

Rab Iddi machte eine Geschäftsreise von 3 Monaten. Nach der Rückkehr verweilte er einen ganzen Tag beim Studium in der öffentlichen Schule, dann fing er wieder seine Reisen an, immer in der nämlichen Weise.

Seine Freunde verlachten ihn darüber und nannten ihn scherzweise »den Schüler eines Tages.«

Der Arme empfand wegen dieses Spottes großen Schmerz und rief mit lauter Stimme die Worte Hiob's aus: Kap. 12 V. 4. »Ich bin ein Gegenstand des Spottes meinen Freunden; ich werde den Herrn anrufen und werde erhört werden.«

Ein Gelehrter erschrak über diese Beschwörung und bat den Rabbi, daß erschreckt er über seine Freunde nicht den himmlischen Zorn herabrufen möge.

Hierauf verkündete er in der öffentlichen Schule diesen Spruch: Wer sich mit religiöser Absicht auch nur einen Tag des Jahres mit dem Studium des heiligen Gesetzes beschäftigt, hat ein gleiches Verdienst, wie der, der sich das ganze Jahr damit beschäftigen kann.

Talmud Chagiga S. 5 b.

 

Die Wohlthätigkeit.

Der gottlose Turnus Rufus sagte zu Rabbi Akiba: »Wenn, wie ihr sagt, euer Gott der Freund der Armen ist, warum ist er nicht bedacht, sie zu ernähren, sie zu unterstützen?«

»Der Herr überläßt diese Sorge den Menschen, antwortete der Gelehrte, damit wir uns dadurch ein Verdienst erwerben können, das zur Sühne unserer Vergehungen gereiche?«

»In der That ein schönes Verdienst! Gieb Acht, ich will dir einen kleinen Vergleich anstellen. Denke dir einen Fürsten, der, erzürnt gegen einen Diener, ihn in's Gefängniß steckt und ein strenges Verbot ergehen läßt, demselben Speise oder Getränke zu reichen. Wenn ein Tollkühner sich herausnähme, dieses Verbot zu übertreten, und dem verurtheilten Diener Speisen zu bringen, wäre dies vielleicht ein verdienstliches Werk bei dem Fürsten?«

Der Vergleich ist nicht richtig, antwortete der Gelehrte; gieb acht, ich will dir vielmehr einen andern machen. Denke dir, ein, gegen den eignen Sohn erzürnter Fürst sperrte ihn in's Gefängniß, mit dem Verbote ihm Speise oder Trank zu bringen. Denke dir noch, daß ein guter Mensch aus Mitleid dem Unglücklichen die Speise bringe, und ihn vom Tode errette. Würde der Fürst, weit entfernt diese Handlung unwillig aufzunehmen, nicht vielmehr den guten Mann belohnen, der ihm den Sohn rettete? Und wir, wir sind zwar Knechte 3. Buch Mose Kap. 25 V. 55., aber wir sind auch alle Kinder Gottes 5. Buch Mose Kap. 14 V. 1..

Baba Batra 10 a.

 

Die zwei Mahlzeiten.

Der Gelehrte Chanina war der Mann der Wunder. Und doch lebte der gute Mann kümmerlich mit seiner Familie, und ein Maß Johannisbrod reichte hin zu seinem und der Seinigen Unterhalte für die ganze Woche.

Aber seine Frau schämte sich wegen ihrer großen Armuth und suchte, sie zu verbergen. Einmal wenigstens in der Woche warf sie einen brennenden Holzscheit in den Ofen, damit er eine Rauchsäule verbreite, und außen glauben mache, daß das wöchentliche Brod darin gebacken werde.

Eine boshafte Nachbarin bemerkte mehrere Male jene Rauchsäule, die aus dem elenden Hause aufstieg, und dachte bei sich: »Als wüßte man es nicht! Die Bettelleute wollen Brod machen ohne eine Hand voll Mehl. Mir machen sie es nicht weiß. Ich will die Freche entlarven.«

Mit diesem bösen Vorsatze geht sie aus dem Hause, und klopft an die Thüre der Nachbarin. Die Frau des heiligen Mannes erräth sogleich die verruchte Absicht, fühlt sich die Gluth des Erröthens in's Gesicht steigen, öffnet eilig, und entschlüpft in's andere Zimmer.

Die böse Frau tritt lachend ein, läuft an den Ofen; o, unerwarteter Anblick! Der ganze Ofen war gestopft voll von Brod. Ueberrascht, bewegt, verwirrt ruft sie: »Freundin! schnell! schnell! die Schaufel! das Brod verbrennt!« So verhinderte der Herr durch dieses Wunder, daß die heilige Frau beschämt wurde.

Am Abend kommt der Gemahl nach Hause: die Frau geht ihm entgegen, und erzählt ihm die wunderbare Geschichte; aber noch eingedenk, wie es ihr das Herz zusammengeschnürt hatte, setzte sie hinzu:

»Mein Gemahl! unser Leben, das wir führen, ist zu elend. Glaubst du, daß es immer so fortgehen werde?« »Was ist zu thun, meine Frau!«

Was ist zu thun? das ist gleich geschehen. Du bist der Mann der Wunder, in der andern Welt muß dir fürwahr ein schön Theil zufallen. Nun, bitte Gott, daß er dir einen kleinen Theil davon auch in dieser gewähre.«

Der heilige Mann, getrieben, gedrängt, belästigt von der Frau, willigte endlich ein. Er betet, betet und betet, und während er ganz mit Beten beschäftigt war, und die Augen zum Himmel erhoben hielt, sah er in der Höhe einen leuchtenden Gegenstand; und dieser steigt herunter, und immer herunter, und fällt ihm zu Füßen. Es war ein massiv goldnes Bein, von einem goldnen Tische.

