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XVII

Pearson hätte sich den Verfolgern auf ihrem Weg in die Höhle des Löwen gern angeschlossen. Denn jetzt, wo Bertons Verhaftung so unmittelbar bevorstand, fühlte er die Passion eines Jägers in sich. Jener Mann war ein hartgesottener Verbrecher, mit dem niemand Mitleid zu haben brauchte; je eher ihn also die gerechte Strafe ereilte, um so besser.

Gegenüber der Signora hingegen konnte er sich eines gewissen Mitleids nicht erwehren. Jedenfalls weil sie eine Vertreterin des schwachen Geschlechts war, und schön und liebenswürdig obendrein. Vermutlich war sie durch schlechten Umgang in die Verbrecherlaufbahn getrieben worden, und es hatten Einflüsse auf sie eingewirkt, denen sie sich nicht zu entziehen vermochte. Wenn auch sein Verstand ihn zwang, sie zu verurteilen, war sein Herz doch von dem Wunsche erfüllt, daß die Italienerin nicht in diese anrüchige Sache verwickelt sein möge.

Während er in dem ziemlich verwahrlosten Wohnzimmer des kleinen Lokals saß, in dem Shaddock und seine Leute auf ihr Signal gewartet hatten, prüfte er sorgfältig die Photographie, die ihm der Detektiv übergeben hatte. Von dem verwilderten, bärtigen Kerl in dem kleinen Landhaus an der Straße von Scarborough würde die Aufnahme allerdings wesentlich anders ausgefallen sein als die, welche er hier vor sich hatte. Hier sah man einen Herrn in moderner Kleidung, mit einem Anzug nach neuestem Schnitt, und einem weichen Filzhut letzter Neuheit. An Stelle des struppigen Vollbarts, den jene verdächtige Gestalt getragen, sah man auf dem Bilde einen Schnurr- und Knebelbart.

Pearson mußte zugeben, daß, wenn man ihm dieses Bild ohne irgendwelche Erläuterung gezeigt hätte, er nicht im Stande gewesen wäre, es als das Konterfei des Kellners aus dem Hotel Vinci wiederzuerkennen. Diese Schwerverbrecher besitzen eine Routine in der Verwandlungskunst, um welche sie ein Schauspieler beneiden könnte. Was er hier vor sich sah, war das Gesicht eines heiteren, fast vergnügten Menschen. Wenn er es genau betrachtete, konnte er allerdings gewisse Züge jenes Mannes erkennen, der versucht hatte, ihn umzubringen.

Während er auf diese Weise seinen Gedanken über die Signora nachging, war die Aushebung des Nestes in vollem Gange.

Shaddock hatte sich selbstverständlich mit der Örtlichkeit gründlich vertraut gemacht. Das Haus bestand aus vier Stockwerken, die in je vier Blöcke zu acht Wohnungen eingeteilt waren, welche man rechts und links von den betreffenden Treppenabsätzen aus erreichte. Die Italienerin wohnte im zweiten Stock. Es war kein Ausgang nach rückwärts vorhanden, der auf die Hinterfront eines anderen Gebäudes aufgestoßen hätte. Wahrscheinlich war eine Möglichkeit vorhanden, von dem obersten Stockwerk aus durch eine Falltür auf das Dach zu gelangen. Doch konnte das nur mit Hilfe einer langen Leiter geschehen. Und diese Leiter befand sich in den Räumen des Pförtners, die seitwärts im Erdgeschoß lagen.

Wenn also die umstellten Banditen versuchen sollten, ihren Verfolgern zu entschlüpfen – ein schier unmögliches Kunststück –, konnten sie nur über die Treppe hinweg den Ausgang ins Freie gewinnen. Man mußte sich aber auch gegen alle unvorhergesehenen Zufälligkeiten schützen. Shaddock hatte daher seine Pläne mit der Umsicht eines tüchtigen Generals ausgearbeitet.