Der arme Gelehrte hebt es zitternd auf, und fast kommt ihm das Weinen an. Von jenem Augenblicke fühlte er sich im Gemüthe aufgeregt, wie von einem Gewissensbiß. Er geht zu Bett und kann nicht schlafen. Endlich schläft er ein; aber ach! welch schmerzlicher Traum!

Dem Gelehrten schien es, als sei er in den Himmel versetzt.

Das himmlische Gemach funkelte ganz von Gold und Edelsteinen; rings herum saßen die Seligen beim himmlischen Mahle, und ein jeder hatte vor sich einen kostbaren Tisch ganz von Gold. Auch dem Gelehrten schien es, als sitze er, mit seinem Tische vor sich; aber ach! sein Tisch schaukelte und wankte, weil ihm ein Bein fehlte.

Der Heilige erwacht erschrocken und ruft: »mein Gott! mein Gott! nimm dein Geschenk zurück.«

Und das Geschenk wurde zurückgenommen.

Unsre Weisen sagen sehr richtig, daß der Mensch nicht zwei Mahlzeiten genießen könne (das irdische Werk und das himmlische Diese Legende und viele ähnliche gehen von dem rabbinischen Grundsatze aus, daß das irdische Glück gleichsam ein Unglück sei, weil es als Lohn für unsre wenigen Verdienste dienen kann, und uns der himmlischen Glückseligkeit beraubt.).

Talmud Taanith S. 25 a.

 

Der frühzeitige Tod der Gerechten.

»Nicht einmal seinen Gerechten vertraut Gott,« sagt Eliphas aus Teman Hiob Kap. 15 V. 15..

Ein Gelehrter, der über diese Worte nachdachte, fühlte sich bewegt und verwirrt, und meinte: »Wenn er auf seine Heiligen kein Vertrauen setzt, in wen wird denn Gott sein Vertrauen setzen?«

Eines Tages ging dieser Gelehrte im Felde spazieren und blieb zufällig stehen, um einen Landmann zu beobachten, der Feigen von einem Baum pflückte. Der Landmann ließ die reifen auf dem Baume, und andre, noch nicht ganz reife, riß er ab, und legte sie in einen Korb.

Der Weise darüber verwundert, sagt zum Landmann: jene, die du lassest, sind doch besser; warum pflückest du sie nicht ab?

Meister! antwortete der Andere, ich mache mir Vorrath für eine Reise. Diese noch nicht reifen halten sich besser, und faulen nicht; die andern würden bald verderben.

Der Gelehrte dachte bei sich: »nun weiß ich, warum viele Gerechte eines frühzeitigen Todes sterben. Gott hat kein Vertrauen auf seine Heiligen; und er pflückt sie ab vor der Zeit, damit sie nicht zu Schaden gehen.«

Talmud Chagiga S. 5 a.

 

Das Urtheil Gottes.

Jochanan, der Sohn Saccai, war den letzten Stunden seines Lebens nahe, und lag auf dem Sterbebette.

Seine Schüler treten ein, um ihn zu besuchen; sie nähern sich schweigend, sehen ihm in's Angesicht, und o Erstaunen! sie sehen, sein Angesicht ganz von Thränen überschwemmt.

»O unser süßer Meister, du weinst? du Licht Israels, du Muster von Stärke und Heiligkeit, du weinst beim Herannahen des Todes?«

»Meine Söhne! antwortete leise der Lehrer, alle seine Kraft sammelnd. Wenn ich im Begriffe wäre, vor einen Sterblichen zum Gerichte zu treten, würde ich Ursache haben, zu zittern? Ich weiß, daß ein solcher Richter, heute am Leben, morgen im Grabe sein könnte. Ich weiß, daß sein Zorn der Zorn eines Tages ist; daß seine Richtersprüche nicht ewig dauern; daß der Tod, den er mir geben würde, nicht ein ewiger Tod wäre; daß ich ihn vielleicht mit Bitten und mit Geschenken gewinnen könnte. Und doch, wenn ich vor sein Tribunal geführt würde, würde ich nicht ohne Zittern hingehen!

Jetzt hingegen bin ich im Begriffe, vor dem Herrn aller Dinge zu erscheinen, vor dem Gotte der Heiligkeit und der Gerechtigkeit, dessen Zorn und dessen Verurtheilung, wenn sie auf mich niederschmetterten, ewig dauern würden; unbestechlich in seinen Urtheilen. Ich sehe zwei Wege vor mir, wovon der eine zur Glückseligkeit, und zur Verdammniß der andere führt, und ich weiß nicht, auf welchen ich werde geführt werden und ich soll nicht zittern?«

Und die Schüler, ebenfalls von heiligem Schrecken ergriffen, sprachen: »Meister, gieb uns deinen Segen, der uns auf dem guten Wege erhalte!«

Der Sterbende raffte seine Kräfte zusammen, dann legte er seine Hand auf ihr Haupt und sagte: »ich bete für euch, daß die Achtung vor Gott bei euch immer eben so groß sein möge, als die Achtung vor den Menschen.«

»Blos das? sprachen sie erstaunt; wäre das genug?«

»Es wäre genug, antwortete der Gelehrte. Der Mensch, wenn er ein Unrecht begehen will, sucht es immer dem Menschen zu verbergen. Im Begriffe, eine Sünde zu begehen, suchet wenigstens, sie vor Gott zu verbergen, vor Gott, der Alles sieht; wenn ihr könnt.

Talmud Berachoth S. 28 b.

 



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