»Es ist ein Glück für uns, daß diese Häuser keinen Fahrstuhl an ihrer Hinterfront haben, wie das so häufig der Fall ist,« bemerkte er zu Berenger. »Wenn also Berton, wenn wir anklopfen, Gefahr wittern und fürchten sollte, daß unliebsame Besucher Einlaß wünschen, gibt es nach rückwärts für ihn kein Entrinnen. Für den unwahrscheinlichen Fall, daß es ihm gelingen sollte, unsere Kette zu durchbrechen, muß er die Treppe hinunter. Ich werde ganz ruhig anklopfen, um jedes Aufsteigen eines Verdachtes zu vermeiden. Doch kann uns Berton natürlich durch das Fenster gesehen haben, als wir uns dem Hause näherten. So weit ich feststellen konnte, hat die Frau ein ständiges Hausmädchen, das heißt einen angestellten Dienstboten, der nicht Mitglied der Bande ist. Ich werde Johnson am unteren Ende placieren; er ist sehr kräftig, und sollte es notwendig werden, kann er den Kerl solange halten, bis wir zu seiner Unterstützung herankommen.«

Die fünf Angreifer, Shaddock, Berenger, der Mann mit dem Luchsgesicht und die beiden Polizisten in Zivil, waren nun in dem Hausflur versammelt. Johnson, der starke Mann der Abteilung, ein sechs Fuß großer stämmiger Mensch, stand auf dem Posten, den sein Vorgesetzter ihm angewiesen hatte. Die anderen stiegen leise bis zu jenem Stockwerk hinauf, in dem die Signora wohnte.

Shaddock klopfte seelenruhig an, und in wenigen Sekunden wurde die Tür geöffnet. Eine anständig aussehende Frau in mittleren Jahren, die erschrocken auf die Schar resoluter Männer blickte, wurde sichtbar. Sie war sehr blaß – wahrscheinlich in dem Glauben, sie habe es mit Einbrechern zu tun. Und Shaddocks erstes Zugreifen war auch nicht gerade vertrauenerweckend; denn aus der Befürchtung heraus, die Frau könnte Alarm schlagen, preßte er seine Hand auf ihren Mund. Zugleich redete er leise auf sie ein.

»Sie haben nichts zu befürchten, gute Frau,« flüsterte er. »Es ist Ihre Herrin, mit der wir zu tun haben. Wir sind die Polizei. Ich bin ein Inspektor von Scotland Yard.«

So weit war alles ganz planmäßig verlaufen; doch die Tritte von vier Männern, so vorsichtig sich diese auch bewegten, mußten gehört werden. Behutsam wurde die Tür des Wohnzimmers geöffnet, und ein verängstigtes Gesicht lugte in das Vorzimmer. Es war Signora Mattelli.

»Vorwärts,« brüllte Shaddock, dessen ganze Erscheinung sich beim Anblick seiner Beute straffte. Mit ein paar Sätzen war er an der Tür, während die überraschte Frau vor Angst wie gelähmt schien. Er legte ihr Handschellen um die Gelenke und schob sie dem ihm auf den Fersen folgenden Berenger zu. Und nun betrat er das Zimmer, dicht gefolgt von den anderen. »Varnier, auch Berton genannt, und Sie, Signora Mattelli, wir haben Haftbefehl gegen Sie wegen des Diebstahls in Wimbledon. Nun Varnier, wollen Sie uns ruhig folgen oder leisten Sie Widerstand? Wir sind, wie Sie sehen, vier gegen einen, und Ihre Genossin haben wir bereits festgenommen. Es ist klüger, Sie geben gütlich nach.«

Elegant gekleidet, ganz wie auf der Photographie, welche Shaddock Pearson übergeben hatte, warf sich der Bursche in Positur. Er stand am Eßtisch, dessen einer Flügel sich fast der Tür gegenüber befand. Ohne Zweifel hatte er das ungewohnte Geräusch, welches die ungebetenen Gäste verursacht hatten, gehört, und schnell die Gefährtin an die Tür geschickt, was so übel für sie ausgegangen war.

Varnier war aschfahl geworden; doch deutete nichts bei ihm, im Gegensatz zu seiner Mitschuldigen, auf einen Zusammenbruch, und er war auch nicht aufgeregt. Berenger hatte die Italienerin in einen Lehnstuhl gesetzt und wartete nun auf die Festnahme ihres Spießgesellen. Einen Augenblick, während die anderen Männer von der Tür her auf ihn zuschritten, schien der Verbrecher zu stutzen. Dann sprach er – sehr langsam und deutlich; man hörte natürlich den ausländischen Akzent heraus, aber man merkte, daß er mit der englischen Sprache vertraut war.

»Ich habe nicht die Absicht, Ihnen Scherereien zu machen – ich will ruhig mitkommen,« sagte er.

Das letzte Wort war gerade seinem Munde entschlüpft, als ein lauter Krach ertönte. Varnier hatte seine Hand in die Tasche gleiten lassen und mit kühnem Griff eine Glaskugel auf den Tisch geschleudert; diese zerbarst, und in einer Sekunde war das ganze Zimmer mit einer dichten Wolke eines widerlich riechenden Gases erfüllt. Alle Anwesenden waren völlig ihres Sehvermögens beraubt, husteten und rangen nach Atem.

Man befand sich wie in einem undurchdringlichen Nebel; keiner erkannte den andern; niemand konnte die Hand vor Augen sehen. Die Männer versuchten, aus dem Zimmer herauszukommen, hatten aber jeden Orientierungssinn verloren. Wenige Sekunden nach dieser verheerenden Explosion hörten sie lautes Stöhnen. Sofort erriet Shaddock, was sich ereignet hatte.

»Das war Johnson, der stöhnte,« schrie er aus voller Kehle, da ihn das ätzende Gas halb erstickte. »Gerechter Himmel, Berton ist entkommen und hat ihn niedergeschlagen.«

Berenger hatte, als der giftige Dunst auf ihn eindrang, seine Geistesgegenwart bewahrt; er hatte die Frau mit festem Griff am Arm gepackt und in der Verwirrung nicht locker gelassen. Die Italienerin hustete und rang ebenso nach Atem wie die anderen, bis die Schwaden sich verflogen. Als man endlich wieder sehen konnte, war Berton verschwunden. Mit der Lage des Zimmers gründlich vertraut, war er unter den Tisch gekrochen, dadurch den schlimmsten Wirkungen des Gases entgehend, war zur Tür hinausgestürmt, und dann hatte er mit dem unglücklichen Johnson abgerechnet.

Unter Zurücklassung Berengers, der die Italienerin zu bewachen hatte, stürzten die übrigen die Treppe hinunter, wo sie den Beamten durch einen schweren Schlag auf den Kopf betäubt am Boden liegend fanden. Zwei von ihnen blieben bei dem Bewußtlosen zurück. Inzwischen kam der Pförtner heraufgerannt und telephonierte sofort nach dem Arzt. Shaddock und sein Gefolge liefen auf die Straße. Immer noch wie betäubt, starrten sie hoffnungslos vor sich hin.

Für einen Ausreißer konnte es unmöglich eine günstigere Lage geben, da das Haus am Kreuzungspunkt mehrerer Straßenzüge lag. Fünf breite Verkehrswege standen dem Verbrecher offen, und außerdem hatte er den Vorteil eines gehörigen Vorsprunges. Es war ein belebter Stadtteil; der Flüchtling konnte in wenigen Sekunden ein Auto erwischen.

Eine Verfolgung aufzunehmen, war aussichtslos. Mit wahrer Wut im Herzen kehrte Shaddock dorthin zurück, wo der Polizist durch den verwegenen Verbrecher niedergeschlagen worden war. Kurz darauf kam ein Arzt und erklärte, daß der Schlag nicht tödlich war, daß der Bedauernswerte aber für einige Zeit dienstuntauglich sein würde. Bald kam auch der Krankenwagen und transportierte Johnson in das nächste Hospital.

Durch die unerwartete Wendung der Dinge war Pearson für einen Augenblick ganz dem Gedächtnis Shaddocks entrückt. Natürlich würde er ihn erwarten und wissen wollen, was vorgefallen war. Denn die Verhaftung Bertons und seiner Helfershelferin hatte nach seiner optimistischen Voraussage nur wenige Minuten beanspruchen sollen. Der Detektiv bedeutete seinen Begleitern, daß er gleich wieder zurück sein werde, und ging, um Pearson den Fehlschlag mitzuteilen.

Pearson, den das lange Ausbleiben Shaddocks schon beunruhigt hatte, sprang auf, als der Detektiv eintrat, und schritt hastig auf ihn zu. »Es hat länger gedauert, als Sie dachten? Aber Sie haben wohl Beide in Händen?«

Doch ein Blick auf Shaddocks gedrückte Haltung bereitete ihn auf die Antwort vor. »Den kleineren Sünder haben wir allerdings, aber dieser Teufel von Berton brannte uns unter der Nase durch.«

In kurzen Worten erläuterte er, durch welche List dieser Erzgauner die Männer des Gesetzes zur Ohnmacht verurteilt hatte. »Es tut mir leid, lieber Freund, daß ich Sie umsonst bemühte. Doch ich muß jetzt rasch weiter. Es ist mir sehr daran gelegen, die Wohnung gründlich zu durchsuchen, denn ich hoffe weiteres belastendes Material zu finden. Da bei diesen Geschäften die Frau ihr Spiel trieb, und zwar hinter den Kulissen, wird sie sich für ziemlich sicher gehalten haben. Aber verlassen Sie sich darauf: diesen Schuft von einem Franzosen fasse ich noch.«

Pearson sah, wie sehr sein alter Bekannter über den Mißerfolg verärgert war; er fühlte, daß es taktlos sein würde, ihn zurückhalten zu wollen.

»Es ist ein rechtes Pech,« bemerkte er, nicht recht wissend, was er angesichts des verletzten Stolzes des Detektivs Tröstliches sagen konnte; »aber ich habe das unbedingteste Vertrauen zu Ihnen. Sie werden Deschamps noch übertrumpfen, davon bin ich überzeugt.«

Er wußte wohl, der größte Schmerz für Shaddock war, daß es ihm nicht gelungen war, seinem alten Freund ein Schnippchen zu schlagen.

»Ich werde den Mut schon nicht verlieren, das verspreche ich Ihnen. Aber es heißt nun, alles wieder von vorn anfangen. Und von der Signora haben wir keine Hilfe zu erwarten. Mein Urteil über sie war fertig, als ich ihr die Handschellen anlegte. Sie hält fest zu dem übrigen Lumpenpack, und nichts wird sie dazu bringen, ein Wort über deren Schandtaten zu verraten. Nun leben Sie wohl für heute. Sobald etwas zu melden ist, gebe ich Ihnen Nachricht.«

Shaddock schlich niedergeschlagen zu der Wohnung zurück, wo sein Kollege Berenger noch immer die Italienerin bewachte. »Schaffen Sie sie fort,« verfügte er hart; »am besten ist es, Sie nehmen noch einen Mann mit. Es sieht zwar nicht so aus, als stecke noch viel Kampfeslust in ihr. Ich will mit Andrews jetzt jeden Winkel und jedes Versteck hier durchsuchen.«

Während dieser letzten Worte schaute der Detektiv die totenblasse Frau scharf an und bemerkte, daß sie unwillkürlich zusammenzuckte. Er wußte nun, daß er recht hatte mit seiner Annahme, daß die Mattelli sich sicher gefühlt habe und vermutlich nicht so vorsichtig gewesen war, wie die Klugheit es erheischt hätte. Seine Durchsuchung würde sich lohnen, davon war er überzeugt.

Und so verhielt es sich auch. Shaddock fand allerhand wertvolle Dinge in den Kästen, die sie zweifellos für schlechte Tage aufgehoben hatte, für Zeiten, in denen das Geschäft nicht so flott ging. Es fanden sich auch eine Anzahl Briefe darunter, mehrere davon in Geheimschrift. Diese nahm er zur Prüfung mit, denn er konnte nicht gleich entscheiden, ob sie wichtig waren oder nicht, und ob sie irgendwie die anderen Mitglieder der Bande kompromittieren würden.

Der Detektiv schrieb noch am gleichen Abend an Frau Knott, deren Anschrift er durch die Landespolizei erhalten hatte, und setzte sie davon in Kenntnis, daß ihre frühere Bekannte, Signora Mattelli, wegen Diebstahls verhaftet worden sei. Es liege schwer belastendes Material gegen sie vor. Er verhehlte ihr auch nicht, daß kein Zweifel darüber bestehe, daß diese Pseudo-Dame an dem Juwelendiebstahl in Scarborough beteiligt gewesen sei. Dafür habe man zwar im Augenblick noch nicht die Beweise. Während er den Brief siegelte, gab er sich dem frommen Wunsche hin, daß die Sache eine Lektion für Frau Knott sein und sie lehren werde, in Zukunft vorsichtiger in der Wahl ihrer Beziehungen zu sein.

Pearson hatte seine besonderen Gründe, über Shaddocks Mißerfolg enttäuscht zu sein. Es würde ihn nicht sonderlich betrübt haben, wenn die Italienerin den Fängen der Polizei entschlüpft wäre. Doch so lange Berton frei umherlief, mußte er sich ständig bedroht fühlen. Shaddock hatte er seine volle Zuversicht ausgesprochen, um ihn aufs neue zu ermutigen. Aber er war durchaus nicht sicher, ob der ehemalige Kellner nicht dem Detektiv überlegen sei – schlau und arglistig wie er war. Einstweilen hatte dieser Bandit die Polizei zweier Länder an der Nase herumgeführt. Ein wenig Glück und seine berühmte Geschicklichkeit, ebenso wie seine unerschöpflichen Hilfsmittel konnten Berton ganz gut in die Lage versetzen, den Nachstellungen auch weiterhin zu entgehen.


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